6. Mai 2018

Protest wegen Aussagen zum Judenstempel

Wurde von Deutschland eingeführt: J-Stempel in einer deutschen Identitätskarte.
Hanna war gerade eben 13, als die Gestapo sie, ihre Schwester und die Eltern 1942 von Karlsruhe ins französische Lager Gurs deportierte. Später gelang ihr die Flucht in die Schweiz. Ihre Eltern sah sie nie mehr. Hannas Geschichte ist eine von vier, die im neuen Lehrmittel «Verfolgt und vertrieben» des Lehrmittelverlags Zürich beschrieben wird. Damit sollen bereits Schüler der vierten bis sechsten Klasse an das Thema Holocaust herangeführt werden.
Lehrmittel zum Holocaust muss angepasst werden, NZZaS, 6.5. von René Donzé


Zwar ist das im Lehrplan so nicht vorgeschrieben, doch wollten die Autoren den Lehrern etwas an die Hand geben, sollte das Thema aufkommen, schreibt der Verlag. Bewusst achteten die Autoren darauf, die Primarschüler «nicht mit den Greueln der nationalsozialistischen Todesmaschinerie» zu konfrontieren, wie sie schreiben. «Die Kinder werden – bildlich gesprochen – bis vor die Tore von Auschwitz geführt. Hineingehen müssen sie jedoch nicht», heisst es in der Einleitung zum Lehrmittel.

«Schweiz-Diffamierung»
Schockiert oder entsetzt reagieren nun nicht etwa Schulkinder, sondern Politiker, genauer der ehemalige SVP-Nationalrat und Verleger «Schweizerzeit», Ulrich Schlüer. In einem Artikel in seiner Zeitung und in einem Brief an sämtliche Bildungsdirektoren der Deutschschweiz spricht er von einer Diffamierung und Verunglimpfung der Schweiz durch das neue Lehrmittel.

Konkret kritisiert er, dass der Schweiz unterstellt werde, sie ­habe Nazi-Deutschland die Einführung des «J-Stempels» in den Pässen von jüdischen Frauen, Männern und Kindern vorgeschlagen. Schlüer spricht von einer wahrheitswidrigen Unterstellung. Damit wird eine Kontroverse um die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wieder entfacht, die in den neunziger Jahren heftig geführt wurde. Hier jene, die die hartherzige Haltung der Schweiz verurteilen, dort jene, die die Handlungen aus der Zeit heraus beurteilt sehen wollten. An der Frage um den ­«J-Stempel» rieben sich diese Fronten. Schon damals kämpfte auch Schlüers rechtskonservative «Schweizerzeit» zuvorderst mit.

Tatsächlich ist inzwischen belegt, dass der Stempelvorschlag 1938 von deutscher Seite eingebracht wurde – um zu verhindern, dass die Schweiz eine allgemeine Visumspflicht für Deutsche einführt. Die Schweiz wiederum suchte nach Möglichkeiten, die Einreise von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und dem annektierten Österreich zu stoppen. Dies, nachdem die Konferenz von Evian keine internationale Lösung in der Flüchtlingsfrage gebracht hatte, die Flüchtlinge also nicht mehr in andere Länder weiterreisen konnten.

Seiten werden ersetzt
Nun aber gibt es im neuen Lehrmittel eine Aufgabe, in der die Schüler erklären müssen, «warum die Schweiz den Vorschlag des J-Stempels machte». Ferner sollten sie diesen «Entscheid» beurteilen. Der Autor des Werks, Christian Mathis, sagt auf Anfrage: «Das ist unglücklich und nicht ganz zutreffend formuliert.» Allerdings sei erwiesen, dass der Druck von der Schweiz ausging, die Pässe «deutscher Nicht-Arier» zu kennzeichnen.

Der Verlag ist nun nochmals über die Bücher gegangen und will das Lehrmittel anpassen: «In Abstimmung mit den Autoren wird der Verlag in jedem Ordner die fragliche Formulierung austauschen, sowohl bei den Exemplaren an Lager als auch bei den bereits ausgelieferten», sagt Verlagsleiter Beat Schaller.

Damit sieht Schlüer seine Hauptforderung erfüllt. Allerdings müsste das «grundsätzlich gut gemachte Lehrmittel» auch generell etwas pfleglicher mit dem Verhalten der Schweiz in der damaligen Zeit umgehen, findet er. Man müsse auch berücksichtigen, in welch gefährlicher und schwierigen Lage sich das Land damals befunden habe.

Author Christian Mathis weist den Vorwurf einer Diffamierung zurück. «Der positive Aspekt der humanitären Schweiz wird in unserem Lehrmittel sehr stark hervorgehoben», sagt er. So wurden alle vier porträtierten Flüchtlingskinder in der Schweiz aufgenommen. «Es gibt keine Geschichten von abgewiesenen und ermordeten Kindern», sagt Mathis. Hanna genoss eine Ausbildung, liess sich einbürgern, heiratete und hatte drei Kinder.


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