Der auf
zu viele Wünsche ausgerichtete Bildungsauftrag der Volksschule ist einer
gründlichen Prüfung zu unterziehen. Dabei gilt es, das pädagogische Potenzial
eines vielseitigen Realienunterrichts zu erkennen und zu nutzen. Das
geht nicht ohne Abstriche in anderen Fächern.
Ein Stück Welt im Schulzimmer, NZZ, 18.8. Gastkommentar von Hanspeter Amstutz
Informationsmaterial in Hülle und Fülle steht heute
allen zur Verfügung. Ein Klick im Internet - und schon erhält man neuestes
Zahlenmaterial über eine Weltstadt oder prächtige Bilder über den grössten
Luxusliner der Welt. Hunderte von Fernsehsendern stehen uns zur Auswahl, die
über das aktuelle Geschehen informieren und unsere Erde so zu einem globalen
Dorf machen. Die tägliche Informationsflut ist gewaltig, und viele fragen sich
inzwischen, wieweit wir damit vernünftig umgehen können. Die Forderung, die
Schule müsse die Kinder zu einem effizienten Umgang mit den neuen Medien
anleiten, ist daher verständlich.
Solide Allgemeinbildung
Bei diesem grossen Angebot an Informationen scheint
die Schule bezüglich der Wissensvermittlung längst ins Hintertreffen geraten zu
sein. Dank dem Internet kennen sich Jugendliche heute in Bereichen aus, die
früher zum verheissungsvollen Neuland des Schulstoffs zählten. Zweifellos hat
die Volksschule das Monopol der Erstinformation verloren. Es wäre aber ein
verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, die Schule könne deshalb die elementare
Allgemeinbildung reduzieren und ihr Bildungsprogramm primär auf anwendungsorientierte
Bereiche konzentrieren. Kompetenzziele schon früh auf die Berufswelt hin
auszurichten, würde einer armseligen Vorstellung von Bildung Vorschub leisten.
Der Umgang mit dem Internet und andern elektronischen Medien setzt ein solides
Allgemeinwissen voraus, damit die Orientierung in der Datenflut einigermassen
gelingt. Ohne ein hilfreiches Weltbild, das auf exemplarischer Elementarbildung
und den Kenntnissen wichtiger Zusammenhänge beruht, kann das
Informationsangebot der modernen Medien kaum sinnvoll verwendet werden.
Eine zentrale Bedeutung für die Orientierung in den
elektronischen Medien kommt dem Realienunterricht zu. Der Unterricht in
Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften schafft wichtige Voraussetzungen
für das Verstehen wesentlicher Zusammenhänge. Die Vermittlung von Basiswissen
ist grundlegend für ein starkes Interesse der kommenden Generation an
wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen.
Wer in spannenden Geschichtsstunden mit den
prägenden Themen des 19. und 20. Jahrhunderts konfrontiert wurde, kann die
heutige Politik besser verstehen. Narrativer, sorgfältig vorbereiteter
Geschichtsunterricht wird an unseren Schulen aber leider je länger, je mehr
durch die an den pädagogischen Hochschulen entwickelte Methode des entdeckenden
Lernens aufgrund von Quellentexten verdrängt. Die Quittung dafür sind
gelangweilte Jugendliche in den Geschichtsstunden. In einem erzählerisch
gestalteten Geschichtsunterricht dagegen erweitern die Schüler über aktives
Zuhören zudem ihren Wortschatz, indem sie ganz in die deutsche Sprache
eintauchen.
Die Konfrontation mit dem realen Leben eröffnet
neue Zugänge zu den Jugendlichen, sofern die didaktischen Möglichkeiten voll
ausgeschöpft werden. Dies gilt auch für die oft stiefmütterlich behandelten
Naturwissenschaften. Wie funktioniert ein Elektromotor? Um dem Geheimnis auf
die Spur zu kommen, wickeln Schüler eigenhändig Magnetspulen und bauen
Elektromotoren. Dabei werden Zusammenhänge erkannt, die beim schnellen Surfen
im Internet kaum gefunden würden. Die Verbindung von erlebter Anschaulichkeit
mit präziser theoretischer Vertiefung schafft Bildung, die mehr als nur die
Oberfläche berührt.
Es ist bedenklich, dass der Realienunterricht im
Schatten der Diskussion um das frühe Sprachenlernen vielerorts an Qualität
eingebüsst hat. Aus Zeitnot werden die beliebten Realienfächer in der
Primarschule zum Teil benützt, um Englisch- und Französischwörter zu lernen.
Ohne dieses unstatthafte Ausweichen gelingt es vielen Lehrpersonen kaum, in dem
auf je zwei Wochenlektionen verteilten Fremdsprachenunterricht das ambitiöse
Pflichtprogramm zu erfüllen. Dabei wird der Lerndruck durch die Vorstellung
verstärkt, dass begabte Kinder vor allem in den Fremdsprachen frühzeitig
gefördert werden müssten.
Von den hervorragenden Möglichkeiten der Förderung
von Talenten in den Realienfächern spricht kaum jemand. Bei interessanten
Projektarbeiten aber kommen die Begabtesten voll auf ihre Rechnung, ohne dass
sich dabei Schwächere benachteiligt fühlen. Der vielseitige Realienunterricht
kann die Heterogenität der Klassen weit besser auffangen als ein streng
programmierter Fremdsprachenunterricht. Es ist Aufgabe der Fachdidaktik in der
Lehrerbildung, die Chancen eines modernen Realienunterrichts aufzuzeigen und
die Studierenden auf die anspruchsvolle Praxis vorzubereiten. Mit dem neuen
Lehrplan soll nun alles besser werden.
Graben zwischen Theorie und Praxis
Doch es reicht nicht aus, das Bildungsprogramm im
Bereich von Natur und Technik zu erweitern, ohne aufzuzeigen, wo dies durch Abstriche
in andern Fächern kompensiert werden könnte. Da insgesamt nicht mehr Lektionen
zur Verfügung stehen, geht die Rechnung nur auf, wenn in viel kürzerer Zeit
mehr Kompetenzziele erarbeitet werden. Der Preis dafür aber ist zu hoch. Wenn
elementare Lernprozesse hastig ablaufen, leidet die Qualität des Unterrichts
ganz empfindlich. Zwischen den Vertretern von Bildungstheorien und den
Lehrpersonen besteht ein Graben, weil die Umsetzung allzu vieler Reformen an
den praktischen Rahmenbedingungen und den belastenden Nebenwirkungen
gescheitert ist. Erfolgreiche Bildungspolitik sollte deshalb dem Kriterium der
Praxistauglichkeit von Neuerungen und der Relevanz prägender Bildungsinhalte
aus dem Realienbereich grösste Aufmerksamkeit schenken. Auf jeden Fall werden
wir nicht um die Herkulesaufgabe herumkommen, den auf zu viele Wünsche
ausgerichteten Bildungsauftrag der Volksschule in einer offenen Bildungsdebatte
einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.
Hanspeter Amstutz ist
ehemaliger Zürcher Bildungs- und Kantonsrat und kämpft gegen die zweite
Fremdsprache auf der Primarstufe.
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