Das Standardwerk 'Sexualpädagogik der Vielfalt' soll Lehrern neue Anregungen geben, Bild: Picture-Alliance
Womit fängt guter Sex an? FAZ, 9.4. von Melanie Mühl
Sexualkundeunterricht an einem bayerischen Gymnasium. Fünfundzwanzig
Schüler der achten Klasse hängen mehr in ihren Stühlen, als dass sie sitzen.
Die Mädchen sind geschminkt, das Spektrum reicht vom nudefarbenen Lipgloss bis
zum Komplettprogramm inklusive Nagellack. Sie wirken älter, als sie tatsächlich
sind. Die meisten Jungs hingegen erwecken den Eindruck, als hätten sie eben
noch mit Plastikbaggern gespielt. Als die Lehrerin, eine resolute, durchaus
humorvolle Frau um die fünfzig, das Wort Sex ausspricht, kichert die Klasse,
obwohl die meisten von ihnen schon mal einen Porno im Netz gesehen haben
dürften. Pornos werden unter Jugendlichen gerne herumgeschickt, als Mutprobe
(Ekelpornos) oder aus Spaß. Zu aufgeklärten (und abgeklärten) Sex-experten bildet
der Pornokonsum sie freilich nicht aus. Stars Wars gucken bedeutet ja auch
nicht, dass man die Cape Canaveral Air Force Station dadurch wie seine
Westentasche kennt.
Die Besonderheiten des männlichen und weiblichen Körpers stehen erst in
der nächsten Unterrichtsstunde auf dem Programm. Für heute lautet die Aufgabe:
Jeder soll notieren, was er am jeweils anderen Geschlecht positiv und was
negativ findet. Anonym. Danach werden die Blätter eingesammelt. Jungs mögen an
Mädchen besonders Folgendes: „Geben Bonbons. Geben Blätter. Geben Stifte.
Lassen Hausaufgaben abschreiben.“ Erotik? Ist nirgendwo im Spiel. Die Jungs
nehmen Mädchen hauptsächlich als Lieferantinnen von Stiften und Hausaufgaben
wahr. Negativ beurteilen sie: „Gehen immer gemeinsam aufs Klo. Schnell
beleidigt. Kichern ständig. Schauen einen immer so blöd an. Stecken sich Stifte
in die Haare. Haben einen irgendwie komischen Körper.“ Die Vorstellung eines
Zungenkusses muss sie ekeln.
„Voll Porno“
Beim weiblichen Blick auf die Jungs schwingt die Anziehungskraft des
anderen Geschlechts bereits mit: „Ab und zu ganz süß. Manche riechen voll gut.
Geile Haare. Ihre Deos riechen toll. Gentlemanlike. Tiefe Stimme.“ Was die Mädchen
nicht leiden können, sind Angeber, Machos, „das Zocken am Computer“. „Die sind
noch voll die Kinder“, flüstert eine Schülerin ihrer Nachbarin ins Ohr. Ob sich
jemand zu dem Thema äußern möchte, fragt die Lehrerin. Niemand traut sich.
Wieder Gekicher.
Die Lehrerin insistiert nicht. Dabei könnte sie auch den harten Weg
einschlagen und das als Standardwerk geltende Buch „Sexualpädagogik der
Vielfalt“ heranziehen. Sie könnte die Aufgabe stellen: Bildet Gruppen, und
denkt über den Orgasmus nach! Die Schüler müssten dann zuerst - als „Input und
Anregung“ - einige Behauptungen rund um den Orgasmus auf den Prüfstand stellen.
Zum Beispiel: „Frauen haben eine unerschöpfliche orgastische Potenz. Für
muslimische Frauen ist der Orgasmus nicht wichtig. Nur schwule Männer bekommen
durch Analverkehr einen Orgasmus. Frauen, die keinen Orgasmus erleben, sind
frigide.“
Wäre die Lehrerin mit diesem Thema bereits durch, könnte sie auf eine
Vielzahl weiterer, „völlig neuer didaktischer Anregungen“ zurückgreifen, wie
den Fragebogen „Voll Porno“. Empfohlen wird er ab vierzehn. Bei Bedarf auch
früher. Die Fragen lauten: „Warum haben die Männer in Pornofilmen immer so
einen langen bzw. großen Penis? A: Weil die Pornofirmen die Männer
hauptsächlich danach aussuchen. B: Wenn ein kurzer Penis in eine Körperöffnung
gesteckt wird, sieht man nicht mehr viel davon, oder C: Je länger der Penis,
desto länger dauert der Sex.“ Oder: „Was ist Gangbang? A: Alle treiben es wild
durcheinander. B: eine Person hat ohne Pause nacheinander mit vielen bereits
wartenden Männern Sex. C. Sex mit vorbestraften Gang-Mitgliedern.“ Verhandelt
wird zudem, warum in Pornofilmen so viel Sperma fließt und ob guter Sex
tatsächlich der festgelegten Dramaturgie folgt: „1. Oralverkehr, 2.
Vaginalverkehr, 3. Analverkehr und 4. Samenerguss?“ Im Vorwort ist übrigens von
„Verstörung von Selbstverständlichkeiten“ die Rede. Das dürfte gelingen.
Wir bauen einen Puff!
Das Autorenteam vertritt die Meinung, dass Jugendliche im
Aufklärungsunterricht nicht nur lernen sollten, wie man verhütet, sondern auch,
was Dildos, Taschenmuschis und drag queens sind und wozu Gleitmittel taugen.
Offenbar muss auch der Irrtum, Handschellen seien lediglich ein
Faschingsaccessoire, aus der Welt geschafft werden. Die Leitlinie des Buchs
lautet: „größtmögliche Denkfreiheit und Kreativität“.
Kreativität wird den Jugendlichen auch abverlangt, wenn sie den „neuen
Puff für alle“ einrichten dürfen („Altersstufe ab 15, geeignet als
Vertiefung“). Wie muss so ein Puff eigentlich von außen gestaltet sein, „damit
er von allen möglichen Menschen aufgesucht werden kann“? Bei einem Puff liegt
es auf der Hand, dass die „Fähig- und Fertigkeiten“ der dort Arbeitenden
keinesfalls außer Acht gelassen werden dürfen. „Es macht einen Unterschied,
einen weißen heterosexuellen Mann in dem neuen Puff bedienen zu wollen oder
einen weißen, heterosexuellen Mann im Rollstuhl.“ Auch die Trans-Frau habe ihre
sexuellen Bedürfnisse. Für Variantenreichtum ist gesorgt. Lehrer und Schüler
können sich sicher sein: „Diese Übung birgt viel Spaß und Humor.“
Zurück zum Sexualkundeunterricht. Die Lehrerin fordert ihre Schüler auch
in den verbleibenden zehn Minuten nicht zum Brainstorming über Dildos und
Latex-Masken auf. Sie sollen ein Werbefoto kommentieren, auf dem eine sehr
blonde Frau mit sehr langen Beinen und einem gürtelähnlichen Rock neben einem
Auto posiert. „Wohin habt ihr zuerst geschaut?“, fragt sie. „Auf das
Nummernschild!“, rufen die Jungs, „und auf das coole gelbe Auto!“ Irgendwann
sagt einer schüchtern, dass die Beine der Frau schon ganz hübsch seien. Die
Klasse johlt. Die Mädchen finden das freizügige Outfit der Blondine abstoßend.
„Da sieht man ja voll den Busen!“ Dann ertönt der Gong, und die Schüler haben
es ziemlich eilig. In ihren Gesichtern zeichnet sich Erleichterung ab.
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