Das regulierte Schulkind, Beobachter, 20.2. Bild: Beobachter
2006 nahm das Schweizer Stimmvolk das sogenannte HarmoS-Konkordat
(kurz für «interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der
obligatorischen Schule») mit 86 Prozent Ja-Stimmen an. Das Konkordat, das von
der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) formuliert wurde, soll
die Qualität und die Durchlässigkeit des Schweizerischen Schulsystems sichern
und Mobilitätshindernisse abbauen.
Es hat konkret folgende Inhalte:
§ Die obligatorische Schulzeit wird schweizweit auf elf Jahre verlängert,
anstelle des bisherigen Kindergartens wird eine Vorschule oder Eingangsstufe
eingeführt.
§ Es werden für die ganze Schweiz übergeordnete Ziele für die
obligatorische Schule eingeführt.
§ Es sollen Instrumente der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung
auf nationaler Ebene benannt werden, um die Anforderungen anzugleichen.
§ Es sollen Instrumente für verbindliche Bildungsstandards bestimmt
werden.
§ Die Schule soll an nationale und internationale Portfolios angepasst
werden.
Seit der Abstimmung hat die Erziehungsdirektion an einem gemeinsamen
Lehrplan für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone gearbeitet, der die
Volksschule vereinheitlichen und allen Deutschschweizer Kindern einheitliche
Lernziele geben soll. Der neue Lehrplan ist vermutlich das grösste
Bildungsprojekt, an das sich die Schweiz je gewagt hat: Fast acht Jahre lang
dauerte die Arbeit, insgesamt waren rund 200 Fachleute beteiligt. Ende 2014
wurde die überarbeitete und gekürzte Version des Lehrplans 21 von den
Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen und direktoren freigegeben. Nun
entscheidet jeder Kanton gemäss den eigenen Rechtsgrundlagen über
die Einführung. Die Einführung war in den meisten Kantonen auf das
Schuljahr 2017/18 vorgesehen. Bereits gibt es aber Widerstand und
Verschiebungspläne. Ob der Lehrplan 21 von den Lehrern je genutzt wird, ist offen.
Die Kritik: «Ein Bürokratiemonster»
§ Übers Ziel hinaus geschossen: Die
Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungskommissionen (EDK) hat den
Auftrag allzu wörtlich genommen. HarmoS sollte die Schule einfacher machen,
doch herausgekommen ist ein bürokratisches Monster: Rund 200 Fachleute haben
nach acht Jahren Arbeit hinter verschlossenen Türen ein Konvolut vorgelegt, das
in der ersten Version 557, in der abgespeckten Ausgabe immer noch 470 Seiten
dick war. Über die Gesamtkosten schweigt man sich aus.
§ Bürokratiemonster: Der neue
Lehrplan umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in 2304 Kompetenzsstufen; in der
ersten Version waren es sogar 819 mehr. So zerlegt man Schule und auch Schüler
in ihre Einzelteile – so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert.
§ Fragwürdige Ausrichtung: Das
Zauberwort der neuen Bildungsbibel heisst Kompetenzen. Man misst nicht mehr,
was die Schüler wissen, sondern was sie können sollen. Das klingt zwar super,
doch der Lehrplan 21 definiert nur in wenigen Bereichen, welche Bildungsinhalte
die Lehrer den Schülern beibringen sollen. An erster Stelle steht das
Erarbeiten von messbaren Kompetenzen, die meist an beliebig austauschbaren
Inhalten erworben werden können.
§ Die Schwachen haben wenig Chancen: Eine
Schulklasse ist heute ein gruppendynamisches, von hierarchischen Strukturen
geprägtes Gefüge, in dem, wenn der Lehrer schlau ist, auch einmal der
Schwächere vom Stärkeren lernt – weil der Lehrer das so aufgleist. Isoliert man
dagegen die Schüler, lässt sie quasi-individuell von einem Lern-Coach betreuen,
werden die Guten rasant schnell noch besser – und die Schlechten schlechter.
Auf der Strecke bleibt die Chancengleichheit.
Zusammenfassend kritisiert
Erziehungswissenschaftler Walter Herzog: «Der Lehrplan 21 nützt all denen, die
die Schule stärker kontrollieren und vermessen möchten, denjenigen, die Tests
entwickeln und durchführen wollen, weil sie damit Geld verdienen. Messbarkeit
per se bringt nichts. Die Sau wird ja auch nicht fetter, bloss weil man sie
wiegt.»
Man müsse ernsthaft befürchten, dass sich die Lehrer künftig vor allem
an den Prüfungen orientierten. «Das nennt man ‹teaching to the test›, Lehren
für die Prüfung – und genau das bringt kein sehr nachhaltiges Lernen.»
Die Befürworter: «Lehrplan bietet Orientierung»
Der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und
Lehrer (LCH) sieht die ganze Kritik nicht so: «Der Lehrplan 21 nützt denen, die
wissen wollen, was in der Volksschule läuft, denen, die Lehrmittel herstellen,
denen, die Tests anbieten, und denen, die sich beim Unterrichten und Lernen
orientieren wollen», sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen
Arbeitsstelle beim LCH.
Auf die Frage, was denn am Schluss von der Vision und vom Projekt
Lehrplan 21 übrig bleiben werde, meint Anita Fetz lapidar: «Ein rein
nutzenorientiertes Bildungsverständnis – und ein ordinäres Sparprogramm.» Wenn
es weiträumig umgesetzt werde, schaffe es langfristig eher die öffentlichen
Schulzimmer ab, statt die kantonalen Unterschiede zu überwinden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen