Das Standortgespräch
Mitte des zweiten Kindergartenjahres war für Maëls* Eltern Schock und Erlösung
zugleich. Statt eines Übertritts in die erste Klasse empfahl die Lehrperson
ihrem Sohn ein drittes Kindergartenjahr. «Er ist emotional noch nicht bereit für
die Schule», sagte die Kindergärtnerin. «Man merkt ihm an, dass er mit
fünfeinhalb jünger ist als alle anderen.» Die Eltern waren überrascht über das
klare Verdikt. Ihr Sohn konnte schon vor dem Kindergarten schreiben, deshalb
hatten sie ihn vorzeitig eingeschult. Gleichzeitig waren die Eltern froh über
die Empfehlung. «Unser Sohn weinte oft, als wir von der Schule sprachen», sagt
die Mutter. Erst nach dem Gespräch war ihr klar, warum.
Wenn
Zürcher Kinder am kantonalen Stichtag vierjährig sind, müssen sie gemäss Gesetz
zur Schule. Eltern können ihre Kinder aber auch schon früher in den
Kindergarten schicken, sofern sie dies als sinnvoll erachten. 2007 hat der
Kanton die Verordnung für die vorzeitige Einschulung vereinfacht, seither wird
von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht. Zuvor haben Schulbehörden solche
Gesuche nur ausnahmsweise bewilligt; rund 1 Prozent aller Kinder wurde früher
eingeschult. 2010 waren es über 6 Prozent.
Die
Einschulungseuphorie hat sich zwar seither etwas gelegt, doch noch immer werden
dreimal mehr Kinder vorzeitig zur Schule geschickt als 2001. Dies zeigt eine
eben veröffentlichte Studie, in der die Bildungsdirektion die Schulkarrieren
von 2000 Zürcher Kindern zwischen 2001 und 2015 untersucht hat.
Jedes vierte Kind
repetiert
Doch:
Viele der Früheingeschulten – meist Knaben – entpuppen sich nicht als die
Schnelldenker und Durchstarter, für die sie am Anfang gehalten wurden. So
musste gemäss Studie fast jedes vierte Kind, das im Jahr 2010 früher
eingeschult wurde, bis zum Ende der 3. Klasse eine Klasse repetieren. Von den
früh eingeschulten Repetenten besuchen im Kanton bis zu 90 Prozent ein 3.
Kindergartenjahr, wie es Maël gemacht hat. Sie sind also bereits beim Eintritt
in die 1. Klasse wieder gleich weit wie regulär Eingeschulte. Bei diesen ist
der Anteil jener, die bis zum Ende der 3. Klasse repetieren müssen, etwa
dreimal tiefer.
Ähnliche
Erkenntnisse zeigen Studien aus Deutschland, zum Beispiel die Hamburger
LAU-Studie: Früh eingeschulte Kinder bleiben häufiger sitzen und besuchen
weniger oft Gymnasien als regulär Eingeschulte.
Doch
was nützt Kindern eine vorzeitige Einschulung, wenn sie kurz darauf ein
Schuljahr wiederholen müssen? Forscher sind sich einig: Repetieren kann zwar
bei sozialen Problemen Sinn machen, die Leistungsentwicklung beeinflusst es
hingegen nicht positiv. Ganz im Gegenteil: Viele Repetenten fühlen sich wegen
des zusätzlichen Schuljahres minderwertig. Sie schliessen die Schule auch deutlich
häufiger in einem Schultyp mit geringeren Anforderungen ab als solche, die in
der Primarschule nicht sitzen geblieben sind. Auch aus Kostengründen werden
Klassenwiederholungen als ineffizient bezeichnet. Ein Schüler kostet pro
Schuljahr rund 27 500 Franken, Personal-, Betreuungs- und Schulraumkosten
inklusive.
Die
Mehrheit der Eltern befürwortet die Möglichkeit einer vorzeitigen Einschulung.
Das geht aus einer Stellungnahme der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation
hervor. Deren Präsidentin Gabriela Kohler sagt aber: «Viele Eltern befürchten,
die Heterogenität in den Klassen werde durch Früheingeschulte noch grösser.»
Deutlicher
Stadt-Land-Graben
In
der Praxis offenbart sich bei der Einschulung jedoch ein deutlicher
Stadt-Land-Graben. In Zürich wurden zwischen 2007 und 2014 über vier von 100
Kindern vorzeitig in die Schule geschickt, während es in den übrigen Bezirken
nicht einmal zwei waren. Auf dem Land werden die Kinder öfter verzögert
eingeschult – also erst mit 5 Jahren. Trifft das in Zürich eins von 100
Kindern, sind es in den Landbezirken überall mindestens doppelt so viele, im
Bezirk Affoltern sogar sechsmal so viele.
Die
Forscher führen für dieses Phänomen zwei Gründe an: Erstens sind die
Bildungserwartungen auf dem Land tiefer als in der Stadt. Zweitens werden in
Zürich Gesuche um verfrühte Einschulungen lockerer und uneinheitlicher
gehandhabt. In den Schulkreisen Schwamendingen, Limmattal oder Zürichberg
genügt ein Gesuch der Eltern. Andere Schulkreise verlangen ein ärztliches
Attest; nur im Schulkreis Letzi muss zusätzlich eine Bestätigung der Krippe
vorliegen.
Die Jüngsten bis zur
Pubertät
In
manchen Fällen zieht die Kreisschulpflege den Schulärztlichen Dienst zur
Abklärung bei. Aus der Sicht der Ärztinnen und Ärzte bringen Kinder, deren
Eltern auf eine vorzeitige Einschulung tendieren, in der Regel die
intellektuellen Voraussetzungen für den Kindergarten mit, sagt Leiterin
Andrea-Seraina Bauschatz. «Aber Intelligenz allein entscheidet nicht über den
Schulerfolg.» Damit das Kind sein Wissen auch demonstrieren könne, seien die
emotionale und soziale Reife genauso wichtig. «Das ist manchen Eltern zu wenig
bewusst», sagt Bauschatz. Inwiefern das Kind in seiner Entwicklung bereits so
weit ist, klären die Ärzte in einem Gespräch mit den Eltern. «Wir wollen
vermitteln, dass es einem Kind in der Schule wohl sein muss, damit es –
idealerweise – elf Jahre lang Freude an der Schule hat.» Oft müssten die Ärzte
den Eltern auch vor Augen führen, dass die Kinder bis in die Pubertät die
Jüngsten sein werden. Wie erfolgreich diese Abklärungen sind und wie oft Eltern
ihre Gesuche zurückziehen, kann Bauschatz nicht sagen.
In
einigen Fällen wird der frühzeitige Schuleinstieg aber auch von den
Lehrpersonen forciert. Die Eltern von Sophie* schulten ihr jüngeres Kind, das
zwei Monate nach dem damaligen Stichtag Geburtstag hatte, nicht früher ein,
obwohl die Tochter körperlich weit entwickelt war. Gleichzeitig war sie noch
sehr verspielt, ein gewisses Zeitpolster könne ihr nicht schaden, fanden die
Eltern. Doch dann empfahlen die Lehrperson und das Hortpersonal den Eltern den
Schuleintritt nach einem Kindergartenjahr. Sie sei reif genug, hiess es. Die
Eltern zögerten, gaben aber nach. «Heute bereuen wir es», sagt die Mutter. Ihre
Tochter hat vier Jahre später Mühe mit dem Schulstoff und ist oft krank.
Neben
den (vermeintlichen) Fähigkeiten der Kinder spielen beim vorzeitigen
Schuleintritt oft auch pragmatische Gründe der Eltern eine Rolle. Da sind die
Nachbarskinder, die ebenfalls eingeschult werden und mit denen sich das eigene
Kind so gut versteht. Man könnte sich das Begleiten zum Kindergarten aufteilen,
gemeinsame Mittagstische organisieren. Da ist die Hoffnung der Eltern, mit dem
Schuleintritt wieder mehr Freizeit zu haben.
Geld gibt den Ausschlag
Oft
spielt auch das Geld eine gewichtige Rolle wie im Fall von Kevin*. Seine Mutter
war alleinerziehend und musste ihre finanziellen Mittel einteilen. Deshalb
spielte sie mit dem Gedanken, ihren Sohn früher einzuschulen, um sich die hohen
Betreuungskosten in der Kinderkrippe zu sparen. «Ich traute mich damals nicht,
das laut zu sagen, aber es war für mich mit ein Grund, mit dem Gedanken zu
spielen.» Ein Krippentag kostet in der Stadt Zürich für Vollzahler 120 Franken,
Hortbetreuung über Mittag und am Nachmittag 73 Franken.
Befreundete
Lehrpersonen rieten Kevins Mutter von einer vorzeitigen Einschulung ab. Heute
ist sie froh darüber, dass sie ihnen geglaubt hat. Ihr Sohn gehört seit sieben
Jahren zu den Ältesten der Klasse und bringt gute Leistungen. Sie sagt: «Damals
hätte ich viel Geld sparen können, aber mit diesem Entscheid blieb mir viel
anderes erspart.»
*
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