12. Mai 2018

Verbesserungspotenzial beim Stadtzürcher Tagesschul-Modell

Die Erziehungswissenschafterin Marianne Schüpbach sieht im Stadtzürcher Modell noch Verbesserungspotenzial

Frau Schüpbach, wie beurteilen Sie das Zürcher Tagesschulmodell aus erziehungswissenschaftlicher Sicht?
Allein von der Struktur eines Tagesschulmodells lässt sich dessen pädagogischer Gewinn nicht abschliessend beurteilen. Eine 80-minütige gemeinsame Mittagspause bietet aber sehr wenig Zeit, um das Potenzial einer Tagesschule voll auszuschöpfen. Es ist sicher eine gute Grundlage, die sich unter pädagogischen Gesichtspunkten aber weiter ausbauen liesse.
«Die Tagesschule sollte mehr sein als eine blosse Wohlfühloase», NZZ, 12.5. von Lena Schenkel


Das Modell bietet auch die Möglichkeit der freiwilligen Aufgabenhilfe nach Unterrichtsschluss.
Das ist begrüssenswert. Langfristig – wenn einmal alle Kinder Tagesschulen besuchen – stellt sich ohnehin die Frage, ob die Erledigung der Hausaufgaben künftig nicht ganz wegfallen wird oder die Schülerinnen und Schüler ein Zeitfenster im Unterricht haben werden, um selbständig mit fachkundiger Unterstützung Aufgaben zu lösen. Mit reiner Aufgabenhilfe in der Tagesschule ist es aber nicht getan. Die Betreuungszeit sollte insgesamt pädagogisch sinnvoll gestaltet werden: Sozial- und Schulpädagogik sind dabei gleichermassen gefordert.

Wie muss man sich das vorstellen?
Ideal wären neben freiem Spiel geführte und zielgerichtete Aktivitäten oder Arbeitsgruppen, wie man sie etwa in Deutschland kennt. An solchen können die Kinder nach dem Unterricht freiwillig, aber dann verbindlich an einem oder zwei Nachmittagen in der Woche über ein Semester hinweg teilnehmen.

Noch mehr Schule?
Gemeint ist nicht eine Verlängerung des Unterrichts, sondern eine spielerische Förderung. Die Kinder könnten zum Beispiel angeleitet von einer Betreuungsperson mit einem Tablet selber einen Parcours im Quartier gestalten. Ganz nebenbei würden sie dabei Medienkompetenzen erwerben. Am besten würden verschiedene solcher Programme mit unterschiedlicher Ausrichtung, zum Beispiel einer eher sprachlichen oder einer eher mathematischen, parallel angeboten. Was die zeitliche Dauer betrifft, wären eineinhalb Stunden ideal.

Wer müsste diese Programme leiten – Lehrer?
Man muss zwischen freizeit- und schulorientierten Angeboten unterscheiden. Für Erstere braucht es nicht nur pädagogisch ausgebildetes Personal, für Letztere unbedingt. Das müssen jedoch nicht zwingend Lehrer sein – denn das sogar die Gefahr bergen, dass diese solche Angebote eher wieder verschulen. Es braucht aber pädagogisch qualifiziertes Personal für diese Arbeit. Die Programme sollten didaktisch aufgebaut und klar strukturiert sein.

Ist eine Rundumförderung denn Aufgabe der Tagesschule?
Es kommt auf die Erwartungen an die Tagesschule an, die sich – auch politisch – stark unterscheiden. Dass sich die Kinder dort wohl fühlen, kann aber meiner Meinung nach nicht das einzige Ziel sein. Die Tagesschule sollte mehr sein als eine blosse Wohlfühloase. Wenn man auch die Chancengleichheit fördern will, böte die Tagesschule viele Ansätze dafür.

Was den pädagogischen Mehrwert von Tagesschulen betrifft, kamen Sie selbst aber zu unterschiedlichen Ergebnissen in Ihren Studien.
In einer ersten Studie von 2006 haben wir zwei verschiedene Tagesschulmodelle über drei Jahre untersucht, in einer zweiten von letztem Jahr nur ein Modell über ein Schuljahr hinweg – aus unvorhergesehenen organisatorischen Gründen. In der ersten Studie zeigten sich positive Effekte, in der zweiten nicht. Aus anderen Untersuchungen ist jedoch bekannt, dass ein Angebot intensiv und über längere Zeit genutzt werden muss, damit sich ein messbarer Effekt zeigt. Dafür braucht es mehr als ein gemeinsames Mittagessen in der Schule.
Interview: Lena Schenkel


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