Christine La Pape Racine will herausfinden, in welchen Bereichen Anpassungen notwendig sind, Bild: FHNW
Genauer hinsehen beim Fremdsprachenunterricht, NZZ, 25.6. von Giuseppe Manno, Christine Le Pape Racine und Mirjam Egli Cuenat
Geht es um
die Frage, ob an der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden
sollen, werden meist Meinungen geäussert, die bereits seit den 1970er Jahren
gegen die Einführung von Frühfranzösisch vorgebracht wurden. Inzwischen liegen
jedoch im In- und Ausland zahlreiche Studien zu diesem Thema vor. Die Umsetzung
der Fremdsprachenreform ist weit davon entfernt, im Blindflug stattzufinden,
wie dies zuweilen unterstellt wird. Seit den 1970er Jahren findet eine
Demokratisierung des Fremdsprachenunterrichts statt. Davor setzte der
Französischunterricht erst in der Oberstufe und nur für Schüler und
Schülerinnen im höchsten Niveau ein, Englisch war in der Regel fakultativ. Dass
die Fremdsprachenpolitik der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz
(EDK) seit 1975 nachhaltig wirkt, zeigte eine Nationalfondsstudie der
Universität Bern. Die Schweizer Wohnbevölkerung verfügt im Durchschnitt über
Kompetenzen in zwei Fremdsprachen und gehört damit zu den europäischen
Spitzenreitern; diese Sprachen werden überwiegend in der Schule erlernt.
Nicht überfordert
Die Schweiz
folgt dem europäischen Trend, mit dem Fremdsprachenunterricht früher zu
beginnen. Die Gegner des frühen Fremdsprachenunterrichts meinen, dass
Sekundarschüler/-innen den mehrjährigen Stoff der Primarschule schnell aufholen
können. Die zwei grossangelegten internationalen Vergleichsstudien Ellie und
ESLC zeigen hingegen, dass ein früherer Beginn im Durchschnitt zu besseren
Leistungen und höherer Motivation führt. Die grosse Mehrheit der Kinder ist
durch zwei Fremdsprachen nicht überfordert und erfüllt die Mindestansprüche
gemäss Lehrplan. Dies wies 2009 eine Studie der Pädagogischen Hochschule
Zentralschweiz nach, die auch zeigte, dass die Kinder mit vorangehendem
Englischunterricht in Französisch am Ende der 5. Klasse im Hören und Lesen
besser als diejenigen ohne Englisch abschneiden. Am Ende der 6. Klasse wiesen
sie beim Französischsprechen höhere Kompetenzen aus als die Lernenden ohne
Frühenglisch. Die Studie zeigte auch, dass das Lernen anderer Sprachen nicht
zulasten des Deutschen geht.
Ein häufiges
Argument gegen zwei Fremdsprachen ist der hohe Anteil von Fremdsprachigen in
Schweizer Schulen, der 2011/12 gemäss Bundesamt für Statistik bei 27,3 Prozent
lag. Diese seien mit dem Fremdsprachenlernen überfordert. Studien im In- und
Ausland widerlegen dies mehrfach. Die soeben erwähnte Studie weist in gewissen
Bereichen sogar besseres Abschneiden von Migrantenkindern auf. Ebenso zeigen
eine neue Studie der Pädagogischen Hochschule Thurgau und die deutsche
Desi-Studie: Kinder mit Migrationshintergrund schneiden im Englischunterricht
gleich gut ab wie Deutschsprachige. Oft ist ihre Motivation für das Lernen
zweier Fremdsprachen sogar höher als die der Deutschsprachigen, wie eine Studie
im Kanton Zürich in 5. und 6. Primarschulklassen zeigte.
Die Frage ist
daher nicht, ob zwei Fremdsprachen in der Primarschule eingeführt werden
sollen, sondern wie diese zu unterrichten sind. Primarschulkinder lernen
anders, was beim Anschluss an die Sekundarschule zu berücksichtigen ist. Bei
der Beurteilung stehen heute nicht die Fehler, sondern die vorhandenen
Kompetenzen im Vordergrund. Um die Lernmotivation aufrechtzuerhalten, gilt es
deshalb, stufengerechte Beurteilungsinstrumente anzuwenden. Ohne auf gezieltes
Vokabel- und Formenlernen zu verzichten, unterstützen moderne Lehrmittel die
Lernenden und die Lehrpersonen beim Brückenbau zwischen den Sprachen,
vermitteln altersgerechte Inhalte und helfen beim Aufbau eines Sprachbades
(Immersion) im Klassenzimmer. Die erwähnte Desi-Studie weist nach, dass
Letzteres sehr effizient ist. Diese Ergebnisse werden im helvetischen Kontext
bestätigt.
Verzicht auf Französisch als Rückschritt
Die
Pädagogischen Hochschulen St. Gallen und der Nordwestschweiz erforschen
gemeinsam, wie sich die Kompetenzen beim Lesen, Schreiben und Sprechen in
Französisch, Englisch und Deutsch am Stufenübergang von der Primar- zur
Sekundarstufe I im reformierten Fremdsprachenunterricht entwickeln. Es wird
dabei untersucht, wie sich individuelle Lernvoraussetzungen auf diese
Kompetenzen auswirken, welchen Einfluss die eingesetzte Didaktik ausübt und wie
sich die verlängerte Lernzeit in der ersten Fremdsprache im Spracherwerb
niederschlägt. Diese und weitere wissenschaftliche Untersuchungen werden in den
kommenden Jahren zeigen, was sich bewährt und in welchen Bereichen Anpassungen
notwendig sind.
Französisch
gilt, im Gegensatz zu Englisch, vor allem im Anfängerstadium wegen der
Formenvielfalt, als schwer zugänglich. Wird der Unterricht in der Landessprache
reduziert und in der Oberstufe nicht mehr allen Lernenden angeboten,
zementieren sich Vorurteile, die durch einen frühen Einstieg abgefedert werden
können. Ohne Französisch bleiben gerade den schulisch Leistungsschwächeren
wichtige Berufsmöglichkeiten verwehrt. Zwei Schweizer Studien mit Bezug zu
Demografie und Bildungsökonomie zeigen, dass in manchen nichtakademischen
Berufen, zum Beispiel im Dienstleistungssektor, die zweite Landessprache ebenso
oft gebraucht wird wie Englisch und die Kenntnis von zwei Landessprachen plus
Englisch im Schnitt zu einem höheren Lohn führt.
Noch ist die
investitionsreiche Sprachenreform in den wenigsten Kantonen ganz umgesetzt.
Französisch aus der Primarstufe zu verbannen, käme nicht nur pädagogisch,
sondern auch sprachpolitisch und ökonomisch einem dramatischen Rückschritt
gleich. Wenn jetzt Bilanz gezogen wird, dann um genauer hinzusehen und die
Lehrpersonen bei ihrer wichtigen Arbeit noch besser zu unterstützen.
Giuseppe
Manno ist Professor
für Didaktik der romanischen Sprachen und ihre Disziplinen an der Pädagogischen
Hochschule Nordwestschweiz; Christine Le Pape Racine ist
ebendort Professorin für Französischdidaktik und ihre Disziplinen; Mirjam
Egli Cuenat ist Professorin am Institut Fachdidaktik Sprachen -
Sekundarstufe I der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.
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