17. Mai 2018

Überfördert und überfordert

Besonders fleissig und gute Noten – ein solches Kind ist der Traum mancher Eltern. Ist es zudem überdurchschnittlich intelligent, dann hat es beste Aussichten auf eine besonders erfolgreiche Bildungslaufbahn. Doch in vielen Fällen sind solche Kinder nicht hochbegabt, sondern Überleister. Überleister sind junge Menschen, die mehr leisten, als man von ihnen aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten erwartet.
Überfördert und überfordert, NZZ, 17.5. von Margrit Stamm


Überleistung gilt fälschlicherweise als erstrebenswert oder zumindest als harmlos. Doch ein Blick hinter die Fassade vieler asiatischer Familien verweist auf die damit verbundenen Probleme. In dieser Kultur wird der Wert des Kindes häufig an dessen Leistungsergebnissen bemessen, weshalb schlechte Schulleistungen als familiäre Schande gelten können. Folglich gibt es vor allem ein Ziel: Bestnoten – ungeachtet dessen, welche Anstrengung erforderlich und welche psychischen Beeinträchtigungen damit verbunden sind. Hierzulande ist die Situation nicht derart krass, aber der Trend ist unübersehbar. Kinder, die mehr leisten, als sie eigentlich in der Lage sind, gibt es viele. So geht ETH-Kollegin Elsbeth Stern davon aus, dass mindestens dreissig Prozent der Gymnasiasten Überleister sind, die eigentlich gar nicht ins Gymnasium gehören. Auch jenseits des Gymnasiums finden sich solche Kinder, etwa die Langsamlerner mit deutlichen Leistungsschwächen, deren Eltern aber mit allen Mitteln auf die Sekundarschule pochen. Bekannt sind Überleister auch in Sport und Musik. Hier ist der Wunsch besonders gross, aus einem normalen Kind ein aussergewöhnliches Kind zu machen. Die Freude am Spiel oder am künstlerischen Vergnügen ist out, Konkurrenz ist in.

Natürlich ist das Leistungsdenken etwas Wichtiges. Problematisch wird es jedoch dann, wenn es zum primären Ziel des Elternhauses wird. Doch Mama und Papa sind nicht einfach die überehrgeizigen Schuldigen – diese oft gehörte Anschuldigung ist zu simpel. Das Bildungssystem heizt die Überleisterkultur mächtig an und lässt Eltern neuerdings schon im Kindergarten in sie einspuren. Wenn die Kompetenzen von Fünfjährigen in mehrseitigen Fragebogen mit standardisierten Beurteilungspunkten klassifiziert und miteinander verglichen werden, ist es nachvollziehbar, dass sich Eltern für den Erfolg ihrer Kleinen verantwortlich fühlen und sich fortan noch mehr darauf konzentrieren, das Beste aus dem Kind herauszuholen.

Ein weiterer Verstärker der Überleisterkultur sind die Checks, die mittlerweile über die ganze obligatorische Schulzeit eingeführt werden und deren Ergebnisse sogar ins Abschlusszertifikat eingetragen werden sollen. Wer den Durchschnitt nicht erreicht, braucht folgerichtig Unterstützungsmassnahmen.

Gäbe es nicht die Lern- und Erziehungspsychologen, die permanente Nachhilfe und Lernstudios, ganz abgesehen von den elterlichen Rekursen als Ellbogenreaktionen, damit die Kinder vorwärtskommen, dann könnte der Nachwuchs die an ihn herangetragenen Leistungserwartungen gar nicht mehr stemmen. Diese Überleisterkultur ist höchst problematisch, weil aus ihr eine Lebenshaltung resultiert, die vom Bildungssystem auf die Familie übergreift.

Die vielleicht gravierendste Konsequenz ist die Verknüpfung von Elternliebe, Leistung und Gegenleistung. Eltern, welche für ihre Kinder maximale Dienstleister sind und alles für deren Erfolg tun, identifizieren sich mit ihnen und sind enttäuscht, wenn die Leistungen nicht den Erwartungen entsprechen. Und Kinder spüren wie Seismografen, dass sie vor allem dann etwas wert sind, wenn die Noten stimmen. Sie sind überzeugt, dass Liebe und Anerkennung der Eltern auf der guten Leistung beruht. Dies führt zu einem Teufelskreis unglaublichen Ausmasses.

Die Überleisterkultur unseres Bildungssystems ist ausser Kontrolle geraten. Dies dürfte so bleiben, ausser es gibt massive Veränderungen insofern, als der fast ausschliesslich auf Noten ausgerichtete Beurteilungs-, Kontroll- und Feedbackmonitor zugunsten überfachlicher Kompetenzen zurückgefahren wird – so wie sie im Lehrplan 21 aufgelistet sind. Nur in dieser Balance entsteht Raum für die kindliche Seele, damit sie wachsen kann. Erst dann wird ersichtlich, wie viel überhaupt in einem Kind steckt. Das Paradoxe an einem solchen Perspektivenwechsel ist, dass das fürsorgliche Wegschauen von Erwachsenen für Kinder meist hilfreicher ist als das besorgte Diagnostizieren, Messen und Bewerten. Kinder, die spüren, dass man sie und ihre Schul- und Freizeitleistungen akribisch und sorgenvoll beobachtet, fühlen sich trotz Förderung schnell überfordert.

Wer den vermessenden Blick einschränkt, dafür den jungen Menschen mehr vertraut und ihnen mehr zutraut, fördert Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Dann haben sie Wertvolleres in ihrem Rucksack als lediglich durch Überleistung erworbene gute Schulnoten.

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü.


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