3. Februar 2015

Dubs kritisiert 'Top down' - Konzept des Lehrplans 21

Rolf Dubs konstatiert, dass der Lehrplan 21 ein von oben nach unten dirigiertes Projekt sei. Deshalb fehle ihm die notwendige Abstützung bei der Basis der Lehrkräfte.




Rolf Dubs verfolgt auch mit 80 Jahren das Bildungssystem noch genau, Bild: Benjamin Manser

"Manches ist nicht richtig ausgereift", Thurgauer Zeitung, 2.2. von Rolf App


Herr Dubs, wir haben uns 1968 kennengelernt, Sie unterrichteten damals an der heutigen Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen. Was prägt seither die Entwicklung unseres Bildungssystems am stärksten?
Rolf Dubs: Es ist unruhiger geworden durch die vielen Ansätze zu Reformen. In diesen Prozessen ist immer wieder der selbe Grundfehler gemacht worden: Man hat etwas beschlossen, aber weder die Lehrerinnen und Lehrer noch die Lehrbücher genügend vorbereitet.
Und warum war das ein Fehler?
Dubs: Aus der Forschung wissen wir seit langem, dass von oben kommende Reformen nichts bewirken. Sie müssen von unten her wachsen. Und weil das nicht geschieht, hat das Schweizer Bildungssystem zwar durchaus seine Stärken. Aber es ist geprägt von Unruhe – was man gut sieht in der Debatte um den Lehrplan 21: Manches an ihm ist nicht richtig ausgereift und wird von unten her zu wenig getragen.
Wie beurteilen Sie selber denn diesen im November letzten Jahres zur Einführung freigegebenen Lehrplan, der auch in seiner stark gestrafften Version immer noch 470 Seiten umfasst und als Unterrichtsziele 363 Kompetenzen auflistet?
Dubs: Ich stehe da zwischen den Fronten. Einerseits sehe ich, dass theoretisch orientierte Fachleute am Werk gewesen sind, die alles perfekt machen wollten – mit dem Ergebnis, dass der Lehrplan 21 sehr dick geworden ist. Andererseits aber unterstütze ich die Grundidee dieses Lehrplans: Dass die Schule Kompetenzen vermitteln soll. Wobei deren Grundvoraussetzung selbstverständlich das Wissen sein muss.
In der Debatte werden aber Wissens- und Kompetenzziele oft gegeneinander ausgespielt.
Dubs: Da haben Sie Recht. Mir kommt der Zusammenhang beider zu wenig zum Ausdruck. Und es fehlt eine Definition dessen, was Kompetenzen sind. Deshalb verstehen manche Lehrer auch gar nicht, was sie nun anfangen sollen. Schliesslich fehlt mir auch eine bildungsphilosophische Grundlage. Sie wird generell sträflich vernachlässigt in der Bildungspolitik.
Warum erhitzen denn Bildungsfragen wie der Lehrplan 21 die Öffentlichkeit so sehr?
Dubs: Das hängt damit zusammen, dass jeder einmal selber zur Schule gegangen ist – und deshalb Bescheid zu wissen glaubt. Vieles wird in der Rückschau auch verklärt. So ignoriert man, was sich zum Positiven verändert hat. Ich sehe das ganz gut an meinen Enkelkindern: Der französische Subjonctif sitzt nicht mehr so gut, umgekehrt kann ich sie fragen, wenn ich am Computer ein Problem habe. Da wissen meine Primarschul-Enkelkinder dann Bescheid.
Sie haben die Lehrer erwähnt, denen in den Reformprozessen eine zentrale Stellung zukommt. Wie hat sich denn ihr Beruf verändert?
Dubs: Er ist ungeheuer anspruchsvoll geworden. Ich kann das selber beurteilen, weil ich noch immer hin und wieder Stellvertretung mache für meine Tochter, um den Kontakt zur Praxis nicht zu verlieren. Vor allem die Heterogenität der Klassen macht den Lehrerinnen und Lehrern zu schaffen. Deshalb wird die Überbeanspruchung gerade für die gewissenhaften Lehrpersonen in Zukunft zum grossen Problem werden.
Und wie könnte man Gegensteuer geben?
Dubs: Empfehlen könnte ich für die Lehrerbildung ein Modell, das ich in den USA an der Michigan State University selber mitverfolgt habe. Es nennt sich Coping und geht so: Lehrerinnen und Lehrer werden gezielt Stresssituationen ausgesetzt. Auf diese Weise lernen sie, wie man mit Stress umgeht. Ich kenne hierzulande keine einzige Pädagogische Hochschule, die so etwas systematisch praktiziert.
Nun haben Sie sich auch schon für die Berufslehre stark gemacht…
Dubs: Das tue ich immer noch.
…aber führen Sie da nicht einen Kampf gegen Windmühlen angesichts dessen, was der Philosoph Julian Nida-Rümelin als «Akademisierungswahn» kritisiert? Muss die Berufslehre gegenüber der höheren Bildung nicht zwangsläufig den Kürzeren ziehen?
Dubs: Viele Eltern glauben, man habe mit einem Hochschulstudium die Karriere auf sicher und einen guten Lohn dazu. Hier sehe ich das Hauptproblem. Etwas Zweites kommt hinzu: Wenn man in solchen Berufen schlecht bezahlt wird, besteht auch kein Anreiz, sie erlernen zu wollen. Schliesslich: Lehrpersonen werden gern daraufhin beurteilt, wie viele Schüler sie an die Mittelschule bringen.
Muss sich auch an der Berufslehre selber etwas ändern?
Dubs: Das auch. Die heutige Konzeption baut noch zu sehr auf gewerblichen Vorstellungen auf und trägt der modernen Unternehmung zu wenig Rechnung. Man muss die Organisation betrieblicher, überbetrieblicher und schulischer Berufsbildung überdenken. Mir schwebt etwa vor, dass es im letzten Lehrjahr neben ein paar Pflichtfächern Blöcke gibt, die angeboten werden können von den Berufsverbänden oder von den Schulen. Lehrmeister und Lehrling wählen dann aus, was für sie wichtig ist.
Viele wollen an die Mittelschulen – denen der Vorwurf gemacht wird, sie bereiteten die Maturanden nicht mehr ausreichend auf die Universitäten vor. Trifft diese Kritik ins Schwarze?
Dubs: Da muss man aufpassen. Die Wissenschaft hat eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt zur Frage, ob Maturanden heute schlechter sind als früher. Klare Antwort: Es gibt dafür keinen Beleg.
Gerne erwähnt werden Mängel in der Beherrschung der deutschen Sprache. Und in der Mathematik. Wie steht's denn damit?
Dubs: In der Tat gibt es hier Defizite. Schweizer Studierende haben sich in der deutschen Sprache massiv verschlechtert. Auch kommen Teile von ihnen in der Mathematik nicht mehr mit.
Und was lässt sich tun?
Dubs: Gestatten Sie einen etwas altmodischen Gedanken, auf den Lehrer gern mit der Feststellung reagieren, ich sei halt alt geworden: Die Misere rührt nach meiner Meinung daher, dass in den Schulen nicht mehr genug geübt wird. Also müsste man wieder gute, systematische Übungen in die Schule bringen – ohne dass man aus ihr gleich eine Drillschule macht.
Wer die Matura hat, fängt vielleicht ein Hochschulstudium an. Und muss sich mit dem Bologna-Punktesystem herumschlagen. Ist das ein Fortschritt gegenüber früher?
Dubs: So edel die Absicht war, durch die 1999 beschlossene Bologna-Reform Flexibilität und Austauschmöglichkeiten unter den europäischen Hochschulen zu verbessern, so sehr hat die Regulierung in ihrem Gefolge extreme Ausmasse angenommen. Ausserdem hat sich der Austausch unter den Hochschulen nicht intensiviert. Etwas Zweites kommt hinzu. Oft nehmen jetzt Lehrpersonen Prüfungen ab, die dafür gar nicht ausgebildet sind. Untersuchungen zeigen aber, dass 60 bis 80 Prozent der Prüfungsaufgaben gar nicht den Bedingungen entsprechen.
Von 1969 bis 2000 haben Sie an der HSG Wirtschaftspädagogik gelehrt, von 1990 bis 1993 waren Sie deren Rektor. Wenn Sie damals mit heute vergleichen: Wie schneidet die HSG ab?
Dubs: Natürlich orte ich die eine oder andere Schwäche, bedingt durch die wachsende Zahl an Studierenden. Aber wenn ich die HSG vergleiche mit jenen deutschen Universitäten, an denen ich noch Lehraufträge wahrnehme – die Universität Halle und die Technische Universität Dresden –, dann herrschen an der HSG doch die wesentlich besseren Verhältnisse. Allerdings ist die Streuung unter den Dozierenden grösser geworden, auch punkto Einsatz für die Studierenden.
Worauf sollte denn die HSG bei der Auswahl der Dozierenden achten?
Dubs: Der Praxisbezug muss erhalten bleiben. Leider verstärken die vielen Evaluationen den Gegentrend, weil sie auf die Publikationen der Professoren abstellen. Deshalb haben auch all die Universitäts-Ranglisten ihre Problematik, weil eine ganzheitliche Betrachtungsweise verloren geht.
Kommen wir zu den Inhalten. Natürlich kann man Finanzkrisen und andere desaströse Erscheinungen in der Wirtschaft nicht unbedingt der Ausbildung wirtschaftlicher Führungskräfte anlasten. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die HSG etwas vernachlässigt hat.
Dubs: Ja. In meinen jungen Zeiten dachte man rein ökonomisch, ich selber nicht ausgenommen. Seit Mitte der Achtzigerjahre aber ist die HSG unter anderem mit der Besetzung des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik umgeschwenkt. Was die Studierenden aber nicht immer mitgemacht haben. Ich erinnere mich, dass einmal ein Student in einer Vorlesung aufgestanden ist und gesagt hat: «Sie haben ja keine Ahnung von der Wirtschaft. Wenn Sie meinen Vater sehen würden, wie er als Inhaber einer mittelgrossen Unternehmung arbeiten muss – da kann doch nur der Gewinn im Vordergrund stehen.» Hinten im Saal sass ein Journalist – der ziemlich überrascht war.
Reich ist über all die Jahre Ihr Engagement im Ausland gewesen – in Ruanda, Tansania, Thailand, Vietnam und China. Was hat sich dadurch verändert?
Dubs: Ich habe unheimlich viel gelernt. Vor allem aber habe ich ein Gefühl bekommen für andere Länder und Kulturen.


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