Für Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten
ist eine Taktgebung von aussen sehr wichtig, sagen zwei Fachärzte.
Die Stützung des Selbstwertgefühls ist zentral, Bild: iStock
"Es herrscht eine Unorganisiertheit im Tun", Basler Zeitung, 13.4. von Denise Dollinger
BaZ: Herr Weber, es gibt zwei Typen von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen.
Welche sind das?
Peter Weber: Wir unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen,
die motorisch hyperaktiv sind, sogenannte Zappelphilippe, und jenen ohne
Hyperaktivität, die mehr einem «Hans Guck in die Luft» entsprechen. Erstere
werden, etwa im Schulunterricht, als «Störenfriede» und als anstrengend
wahrgenommen. Zweitere fallen in der Regel erst nach einer gewissen Zeit auf,
da sie nicht zur Last fallen und im Alltag, durch ihre Verträumtheit, eher
untergehen.
Was sind die
Gemeinsamkeiten?
Bei beiden ist es so, dass eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit und
eine grosse Ablenkbarkeit vorherrscht. Im Tun dieser Kinder und Jugendlichen
herrscht eine Unorganisiertheit.
Können Sie dazu ein
Beispiel geben?
Bei diesen Kindern und Jugendlichen ist eine «Taktgebung» von
aussen immens wichtig. Durch ihre Ablenkbarkeit können sogar routinierte
Aufgaben, wie etwa das Pyjama anziehen, zu einer grossen Sache werden. Liegt
dann beispielsweise ein Spielzeug in der Nähe, fangen sie an, sich mit diesem
zu beschäftigen, und vergessen total, was der eigentliche Auftrag war. Sie
verlieren sich im Spiel.
Und im Schulunterricht?
Dort fallen diese Kinder auf, weil sie viele Flüchtigkeitsfehler
machen, ihr Handeln nicht kontrollieren und die Signale des Lehrers nicht
wahrnehmen. Ein «Stopp!» beispielsweise überhören sie meist. Oder aber sie sitzen
tagträumend am Tisch und nehmen ihre Umwelt und ihr Umfeld überhaupt nicht
wahr. Hinzu kommt bei beiden Formen eine sehr ausgeprägte Vergesslichkeit.
Herr Möller, was ist der
Unterschied zwischen einer «normalen» Konzentrationsschwäche und einer krankhaften?
Ramon Möller: Ei- ne «normale»
Konzentrationsschwäche zeichnet sich dadurch aus, dass sie isoliert –
ohne weitere Beschwerden – und mitunter vorübergehend, krisenhaft oder
situativ auftritt. Es gilt dann sowohl die körperlichen als auch die psychischen
Hintergründe auszuleuchten. Krankhaft ist die Vergesellschaftung mit weiteren
Beschwerden, wie der Impulsivität, Hyperaktivität, der verminderten
Frustrationstoleranz, und der beeinträchtigten Impuls- und Affektkontrolle. Als
krankhaft ist die Konzentrationsschwäche auch dann zu beurteilen, wenn sie sich
über mehr als sechs Monate chronifiziert und zu Sekundärschäden führt.
Ist das der Zeitpunkt, an
dem eine Fachperson hinzugezogen wird?
P. W.: Ja. In der Mehrheit der Fälle sprechen die Lehrpersonen die Eltern
drauf an, weil sie bemerken, dass das Kind die Entwicklungsaufgabe nicht mehr
erfüllen kann. Interessanterweise passiert dies oftmals in der Zeit des
Übergangs von der zweiten in die dritte Primarklasse. Die zuvor schon
angedeuteten Schwächen können mit den höheren Anforderungen ausgeprägter und
somit relevant werden.
Welche Abklärungen werden
beim Kinderarzt dann gemacht?
R. M.: Es braucht eine gründliche Erfassung der Vorgeschichte und des
Verlaufs und zudem eine sorgfältige Untersuchung der körperlichen und
psychischen Befindlichkeit und Funktionen. Ein wichtiger Indikator ist der
subjektive Leidensdruck des Betroffenen, der Familie und der weiteren
beteiligten begleitenden Personen. Eine Abklärung drängt sich dann auf, wenn
die beeinträchtige Entwicklung zu sekundärem Leiden, wie beispielsweise zu
einer Beeinträchtigung des Selbstwerterlebens oder zu einer Depressivität
führt.
Wie kann man ein Kind mit
einer Aufmerksamkeitsstörung unterstützen?
R. M.: Auf vielfältige Weise: Zunächst ist die Stützung des Selbstwertgefühls
zentral, um eine Abwärtsspirale der weiteren Entwicklung zu verhindern.
Abklärung und Behandlung erfolgen von Vorteil ressourcenorientiert. Denn auf
der Basis der vorhandenen Stärken lassen sich viele Probleme bewältigen und
Umgehungsstrategien entwickeln. Auf der pädagogischen Ebene ist es für die
Betroffenen sehr hilfreich, wenn der Tagesablauf geregelt und berechenbar ist,
wenn ein Regelwerk im Elternhaus und in der Schule besteht, an dem sich das
Kind orientieren und auf das es sich verlassen kann.
Was, wenn all diese
Massnahmen nicht zu der erhofften Beruhigung führen?
P. W.: Bewirken diese Anpassungen keine Veränderung oder ist der
zeitliche Druck sehr gross, dann kommt neben einer verhaltenstherapeutischen
Intervention eine medikamentöse Behandlung infrage.
Wie schnell sieht man, ob
ein Medikament anschlägt?
P. W.: Das Medikament wird über vier Wochen schrittweise bis zur
Zieldosis erhöht. Danach sollte ein klarer Effekt erkennbar sein und eine
Beruhigung in die Situation einkehren. Es gibt einzelne Fälle, bei denen man
einen Substanzenwechsel oder eine Dosisanpassung vornehmen muss, weil die
Wirkung entweder ausbleibt oder zu schwach ist.
Gibt es eine Alternative
zu der medikamentösen Behandlung?
P. W.: Ja, die gibt es. Die Symptomreduktion durch eine Verhaltenstherapie.
Eine Studie aus Amerika hat belegt, dass es rund 24 bis 36 Monate dauert, bis
diese Form vollends greift und die Veränderung verinnerlicht ist. Im Vergleich
zu der medikamentösen Therapie, ist die Verhaltenstherapie nachhaltiger, aber
auch viel aufwendiger.
Kann sich eine
Aufmerksamkeits-störung auswachsen?
P. W.: Man schätzt heute, aufgrund langer Verlaufsstudien, dass sich eine
Aufmerksamkeitsstörung bei einem Drittel der Betroffenen auswächst. Ein
weiteres Drittel behält die Konzentrationsschwäche auf der Symptomebene,
weist aber keinen Krankheitswert auf. Beim letzten Drittel hat die
Konzentrationsschwäche Sozialisationskonsequenzen. Dies unabhängig davon, ob
medikamentös behandelt worden ist oder nicht.
Was bedeutet das?
P. W.: «Sozialisationskonsequenzen» bedeutet, dass diese Kinder und Ju-
gendlichen beispielsweise Mühe ha- ben, ihren Schulabschluss zu machen. Auch
der Abschluss der Berufsausbildung fällt ihnen meist schwerer als anderen
Gleichaltrigen. Im Erwachsenenalter kann es sein, dass der betroffene Mensch
immer wieder in ähnliche Situationen hineinschlittert und Schwierigkeiten hat,
sich in einem «Standardumfeld» einzuordnen.
Haben sie Tipps für
Erziehungberechtigte, wie sie mit einem Kind, das an einer Aufmerksamkeitsstörung
leidet, umgehen sollen?
R. M.: Wie erwähnt, scheint mir die Stützung des Selbstwerterlebens
zentral. Eine weitere wichtige Aufgabe, die den Eltern zufällt, ist die
übersichtliche, klare und verlässliche Organisation der Tagesstruktur.
Unerlässlich ist auch das Grenzensetzen und das Einfordern der Konsequenzen bei
Regelverstössen. Auch wenn das an Aufmerksamkeitsstörungen betroffene Kind
nicht per se für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden kann, fühlt es
sich in einer geordneten Umgebung wohl, geborgen und ernst genommen.
Das heisst, sogenannte
Leitplanken unterstützen das betroffene Kind auf positive Weise?
R. M.: Ja. Das Kind wird den Eltern dankbar sein, wenn sie ihm bei der
Selbstorganisation helfen und es dadurch seine Ressourcen für seine Entwicklung
und die Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen einsetzen kann. Dazu
gehören auch Abmachungen bezüglich des Konsums elektronischer Medien.
Wie wichtig ist das
Zusammenspiel zwischen den Eltern und der Schule?
R. M.: Für die betroffenen Kinder ist es vorteilhaft, wenn die Eltern
einen engen Kontakt mit den Lehrkräften pflegen und ein regelmässiger, guter
Austausch besteht.
Was gibt es in Bezug auf
die Freizeitaktivitäten zu beachten?
R. M.: Die Beziehung zum Kind wird entscheidend dadurch gestärkt, dass
ein Teil der Freizeit aktiv mit ihm zusammen gestaltet und positiv besetzt
wird. Dies besonders mit viel Bewegung an der frischen Luft. Und ganz wichtig:
Eltern müssen nicht perfekt sein und brauchen auch etwas Zeit für sich.
Peter Weber ist Facharzt für Kinder- und
Jugendmedizin und Leiter der Abteilung Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie
am Universitäts-Kinderspital beider Basel.
Ramon Möller ist Facharzt für Kinder- und
Jugendmedizin mit einer eigenen Praxis in Pratteln.
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