Christoph
Schmitt aus Baar lässt kein gutes Haar an unserem Bildungssystem. Er kritisiert
unsere «Bulimie-Pädagogik» und dass die Schule in der «Kreidezeit» feststecke.
Der Bildungsexperte fordert weniger Unterricht und einen Stopp der
Wissenslogistik. Und erklärt, wieso er trotzdem optimistisch ist.
Hält nichts von Auswendiglernen: Chrstoph Schmitt, Bild: zentralplus
"Wenn man die Kinder nur lässt", Zentralplus, 21.4.
Christoph
Schmitt: Bildung ist für mich ein sehr emotionales Thema, weil es um die
menschliche Entwicklung geht. Für mich ist der Zusammenhang von Emotionen und
Bildern sehr wichtig. Ich funktioniere über Bilder, weil Kommunikation über
Bilder viel lebendiger ist. Von daher ist Provokation eher sekundär, es geht
mir einfach darum, etwas auf den Punkt zu bringen.
zentralplus: Aber
Sie lösen damit etwas aus?
Schmitt: Es
ist tatsächlich so. Ein Gastbeitrag in der «Neuen Luzerner Zeitung» (im
Juni 2015, Anm. d. Red.) hat zum Teil brutale Reaktionen ausgelöst.
Obwohl mein Buch «Bildung auf Augenhöhe» harmlos ist im Vergleich zu dem, was
im deutschen Buchmarkt sonst noch unterwegs ist von Professoren und
langjährigen Experten im Bildungsbereich. Die sind noch viel radikaler mit
ihren Forderungen.
zentralplus: Sie
kritisieren das Auswendiglernen. Was ist so schlimm daran? Das mussten wir doch
früher alle tun.
Schmitt: Die
Frage ist, welchen Sinn und Nutzen es für mich hat. Was habe ich davon, wenn
ich etwas auswendig lerne? Ausser du bist Bruno Ganz, dann ist das wichtig.
Aber kein Schauspieler würde sagen: Das Geilste an meinem Job ist das
Auswendiglernen.
Es kann
mir keiner so richtig erklären, welchen positiven Effekt es in der
Bildungskarriere eines Menschen hat. Im Gegenteil: Die Neurobiologie hat
eindeutig bewiesen, dass es keinerlei positiven
Effekte auf die Hirnentwicklung hat. Genauso wenig wie Spinat besonders gesund
ist.
zentralplus: Aber
unsere Bildung fokussiert immer noch aufs Auswendiglernen?
Schmitt: Nicht
in jedem Alter und in jedem Fall. Aber in der Sekundarstufe, der Berufsbildung,
im Gymnasium und an der Uni ist es weit verbreitet. In der Schule geht es noch
immer um Selektion und Kontrolle. Alles hängt an den Noten, die für das
weiterführende Leben aber nutzlos sind. Und in der Weiterbildung geht es vor
allem um Zertifikate, die beruflichen Aufstieg versprechen, was in Zukunft aber
nicht mehr stimmt.
zentralplus: Zumindest
in der Primarschule ist man davon weggekommen. Viele alternative Lernmodelle
haben Einzug gehalten, weg vom Frontalunterricht, hin zum selbstverantworteten
Lernen. Das ist doch etwas?
Schmitt: Das
gibt es, ja. Das Problem ist aber immer noch, dass wir Wissenslogistik
betreiben – auch wenn es natürlich humanisierte Formen gibt. So wie man Milch,
Käse und Mineralwasser durch die Gegend fährt, fahren wir in der Bildung Wissen
herum. Das ist jetzt wieder so ein Bild. Ein Paradigmenwechsel wäre erst dann
erreicht, wenn das Schulsystem mit der Wissenslogistik aufhört. Das wird doch
heute durch Technologie abgedeckt. Wir sind im 21. Jahrhundert und dürfen unser
Gehirn für anderes nutzen.
zentralplus: Wie
soll das gehen, wenn schon ein Lehrplan 21 zeigt, dass eine Vereinheitlichung
in der Schweiz ein Ding der Unmöglichkeit ist? Es bräuchte ein komplett neues
Bildungssystem.
Schmitt: Ja,
das wäre tatsächlich ein neues Bildungssystem und da scheiden sich die Geister
enorm. Man weiss nicht genau, wo die Ursachen liegen, warum es nicht
vorwärtsgeht. Ist das ein politisches Problem oder ein finanzielles? Ich weiss
es nicht. Das ist eine sehr komplexe Fragestellung, wieso das mit dem
Bildungssystem so zäh und träge läuft. Womöglich hat dieser Totstellreflex mit
Angst zu tun.
zentralplus: Gibt
es denn Vorbilder, die es besser machen?
Schmitt: Zum
Glück! Durch die Digitalisierung der Kommunikation treffen sich heute Menschen,
die es anders machen wollen, viel schneller. Du findest immer mehr Angebote im
Internet, wo du dich Freilernern und Selbstlernern und dem sogenannten
«Deschooling» anschliessen kannst. Es gibt mittlerweile tolle Angebote, wenn
ich meine Kinder aus der klassischen Schule rausnehmen will und alternative
Bildungswege suche. In der Schweiz leider noch nicht, in Deutschland wachsen
sie ganz langsam.
zentralplus: Sie
wollen das heutige Unterrichtsmodell, bei dem ein Lehrer vor die Klasse steht,
abschaffen?
Schmitt: Jawohl,
das ist das Erste, was in den nächsten fünf bis zehn Jahren wegfallen wird. Das
klassische Unterrichtsmodell gibt’s in zehn Jahren nicht mehr. Alle ernst zu
nehmenden Berichte oder Dokumentationen – von der formalen Bildung bis in die
Weiterbildung – weisen in diese Richtung, alle. Sämtliche Tätigkeiten, durch
die sich der Lehrerberuf heute noch definiert – die sogenannten «Lower Skills»
der Wissensvermittlung –, werden ja schon heute von Maschinen übernommen. Und
die «Higher Skills», vor denen die Lehrer heute noch Angst haben – das
Begleiten, Tutoring und Coaching –, werden im Fokus des Lehrerberufs stehen.
zentralplus: Maschinen
nehmen den Lehrpersonen die mühsame Arbeit weg und man kann sich auf das
Wesentliche konzentrieren?
Schmitt: Ja,
positiv ausgedrückt. Für andere ist es das Mühsame. Dabei ist es doch das, was
mir am Bildungsberuf so Spass macht. Ich will die Leute in der
Kompetenzentwicklung und in der Selbstwirksamkeit begleiten. Aber ich verstehe
es, wenn Lehrpersonen völlig überfordert sind mit diesen Ansprüchen, sie kennen
nur das Traditionelle. Es ist empirisch erwiesen: Sobald Lehrpersonen in
Konfliktsituationen kommen, fallen sie zurück in archaische Verhaltensmuster,
die sie selber als Schüler erlebt haben.
zentralplus: Wer
ist gefordert: Politik, Hochschulen, Schulleiter oder die Lehrer selbst?
Schmitt: Der
nächste Schritt müsste sein, unterschiedliche Akteure an einen Tisch zu
bringen. Hochschulen, Bildungsdepartemente, Schulen, aber auch Leute aus der
Wirtschaft. Was braucht es eigentlich, um die Gesellschaft der Zukunft
gestalten zu können? Was braucht es in der Wirtschaft in Zukunft für
Arbeitskräfte? Wie wird sich Arbeit entwickeln? Das gelingt uns nur über einen
langfristig angelegten Dialog aller Akteure.
zentralplus: Kommt
dann nicht der Vorwurf, dass sich Bildung dem Diktat der Wirtschaft beugt?
Schmitt: Ich
denke, das ist kein gutes Argument. Das sind Horrorszenarien, die in der
Bildungswelt entstehen, wenn man irrationale Ängste hat vor der bösen
Wirtschaftswelt. Denn die wichtigen Kompetenzen werden ja in der Wirtschaft
gebraucht: soziale Kompetenzen, im Team arbeiten können, vernetzt arbeiten
können, gesellschaftliche Verantwortung. Jeder ernst zu nehmende Betrieb
fördert das heute, weil er sonst keine Arbeitnehmer findet. Es ist
Schwarz-Weiss-Malerei, wenn man sagt, die Wirtschaft reduziere die Menschen auf
ökonomisch bedingte Kompetenzen und so Zeugs, das stimmt einfach nicht.
zentralplus: Nach
Ihrer Einschätzung: Ist dieses Denken schon in der Lehrerausbildung angekommen?
Schmitt: Tatsache
ist, dass eine PH wie die in Luzern in einem Teufelskreis steckt. Sie muss nach
wie vor Lehrpersonen ausbilden, die im jetzigen Schulsystem kompatibel sind.
Und umgekehrt: Solange sich in der Lehrerausbildung nur wenig ändert, kann sich
auch im Schulsystem nichts ändern. Darum brauchen wir einen starken Dialog, und
den sehe ich im Moment nicht.
zentralplus: Die
Automatisierung und Digitalisierung betrifft ja nicht nur die Bildung, sondern
die ganze Berufswelt: Wir wissen noch nicht, welche Berufe in 50 Jahren gefragt
sind.
Schmitt: Oder
in zehn. In der beruflichen Weiterbildung haben wir ein grosses Problem. Die
sind, das weiss ich aus eigener Erfahrung, sehr weit weg von alternativen
Bildungsmodellen, die funktionieren noch ganz klassisch im Sinne von
Wissenslogistik und über Präsenz-Lernsysteme: Freitag und Samstag gehst du in
irgendeinen Seminarraum und «lernst», bis du den Fötzel bekommst. Und das
allermeiste, was wir heute in den Weiterbildungen machen, ist für Berufe, die
es in zehn Jahren nicht mehr gibt.
zentralplus: Was
Sie beschreiben, würde ja auch bedeuten, dass man die Schule mit ihren
Strukturen aufgibt. Aber regelmässige Strukturen sind doch gerade in der
Primarschule wichtig.
Schmitt: Ich
habe mich in letzter Zeit mit Biografien von Menschen beschäftigt, die nie in
der Schule waren. Und sie sagen, es seien Gerüchte, dass die Schule
entscheidend sei für die soziale Entfaltung. Die Schule braucht diese
Argumente, um sich selbst zu rechtfertigen. Die strenge Strukturierung und
die Wissenslogistik schon in der Primarschule verhindern, dass sich Menschen
menschengerecht entwickeln. Weil ja das Ziel von Schule eben nicht
Individualisierung, sondern Anpassung und Unterordnung ist. Das ist das
ursprüngliche Ziel von Schule aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Das macht sie
immer noch, und das macht sie sehr, sehr gut. Doch wir brauchen Leute, die
selber denken.
zentralplus: Aber
von den jetzigen Lehrpersonen kann man kaum erwarten, dass sie in Sachen
Digitalisierung das notwendige Niveau erreichen. Kommt das nicht automatisch?
Schmitt: Es
es gibt ja immer mehr Lehrer, die das Digitale im Unterricht einsetzen. Das
Problem ist aber, dass viele die «Bulimiepädagogik» einfach digitalisiert
weiterführen. Es ist das selbstgesteuerte Lernen, mit dem Lehrer eher Probleme
haben. Sie kommen nicht aus ihrer angestammten Aufpasser- und
Wissensvermittlerrolle heraus. Dabei ist doch der Mensch, der vor ihnen sitzt,
verantwortlich für sein Lernen – und nicht der Lehrer.
zentralplus: Wie
sieht aus Ihrer Sicht ein zeitgemässes Bildungsformat aus?
Schmitt: Es
gibt minimale Präsenzzeiten und es läuft ganz viel in digital vernetzten
Lernräumen. Man eignet sich Wissen kollaborativ an, mithilfe von sozialen
Medien, stark vernetzt mit dem, was man im Beruf macht. Es gibt nicht mehr
entweder Schaffen oder Lernen, die neuen Bildungsformate sind eine Mischung aus
betrieblicher Weiterbildung und Weiterbildung beim Anbieter. Viel erfolgreiche
Weiterbildung läuft am Arbeitsplatz. Du lernst viel effizienter, wenn es
gleichzeitig auch ein Teil deiner Arbeit ist.
zentralplus: Was
sind die Herausforderungen für den Bildungsstandort Luzern?
Schmitt: Transparenz
finde ich ganz wichtig. Die Leute müssen wissen, was läuft. Eigentlich geht es
gar nicht mehr, sich in sein immobiles Lernen einzuschliessen. Je digitaler die
Welt, desto offener die Kommunikation. Wenn man heute innovativ in der Bildung
unterwegs ist, muss man das kommunizieren, und zwar auf eine hochprofessionelle
Weise. Diese Marktkommunikation muss man professionalisieren, das finde ich
entscheidend. Und Schulen müssen in den digitalen Netzwerken aktiv sein, nicht
einfach präsent. Das ist schlicht und einfach die Art, wie man heute existiert.
Wenn du digital nicht wahrgenommen und gefunden wirst, dann existierst du
nicht.
zentralplus: Ist
es nicht gefährlich, die Primarschule zu früh mit der digitalen Welt zu
konfrontieren?
Schmitt: (Überlegt) Das
heisst, man lässt die Storen runter, damit die Sonne nicht reinscheint? Sie
scheint zwar, aber die Kinder sollen sie nicht sehen. Das ist so, als ob man
die Wirklichkeit ausschaltet, wir schalten die digitale Wirklichkeit einfach
ab, weil wir irgendwie davon überzeugt sind, dass das den Kindern schadet, auch
wenn die Neurobiologie was anderes sagt. Ob ich aber damit dem Kind nutze oder
nur meiner eigenen Ideologie?
zentralplus: Es
scheint, Sie haben ein extremes Vertrauen in Kinder und Jugendliche.
Schmitt: Ja,
sicher, Kinder sowieso, in wen denn sonst? Ich hab das an der Kanti Alpenquai
erlebt, was in denen drinsteckt an Kompetenzen, die sie gnadenlos entfalten,
inklusive allem Sozialen, wenn man sie nur lässt! Wenn man sie lässt!
Christoph
Schmitt (1964) wuchs in der Bodenseeregion auf, hat Pädagogik, Philosophie,
Psychologie, Soziologie und Theologie studiert und in Ethik promoviert. Er war
einst Sprecher des «Wort zum Sonntag» und war 20 Jahre lang in
Schule und Hochschule tätig. Er hat an der Kantonsschule Alpenquai
Religionskunde und Ethik unterrichtet, war Dozent an der Universität Luzern
sowie Rektor des Gymnasiums Immensee (SZ). Heute ist er selbstständig in
Coaching und Supervision in Baar, ist Autor («Bildung auf Augenhöhe») und arbeitet
freiberuflich als Dozent.
Ein Experte mehr ...
AntwortenLöschen"Wenn man Kinder nur lässt" ist ein Relikt aus der gescheiterten "Antiautoritären Erziehung" des letzten Jahrhunderts. Der Lehrplan 21 greift diese Reformmethode wieder auf und ist damit alles andere als zeitgemäss. Gemäss John Hattie und anderen modernen Bildungsforschern braucht es einen strukturierten und lehrerzentrierten Unterricht. Unterricht und Lehrer sollen mit dem Lehrplan 21 aber faktisch abgeschafft werden. So sehen die „Grundlagen für den Lehrplan 21“ der D-EDK vor, dass die Kinder schon ab Schulstart „selbstorganisiert oder selbstgesteuert lernen“ und die Lehrer sich darauf beschränken sollen, lediglich als „Lernbegleiter“ zur Verfügung zu stehen. Damit droht der qualifizierte Lehrerberuf auszusterben und die Bildungsqualität massiv zu sinken.
AntwortenLöschenSchweizer Kinderärzte warnen in ihrer Verbandszeitung 01/2016 vor den möglichen Folgen: «Unsere Skepsis gegenüber dem selbstorganisierten Lernen in den ersten Schuljahren beruht auf der neurophysiologischen Tatsache, dass die dafür erforderlichen exekutiven Funktionen spät reifen und erst mit 20 Jahren voll ausgebildet sind. Selbstorganisiertes Lernen im eigentlichen Sinn ist deshalb erst im höheren Schulalter und in der Erwachsenenbildung möglich.»