"Damit werden die Schüler betrogen", Stuttgarter Nachrichten, 27.8. Interview mit Matthias Burchardt von Frank Krause
Herr Burchardt, es hat
zuletzt viel Wirbel um die Gemeinschaftsschule Tübingen
gegeben, von der ein Gutachten besagt, dass sie längst nicht das bringt, was
sich Grün-Rot von ihr erhofft. Wie schätzen Sie das ein?
Das Gutachten ist für
erfahrene Lehrer und nachdenkliche Wissenschaftler keine besonders große
Überraschung. Aber es ist hilfreich, dass mit den Mitteln der empirischen
Sozialforschung, also mit der Beobachtung durch Wissenschaftler vor Ort,
nachgewiesen wird, dass bestimmte pädagogische Maßnahmen nicht so
funktionieren, wie es der Öffentlichkeit versprochen wurde.
Was heißt das konkret?
Man hat über längere Zeit
hinweg die Arbeitsabläufe in zwei sechsten Klassen beobachtet. Also: wie die
Lehrer korrigieren, welche Arbeitsformen es gibt, wie die Schüler reagieren.
Ziel war es, mit dem Gutachten die Arbeitsabläufe optimieren zu können. Aber
das Ergebnis ist wenig verheißungsvoll für diesen Schultyp, auch wenn die
Landesregierung das sicher ungern hört.
Der Schulleiter hat die Kritik
an dem Projekt Gemeinschaftsschule vehement zurückgewiesen, auch Kultusminister
Stoch verwahrt sich gegen Vorwürfe. Wie ist Ihre Einschätzung?
Man muss genau schauen, was
von den Erkenntnissen des Gutachtens nur die Situation in Tübingen betrifft, da
sage ich ganz klar: Wer etwas Neues probiert, darf Fehler machen. Man kann aber
auch sehen, welche grundsätzlichen Probleme es in dieser neuen Unterrichtsform
gibt, was also zwangsläufig auch an anderen Gemeinschaftsschulen zu Problemen
führen muss. Insofern halte ich aktuell die Strategie der Kultuspolitiker für
fahrlässig, die Kritiker anzugreifen. Der Skandal besteht nicht darin, dass das
Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist.
Was ist aus Ihrer Sicht das
zentrale Ergebnis?
Das Scheitern der neuen
Lernkultur.
Im Klartext?
Lehrer und Schüler sind
vielfach mit den neuen Lernformen überfordert. In dem Gutachten wird zum
Beispiel geschildert, wie die Schüler weitgehend damit beschäftigt sind,
Lernpakete abzuarbeiten. Das sind also kopierte Zettel oder Aufgaben, die man
selbstständig und ohne Lehrer oder einen Mitschüler erledigt, das Ganze
idealerweise in hohem Tempo. Die uns allen aus der eigenen Schulzeit vertraute
Klassensituation, bei der ein Lehrer vorne steht und den Schülern etwas erklärt
oder mit ihnen diskutiertet, so dass eine Gemeinschaftssituation entsteht,
bildet nicht mehr den Kern des pädagogischen Handelns. Stattdessen ist jeder
Schüler im Lernen isoliert. Der Lehrer kontrolliert nur, wie viele
Aufgabenpakete erledigt wurden, aber nicht, was tatsächlich gelernt worden ist.
Das Gutachten zeigt, dass die Lehrer es nicht mal geschafft haben, die
inhaltlichen Fehler in den Lernpaketen zu korrigieren. Der Schüler weiß also
nicht, ob er es richtig oder falsch gemacht hat.
Was ist die Konsequenz?
Aus meiner Sicht müsste
dieser Irrweg unverzüglich aufgegeben werden. Das Gutachten schlägt dagegen
vor, den Einsatz der neuen Lernkultur noch mehr zu verstärken. Aber es darf
doch nicht darum gehen, mit allen Mitteln eine neue Methode zum Erfolg zu
bringen, sondern den Kindern muss zum Erfolg verholfen werden. Das schafft man
auf den bewährten Wegen des Schulsystems mit Sicherheit besser als auf diesen
Pfaden in einer Gemeinschaftsschule. Die Politik müsste eingestehen, dass dieses
System gescheitert ist und man zur traditionellen Form der Pädagogik
zurückkehren muss.
Grün-Rot wird Ihnen heftig
widersprechen.
Bevor man weitere
Gemeinschaftsschulen genehmigen sollte, würde ich unbedingt ein Moratorium
empfehlen, in dem man alle Anforderungen und Konsequenzen dieser neuen
Schulform abschätzt und der Frage nachgeht: Wie leistungsfähig ist das System
wirklich? Dazu müsste man die Leistungen an dieser Schule mit traditionellen
Schulen vergleichen und damit überprüfen, ob die pädagogischen Versprechen
erfüllt werden. Das ist bisher aber nicht erfolgt. Solange dies jedoch nicht
geschehen ist, halte ich es für sehr gefährlich, eine ganze Generation von
Schülern einem unausgegorenen System anzuvertrauen, in dem vieles darauf
hindeutet, dass es scheitern muss. Einerseits sind sich viele
Erziehungswissenschaftler einig, dass diese Schulform Kinder überfordert. Dies
wird übrigens auch im Gutachten als Kritikpunkt angeführt. Andererseits
bestätigen erfahrene Lehrer, dass man in einem Klassensystem bessere Leistungen
erzielt als hiermit. Das alte System war besser als das jetzige, es hat das
Land stark gemacht.
Ist die Gemeinschaftsschule
also ein ideologiegetriebenes Projekt von Grün-Rot?
Ich würde Ja sagen. Wenn
Grün-Rot diesen Vorwurf zurückweist, muss diese Regierung zulassen, dass das
System Gemeinschaftsschule neutral und kritisch evaluiert wird und man bei
negativen Ergebnissen die weitere Durchsetzung unterlässt. Bisher sehe ich dazu
keine Bereitschaft. Es ist erschreckend, dass man nicht in der Sache
argumentiert, sondern Kritiker persönlich attackiert.
Wie gefährlich ist das für
die Schüler?
Das Gutachten sagt klar,
dass eine taugliche Leistungserfassung der Bildungsziele bisher nicht wirklich
stattfinden konnte. Das bedeutet: Man kann gute Noten bekommen, obwohl man
nicht viel kann, aber viele Lernpakete in kurzer Zeit abarbeitet. Da werden
Schüler also letztendlich betrogen. Die Folgen der Entwicklung werden sich erst
in einigen Jahren bemerkbar machen, es könnte einen großen Verlust an Bildungsqualität,
Ausbildungsfähigkeit und Studierfähigkeit nach sich ziehen. Wenn die Regierung
das Gegenteil beweisen kann, ziehe ich den Hut und lasse mich vom Gegenteil
überzeugen.
Was würden Sie als Eltern
tun?
Ich wäre skeptisch
gegenüber dem politischen Versprechen, dass die Gemeinschaftsschule das allein
selig Machende ist. Allein die Tristesse des isolierten Arbeitens halte ich
nicht für ein glückliches Schulklima. Ich würde mir deshalb als Eltern zweimal
überlegen, ob ich mein Kind einem solch kalten System anvertraue, das den Beleg
für seine politischen Verheißungen bislang schuldig geblieben ist.
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