Besonders fleissig und gute Noten – ein solches Kind ist der Traum
mancher Eltern. Ist es zudem überdurchschnittlich intelligent, dann hat es
beste Aussichten auf eine besonders erfolgreiche Bildungslaufbahn. Doch in
vielen Fällen sind solche Kinder nicht hochbegabt, sondern Überleister.
Überleister sind junge Menschen, die mehr leisten, als man von ihnen aufgrund
ihrer intellektuellen Fähigkeiten erwartet.
Überfördert und überfordert, NZZ, 17.5. von Margrit Stamm
Überleistung gilt fälschlicherweise als erstrebenswert oder zumindest
als harmlos. Doch ein Blick hinter die Fassade vieler asiatischer Familien
verweist auf die damit verbundenen Probleme. In dieser Kultur wird der Wert des
Kindes häufig an dessen Leistungsergebnissen bemessen, weshalb schlechte
Schulleistungen als familiäre Schande gelten können. Folglich gibt es vor allem
ein Ziel: Bestnoten – ungeachtet dessen, welche Anstrengung erforderlich und
welche psychischen Beeinträchtigungen damit verbunden sind. Hierzulande ist die
Situation nicht derart krass, aber der Trend ist unübersehbar. Kinder, die mehr
leisten, als sie eigentlich in der Lage sind, gibt es viele. So geht
ETH-Kollegin Elsbeth Stern davon aus, dass mindestens dreissig Prozent der
Gymnasiasten Überleister sind, die eigentlich gar nicht ins Gymnasium gehören.
Auch jenseits des Gymnasiums finden sich solche Kinder, etwa die Langsamlerner
mit deutlichen Leistungsschwächen, deren Eltern aber mit allen Mitteln auf die
Sekundarschule pochen. Bekannt sind Überleister auch in Sport und Musik. Hier
ist der Wunsch besonders gross, aus einem normalen Kind ein aussergewöhnliches
Kind zu machen. Die Freude am Spiel oder am künstlerischen Vergnügen ist out,
Konkurrenz ist in.
Natürlich ist das Leistungsdenken etwas Wichtiges. Problematisch wird es
jedoch dann, wenn es zum primären Ziel des Elternhauses wird. Doch Mama und
Papa sind nicht einfach die überehrgeizigen Schuldigen – diese oft gehörte
Anschuldigung ist zu simpel. Das Bildungssystem heizt die Überleisterkultur
mächtig an und lässt Eltern neuerdings schon im Kindergarten in sie einspuren.
Wenn die Kompetenzen von Fünfjährigen in mehrseitigen Fragebogen mit
standardisierten Beurteilungspunkten klassifiziert und miteinander verglichen
werden, ist es nachvollziehbar, dass sich Eltern für den Erfolg ihrer Kleinen
verantwortlich fühlen und sich fortan noch mehr darauf konzentrieren, das Beste
aus dem Kind herauszuholen.
Ein weiterer Verstärker der Überleisterkultur sind die Checks, die
mittlerweile über die ganze obligatorische Schulzeit eingeführt werden und
deren Ergebnisse sogar ins Abschlusszertifikat eingetragen werden sollen. Wer
den Durchschnitt nicht erreicht, braucht folgerichtig Unterstützungsmassnahmen.
Gäbe es nicht die Lern- und Erziehungspsychologen, die permanente
Nachhilfe und Lernstudios, ganz abgesehen von den elterlichen Rekursen als Ellbogenreaktionen,
damit die Kinder vorwärtskommen, dann könnte der Nachwuchs die an ihn
herangetragenen Leistungserwartungen gar nicht mehr stemmen. Diese
Überleisterkultur ist höchst problematisch, weil aus ihr eine Lebenshaltung
resultiert, die vom Bildungssystem auf die Familie übergreift.
Die vielleicht gravierendste Konsequenz ist die Verknüpfung von
Elternliebe, Leistung und Gegenleistung. Eltern, welche für ihre Kinder
maximale Dienstleister sind und alles für deren Erfolg tun, identifizieren sich
mit ihnen und sind enttäuscht, wenn die Leistungen nicht den Erwartungen
entsprechen. Und Kinder spüren wie Seismografen, dass sie vor allem dann etwas
wert sind, wenn die Noten stimmen. Sie sind überzeugt, dass Liebe und
Anerkennung der Eltern auf der guten Leistung beruht. Dies führt zu einem
Teufelskreis unglaublichen Ausmasses.
Die Überleisterkultur unseres Bildungssystems ist ausser Kontrolle
geraten. Dies dürfte so bleiben, ausser es gibt massive Veränderungen insofern,
als der fast ausschliesslich auf Noten ausgerichtete Beurteilungs-, Kontroll-
und Feedbackmonitor zugunsten überfachlicher Kompetenzen zurückgefahren wird –
so wie sie im Lehrplan 21 aufgelistet sind. Nur in dieser Balance entsteht Raum
für die kindliche Seele, damit sie wachsen kann. Erst dann wird ersichtlich,
wie viel überhaupt in einem Kind steckt. Das Paradoxe an einem solchen
Perspektivenwechsel ist, dass das fürsorgliche Wegschauen von Erwachsenen für
Kinder meist hilfreicher ist als das besorgte Diagnostizieren, Messen und
Bewerten. Kinder, die spüren, dass man sie und ihre Schul- und
Freizeitleistungen akribisch und sorgenvoll beobachtet, fühlen sich trotz
Förderung schnell überfordert.
Wer den vermessenden Blick einschränkt, dafür den jungen Menschen mehr
vertraut und ihnen mehr zutraut, fördert Selbstwertgefühl und
Selbstbewusstsein. Dann haben sie Wertvolleres in ihrem Rucksack als lediglich
durch Überleistung erworbene gute Schulnoten.
Margrit Stamm ist emeritierte
Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü.
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