Im Kanton Zürich haben viele ehemalige Sekundarschüler
Probleme, in der Mittelschule mitzukommen. Bildungspolitiker fordern neue
Modelle.
Kinder im Langzeitgymi lernen von Anfang an, selbständig zu arbeiten, Sekschüler könnten das oft weniger, Bild: Gaetan Bally
Kurz-Gymnasium: Jeder Fünfte fliegt in der Probezeit raus, Tages Anzeiger, 23.4. von Marisa Eggli
Sie lernen, kämpfen,
beissen sich durch: Für durchschnittliche Schüler und Schülerinnen ist das
Gymnasium hart. In der halbjährigen Probezeit müssen sie beweisen, dass sie der
anspruchsvollen Schule gewachsen sind. Sonst fallen sie durch, müssen zurück in
die Sekundarschule oder schnell noch eine Lehrstelle suchen.
Die Zahl der gescheiterten Jugendlichen steigt. Das gilt
insbesondere für die Kurzzeitgymnasien, in welche die Schüler nach zwei oder
drei Jahren Sekundarschule eintreten. Inzwischen verlässt im Kanton Zürich
jeder fünfte Schüler das Kurzgymi während oder am Schluss der Probezeit. Die
Quote lag 2015 bei 22,2 Prozent, was 339 Schülerinnen und Schülern entspricht.
Diese Entwicklung geht aus neuen Zahlen hervor, die die kantonale
Bildungsdirektion für den TA aufbereitet hat.
Mittelschullehrer Silvio Stucki kennt die Situation. Er spricht
von Jahren, in denen sechs bis sieben Schüler und Schülerinnen einer Klasse das
Gymnasium nach der Probezeit verlassen mussten. «Die Klassen schrumpfen während
der Probezeit deutlich», sagt er. Stucki unterrichtet am Zürcher Kurzgymnasium
Enge. In seinen Klassen treffen Jugendliche aufeinander, die bereits zwei Jahre
lang die Kantonsschule besucht haben, und solche, die aus der Sekundarschule kommen.
Die Quote von 20 Prozent sei «hoch», eine Erklärung dafür «schwierig».
Er beobachtet, dass einige Sekundarschüler Mühe haben, sich ans
Gymnasium zu gewöhnen. An den Kantonsschulen ist selbstständiges Lernen
gefragt, die Klassen sind grösser, die Betreuung durch die verschiedenen Lehrer
ist weniger intensiv. Jugendliche, die bereits nach der Primarschule an die
Kantonsschule gekommen seien, hätten sich eher an diesen «Groove» gewöhnt. Für
Sekundarschüler sei das in den ersten Wochen schwierig.
Ein Problem sieht Stucki auch im Schulstoff. Kantonsschülerinnen
und Sekundarschüler seien unterschiedlich weit. In seinem Fach Biologie zum
Beispiel hätten einige Grundlagen wie die Zellteilung bereits behandelt, andere
wenig davon gehört.
Jugendliche ans Gymi gepusht
Sekundarlehrer Kaspar Vogel spricht vom selben Problem und einer
«Kluft», die sich öffnet zwischen Sekundar- und Kantonsschulen. Als Präsident
des Lehrerverbands Sek ZH beobachtet er diese Entwicklung seit einigen Jahren.
Inzwischen versuchen die Schulen, aufeinander zuzugehen und die Fächer
anzugleichen. Es seien viele Gespräche im Gang, sagt Vogel. Aber es bestünden
unter den Lehrpersonen auch Uneinigkeiten. Im Französisch zum Beispiel
trainieren Sekundarlehrer mit ihren Schülern eher das Sprachverständnis, die
Kantonsschullehrer die Grammatik.
Für Vogel steckt hinter der hohen Zahl von gescheiterten
Schülern an erster Stelle ein anderes Problem. Seit einigen Jahren zählen die
Vorleistungen von Sekundarschülern nicht mehr für die Aufnahme ans Gymnasium.
Da die Aufnahmeprüfung allein matchentscheidend sei, würden sich viele mit
intensiven Nachhilfestunden darauf vorbereitet – und so regelrecht ans
Gymnasium gepusht. Später können sie die Leistung jedoch nicht halten. Vogel
sagt: «Manchmal staune ich wirklich, welche Kinder an die Kantonsschule
kommen.» Er fordert, dass künftig wieder die Vorleistungen zählen.
Aargau kennt Problem
kaum
Den beiden Lehrern Stucki und Vogel bereitet die Entwicklung
Sorge. Denn die Jugendlichen, die im Gymnasium scheitern, brauchen meist
ziemlich viel Zeit, bis sie die Situation überwunden haben. Sie leiden daran,
dass sie ihre Ziele nicht erreichen konnten. Lilo Lätzsch, Lehrerin und
Geschäftsleiterin des Zürcher Lehrerverbands, sagt: «Jede Art von Scheitern ist
bitter.» Dass so viele während der Probezeit ausscheiden, sei sehr ungünstig:
«An den Jugendlichen geht das nicht spurlos vorbei.»
SP-Kantonsrat und Mittelschullehrer Moritz Spillmann erstaunen
die jüngsten Zahlen. Dass im Schnitt jeder fünfte das Gymi in der Probezeit
verlässt, hält er für «eine sehr hohe Zahl». Vor allem, weil er im Aargau als
Lehrer arbeitet. Dort würden viel weniger Schülerinnen und Schüler in der
Probezeit scheitern. «Wers im Aargau ans Gymi geschafft hat, bleibt meist
dort», sagt Spillmann. Für ihn bedeutet die Zürcher Quote, dass die
Aufnahmeprüfung bei jedem fünften Kind ein falsches Ergebnis hervorgebracht
hat. «Das müsste man vermeiden können.»
Diesem Vorwurf widerspricht das kantonale Mittelschulamt, das
für die Aufnahmeprüfung zuständig ist. Amtschef Marc Kummer gibt die Schuld an
die Eltern und Jugendlichen weiter: «Oft werden auch Vorbereitungskurse belegt,
um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen.» In der Probezeit zeige sich dann, dass
das Gymnasium trotz bestandener Prüfung für gewisse Schüler nicht der richtige
Ausbildungsweg sei.
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