Patrizia Bisig
erlebte den Totalausfall. Nach Klosteraufenthalt und Hilfe durch einen
berufsbegleitenden
Berater arbeitet sie wieder als Lehrerin.
"Ich war stets in Hast, wollte es allen recht machen". Bild: Sonntagszeitung
Sie klatschte, bis die Hände blutig waren, Sonntagszeitung, 26.10. von Claudia Marinka
Patrizia Bisigs
«freier Fall» passiert im Winter 2010. Die Lehrerin steht mit ihren Schülern
auf dem Pausenplatz, es schneit, es ist kalt, und bei den Proben für das
Adventssingen der Schule geht alles schief. Die Nerven liegen blank, sie ruft
den Kindern lautstark zu, peitscht sie mit Worten an und klatscht und klatscht
wie besessen den Takt der Lieder, um die Kleinen anzutreiben. In der Sitzung
nachher im Lehrerkollegium erschrickt sie, als sie auf ihre Hände blickt: der
Mittelfinger, an dem sie ihren Ehering trägt, ist lila geschwollen, , Blut
klebt an ihrer Handfläche. In der Sitzung sagt eine Kollegin: «Ich glaube, ich
hab jetzt bald ein Burnout». Dann kommt sie an die Reihe. Und Patrizia Bisig
fällt. Sie bricht innerlich zusammen. «Ich habe ein Burnout», hört sie sich
sagen. Sie steht auf, will aus dem Zimmer rennen, setzt sich dann doch wieder
hin, bricht in Tränen aus. Totalausfall.
Druck von Schule, Eltern und durch pädagogische
Konzepte
«Freier Fall, als
hätte jemand das Hamsterrad abgestellt», beschreibt die Volksschullehrerin und
zweifache Mutter das Gefühl der Ohnmacht und Leere. Diagnose: Burn-out. «Ich
musste die Situation akzeptieren. So begab ich mich auf die Suche nach meiner
inneren Balance.» Patrizia Bisig, 54, geht auf eine ganz persönliche Reise, auf
«die Suche nach sich selbst». Nach ihrem Zusammenbruch wird sie
krankgeschrieben, geht für drei Wochen ins Kloster Rickenbach LU. Dort findet
sie Ruhe und feste
Strukturen. Nach drei
Wochen kann sie wieder sechs Stunden am Stück schlafen, wieder regelmässig
essen. Etwas, das sie schon seit langem nicht mehr kannte. Schlaf- und Essstörungen
– ein Dauerzustand bei vielen Burnout-Patienten. «Ich war stets in Hast, wollte
es allen recht machen, hinzu kam der Druck von Schule und Eltern, pädagogische
Konzepte, die es umzusetzen galt.» Sie selber bleibt dabei auf der Strecke.
Bisig arbeitet praktisch Tag und Nacht für die Schule, unterrichtet während
neun Jahren anspruchsvolle Klassen in Bern-Bethlehem, übernimmt im Kollegium
dieses und jenes Ämtli.
Die
Erschöpfungssymptome hat sie lang vor ihrem Zusammenbruch, verdrängt sie,
schleppt sich immer irgendwie in die nächsten Ferien. Sie hat «den anderen Pol»
nicht gelebt: Balance, Ruhe, allein sein, Rückzug, Abstand halten. Sie hätte
ein schlechtes Gewissen bekommen, sagt Bisig. «Man steht immer unter Druck.»
Hilfe in Anspruch nehmen braucht enorm viel Mut
Im Kloster erlangt
sie ein Gefühl der Ruhe, der Festigung. «Ich lernte, fürsorglich mit mir selber
umzugehen. So fing ich an, wieder eine Beziehung zu mir aufzubauen.» Sie lernt,
wieder auf ihren Körper zu hören, und sich bewusst zu machen, wo ihre Grenzen
liegen. Etwas, das ihr nicht leicht fällt. Bis heute nicht. Sie gehört zu den
Menschen, die gern arbeiten, die sich gern einsetzen für eine Sache, für andere
Menschen,für die Kinder an ihrer Schule sowieso. «Wir eilen immerfort multifunktional
durchs Leben, geben so viel, nur nicht für uns selber.»
Wieder zu Hause,
stand ihr ein Casemanager der Pädagogischen Hochschule Bern zur Seite. «Eine
der besten Hilfeleistungen für Lehrer überhaupt », schwärmt sie. Mit ihm kann
sie das Geschehene reflektieren, er koordiniert Termine mit dem Arzt und der
Psychologin, nimmt ihr die Kontakte zur Schulleitung und ihrer Stellvertreterin
ab. Mehr als 250 Lehrpersonen pro Jahr nehmen im Kanton Bern diese
Dienstleistung in Anspruch – wegen unterschiedlicher Erkrankungen. 75 Prozent
werden
länger als ein halbes
Jahr betreut. Patrizia Bisig erinnert sich gut, wie sie in der schwierigen Zeit
nach der Burnout-Diagnose von ihren Mitmenschen gemieden wird. Man gelte als
krank. «Die braucht Ruhe», heisse es im Umfeld, Kollegen und Freunde ziehen
sich zurück. Dabei braucht man sie gerade dann mehr denn je. «Mein Casemanager
hat das Beste gemacht: Er hat mit mir geredet. »
Heute steht Patrizia
Bisig wieder mit beiden Beinen im Leben. Einiges hat sich verändert: Sie
trennte sich von ihrem Mann, zog in eine eigene Wohnung und ist im Diplomjahr
zur Mal- und Gestaltungstherapeutin. «Hilfe in Anspruch nehmen braucht viel
Mut», sagt sie und rät es zugleich allen Betroffenen. Sie kennt viele Kollegen,
die das nicht schaffen: «Diesen Schritt muss man machen, er ist das
Wichtigste.»
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