Rolf Dubs verfolgt auch mit 80 Jahren das Bildungssystem noch genau, Bild: Benjamin Manser
"Manches ist nicht richtig ausgereift", Thurgauer Zeitung, 2.2. von Rolf App
Herr Dubs, wir haben uns 1968 kennengelernt,
Sie unterrichteten damals an der heutigen Kantonsschule am Burggraben in St.
Gallen. Was prägt seither die Entwicklung unseres Bildungssystems am stärksten?
Rolf Dubs: Es ist
unruhiger geworden durch die vielen Ansätze zu Reformen. In diesen Prozessen
ist immer wieder der selbe Grundfehler gemacht worden: Man hat etwas
beschlossen, aber weder die Lehrerinnen und Lehrer noch die Lehrbücher genügend
vorbereitet.
Und warum war das ein
Fehler?
Dubs: Aus der Forschung
wissen wir seit langem, dass von oben kommende Reformen nichts bewirken. Sie
müssen von unten her wachsen. Und weil das nicht geschieht, hat das Schweizer
Bildungssystem zwar durchaus seine Stärken. Aber es ist geprägt von Unruhe –
was man gut sieht in der Debatte um den Lehrplan 21: Manches an ihm ist nicht
richtig ausgereift und wird von unten her zu wenig getragen.
Wie beurteilen Sie selber
denn diesen im November letzten Jahres zur Einführung freigegebenen Lehrplan,
der auch in seiner stark gestrafften Version immer noch 470 Seiten umfasst und
als Unterrichtsziele 363 Kompetenzen auflistet?
Dubs: Ich stehe da
zwischen den Fronten. Einerseits sehe ich, dass theoretisch orientierte
Fachleute am Werk gewesen sind, die alles perfekt machen wollten – mit dem
Ergebnis, dass der Lehrplan 21 sehr dick geworden ist. Andererseits aber
unterstütze ich die Grundidee dieses Lehrplans: Dass die Schule Kompetenzen
vermitteln soll. Wobei deren Grundvoraussetzung selbstverständlich das Wissen
sein muss.
In der Debatte werden aber
Wissens- und Kompetenzziele oft gegeneinander ausgespielt.
Dubs: Da haben Sie Recht.
Mir kommt der Zusammenhang beider zu wenig zum Ausdruck. Und es fehlt eine
Definition dessen, was Kompetenzen sind. Deshalb verstehen manche Lehrer auch
gar nicht, was sie nun anfangen sollen. Schliesslich fehlt mir auch eine
bildungsphilosophische Grundlage. Sie wird generell sträflich vernachlässigt in
der Bildungspolitik.
Warum erhitzen denn
Bildungsfragen wie der Lehrplan 21 die Öffentlichkeit so sehr?
Dubs: Das hängt damit
zusammen, dass jeder einmal selber zur Schule gegangen ist – und deshalb
Bescheid zu wissen glaubt. Vieles wird in der Rückschau auch verklärt. So
ignoriert man, was sich zum Positiven verändert hat. Ich sehe das ganz gut an
meinen Enkelkindern: Der französische Subjonctif sitzt nicht mehr so gut,
umgekehrt kann ich sie fragen, wenn ich am Computer ein Problem habe. Da wissen
meine Primarschul-Enkelkinder dann Bescheid.
Sie haben die Lehrer
erwähnt, denen in den Reformprozessen eine zentrale Stellung zukommt. Wie hat
sich denn ihr Beruf verändert?
Dubs: Er ist ungeheuer
anspruchsvoll geworden. Ich kann das selber beurteilen, weil ich noch immer hin
und wieder Stellvertretung mache für meine Tochter, um den Kontakt zur Praxis
nicht zu verlieren. Vor allem die Heterogenität der Klassen macht den
Lehrerinnen und Lehrern zu schaffen. Deshalb wird die Überbeanspruchung gerade
für die gewissenhaften Lehrpersonen in Zukunft zum grossen Problem werden.
Und wie könnte man
Gegensteuer geben?
Dubs: Empfehlen könnte ich
für die Lehrerbildung ein Modell, das ich in den USA an der Michigan State
University selber mitverfolgt habe. Es nennt sich Coping und geht so:
Lehrerinnen und Lehrer werden gezielt Stresssituationen ausgesetzt. Auf diese
Weise lernen sie, wie man mit Stress umgeht. Ich kenne hierzulande keine
einzige Pädagogische Hochschule, die so etwas systematisch praktiziert.
Nun haben Sie sich auch
schon für die Berufslehre stark gemacht…
Dubs: Das tue ich immer
noch.
…aber führen Sie da nicht
einen Kampf gegen Windmühlen angesichts dessen, was der Philosoph Julian
Nida-Rümelin als «Akademisierungswahn» kritisiert? Muss die Berufslehre
gegenüber der höheren Bildung nicht zwangsläufig den Kürzeren ziehen?
Dubs: Viele Eltern
glauben, man habe mit einem Hochschulstudium die Karriere auf sicher und einen
guten Lohn dazu. Hier sehe ich das Hauptproblem. Etwas Zweites kommt hinzu:
Wenn man in solchen Berufen schlecht bezahlt wird, besteht auch kein Anreiz, sie
erlernen zu wollen. Schliesslich: Lehrpersonen werden gern daraufhin beurteilt,
wie viele Schüler sie an die Mittelschule bringen.
Muss sich auch an der
Berufslehre selber etwas ändern?
Dubs: Das auch. Die
heutige Konzeption baut noch zu sehr auf gewerblichen Vorstellungen auf und
trägt der modernen Unternehmung zu wenig Rechnung. Man muss die Organisation
betrieblicher, überbetrieblicher und schulischer Berufsbildung überdenken. Mir
schwebt etwa vor, dass es im letzten Lehrjahr neben ein paar Pflichtfächern
Blöcke gibt, die angeboten werden können von den Berufsverbänden oder von den
Schulen. Lehrmeister und Lehrling wählen dann aus, was für sie wichtig ist.
Viele wollen an die
Mittelschulen – denen der Vorwurf gemacht wird, sie bereiteten die Maturanden
nicht mehr ausreichend auf die Universitäten vor. Trifft diese Kritik ins
Schwarze?
Dubs: Da muss man
aufpassen. Die Wissenschaft hat eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt
zur Frage, ob Maturanden heute schlechter sind als früher. Klare Antwort: Es
gibt dafür keinen Beleg.
Gerne erwähnt werden
Mängel in der Beherrschung der deutschen Sprache. Und in der Mathematik. Wie
steht's denn damit?
Dubs: In der Tat gibt es
hier Defizite. Schweizer Studierende haben sich in der deutschen Sprache massiv
verschlechtert. Auch kommen Teile von ihnen in der Mathematik nicht mehr mit.
Und was lässt sich tun?
Dubs: Gestatten Sie einen
etwas altmodischen Gedanken, auf den Lehrer gern mit der Feststellung
reagieren, ich sei halt alt geworden: Die Misere rührt nach meiner Meinung
daher, dass in den Schulen nicht mehr genug geübt wird. Also müsste man wieder
gute, systematische Übungen in die Schule bringen – ohne dass man aus ihr
gleich eine Drillschule macht.
Wer die Matura hat, fängt
vielleicht ein Hochschulstudium an. Und muss sich mit dem Bologna-Punktesystem
herumschlagen. Ist das ein Fortschritt gegenüber früher?
Dubs: So edel die Absicht
war, durch die 1999 beschlossene Bologna-Reform Flexibilität und
Austauschmöglichkeiten unter den europäischen Hochschulen zu verbessern, so
sehr hat die Regulierung in ihrem Gefolge extreme Ausmasse angenommen.
Ausserdem hat sich der Austausch unter den Hochschulen nicht intensiviert.
Etwas Zweites kommt hinzu. Oft nehmen jetzt Lehrpersonen Prüfungen ab, die
dafür gar nicht ausgebildet sind. Untersuchungen zeigen aber, dass 60 bis 80
Prozent der Prüfungsaufgaben gar nicht den Bedingungen entsprechen.
Von 1969 bis 2000 haben
Sie an der HSG Wirtschaftspädagogik gelehrt, von 1990 bis 1993 waren Sie deren
Rektor. Wenn Sie damals mit heute vergleichen: Wie schneidet die HSG ab?
Dubs: Natürlich orte ich
die eine oder andere Schwäche, bedingt durch die wachsende Zahl an
Studierenden. Aber wenn ich die HSG vergleiche mit jenen deutschen
Universitäten, an denen ich noch Lehraufträge wahrnehme – die Universität Halle
und die Technische Universität Dresden –, dann herrschen an der HSG doch die
wesentlich besseren Verhältnisse. Allerdings ist die Streuung unter den
Dozierenden grösser geworden, auch punkto Einsatz für die Studierenden.
Worauf sollte denn die HSG
bei der Auswahl der Dozierenden achten?
Dubs: Der Praxisbezug muss
erhalten bleiben. Leider verstärken die vielen Evaluationen den Gegentrend,
weil sie auf die Publikationen der Professoren abstellen. Deshalb haben auch
all die Universitäts-Ranglisten ihre Problematik, weil eine ganzheitliche
Betrachtungsweise verloren geht.
Kommen wir zu den
Inhalten. Natürlich kann man Finanzkrisen und andere desaströse Erscheinungen
in der Wirtschaft nicht unbedingt der Ausbildung wirtschaftlicher
Führungskräfte anlasten. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die HSG etwas
vernachlässigt hat.
Dubs: Ja. In meinen jungen
Zeiten dachte man rein ökonomisch, ich selber nicht ausgenommen. Seit Mitte der
Achtzigerjahre aber ist die HSG unter anderem mit der Besetzung des Lehrstuhls
für Wirtschaftsethik umgeschwenkt. Was die Studierenden aber nicht immer
mitgemacht haben. Ich erinnere mich, dass einmal ein Student in einer Vorlesung
aufgestanden ist und gesagt hat: «Sie haben ja keine Ahnung von der Wirtschaft.
Wenn Sie meinen Vater sehen würden, wie er als Inhaber einer mittelgrossen
Unternehmung arbeiten muss – da kann doch nur der Gewinn im Vordergrund
stehen.» Hinten im Saal sass ein Journalist – der ziemlich überrascht war.
Reich ist über all die
Jahre Ihr Engagement im Ausland gewesen – in Ruanda, Tansania, Thailand,
Vietnam und China. Was hat sich dadurch verändert?
Dubs: Ich habe unheimlich
viel gelernt. Vor allem aber habe ich ein Gefühl bekommen für andere Länder und
Kulturen.
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