1. Mai 2018

Chancengerechtigkeit als Illusion

7570 Zürcher Schülerinnen und Schüler haben in den vergangenen Wochen mit Herzklopfen den Briefkasten geöffnet, um zu erfahren, ob sie die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden haben. Nicht einmal die Hälfte konnte den Satzbeginn «Wir freuen uns, . . .» lesen. Rund 55 Prozent schaffen den Übertritt nicht, die Prüfung ist ein Nadelöhr. Nicht wenige der Erfolgreichen dürften im Vorfeld gemeinsam mit ihren Eltern Französischvokabeln und Grammatikregeln gebüffelt oder private Vorbereitungskurse besucht haben. Jahr um Jahr kreist deshalb dieselbe Frage über Stamm-, Familien- und Redaktionstischen: Ist der Eintritt in die höhere Bildung von Herkunft und Finanzkraft der Eltern bestimmt?
Zugang zum Gymnasium: Die Chancengerechtigkeit ist eine Illusion, NZZ, 28.4. von Lena Schenkel


Die unangenehme Antwort lautet: Ja. Kinder aus deutschsprachigen, bildungsnahen, gutsituierten Haushalten haben einen immensen Startvorteil für den Gang ans Gymnasium. Aufnahme- und Maturitätsquoten sind im Kanton Zürich dort am höchsten, wo der Sozialindex am tiefsten ist. Schülerinnen und Schüler aus gebildetem Elternhaus haben in der Schweiz eine viermal höhere Chance auf einen Hochschulabschluss.
Ob diese von Hause aus intelligenter sind, ist fraglich. Während Akademiker ihre Kinder jedoch mitunter regelrecht ans Gymnasium stossen, treten bildungsferne Eltern gerne auf die Bremse. Jahr für Jahr melden sich Schüler zur Gymiprüfung an, die es besser bleiben liessen – und solche, die geeignet wären, bleiben ihr fern oder starten mit schlechteren Voraussetzungen, weil ihnen das zusätzliche Testdoping fehlt. Das Resultat: Zu viele landen am Gymnasium, die dort nicht hingehören.

Scheitern an der Quotenhürde

Angesichts des Fachkräftemangels in der Schweiz ist es ein wirtschaftliches Desaster, wenn kluge Köpfe dem universitären Bildungssystem verloren gehen. Darin sind sich alle einig – nicht aber darin, wie Chancengerechtigkeit erreicht werden kann. Ein immer wieder diskutierter Ansatz sind flächendeckende und kostenlose Gymiprüfungs-Vorbereitungskurse an den Volksschulen. Der Zürcher Kantonsrat lehnte solche 2016 aber mit gutem Grund ab.
Förderprogramme für weniger Privilegierte, wie das Zürcher Projekt «Future Kids», bei dem Mentoren Primarschüler aus bildungsfernen Familien in schulischen Belangen unterstützen, wären da schon zielführender. Dasselbe gilt für das Projekt «Chagall» des Zürcher Privatgymnasiums Unterstrass, das begabte und motivierte Migranten aus bescheidenen Verhältnissen unentgeltlich auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet. Trotz derartigen Bemühungen bleibt das Ideal jedoch unerreicht, wonach Gymnasiasten entsprechend ihrer Begabung ausgewählt werden und die Bevölkerung einigermassen angemessen abbilden. Kinder, die Deutsch erst als zweite Sprache gelernt haben, sind an den Gymnasien deutlich, Knaben leicht untervertreten.

Mitschuldig daran dürfte die Aufnahmeprüfung sein: Gute Deutschkenntnisse helfen hier, die in Worten formulierten Mathematikaufgaben zu verstehen. Eine Möglichkeit wäre nun, die Prüfung ganz fallenzulassen, um das Ergebnis weniger von der Tagesform oder einem gezielten «teaching to the test» abhängig zu machen. Vor allem Innerschweizer Kantone machen gute Erfahrungen mit Lehrerempfehlungen. In Kantonen, wo der Andrang derart stark ist wie in Zürich, kämen dann allerdings die Volksschullehrer massiv unter Druck, und die Zahl der Gymnasiasten stiege. Die Aufnahme mittels Prüfungs- und Vornoten bleibt da die effizientere, zuverlässigere und objektivere Variante – auch wenn die Hälfte der Prüflinge an der Quotenhürde scheitert.

Die Mittelschulen betonen, ihren Nachwuchs nach qualitativen, nicht nach quantitativen Kriterien auszuwählen. Indirekt steuert die Politik die verfügbaren Plätze aber über die Finanzen. Die Gymnasien kommen nicht umhin, die Aufnahmeprozedur so anzupassen, dass schliesslich nur die politisch gewünschte Zahl Prüflinge besteht. Für jene, die von den hinteren Plätzen aus starten, ist diese Platzknappheit indes problematisch: Sie landen eher zwischen als auf den Stühlen. Ein Trost kann ihnen sein, dass im Kanton Zürich die Bildungsdirektorin kürzlich erklärte, die Quote der Berufsmaturanden von derzeit 15 Prozent auf das Niveau der gymnasialen Maturitätsquote von 20 Prozent anheben zu wollen. Weshalb das Nadelöhr dann nicht gleich zur Tür gemacht werde, fragen deshalb insbesondere ausländische Akademikereltern, die in ihrer Heimat bis zu doppelt so hohe Quoten kennen.

Aber die gymnasiale Schweizer Maturität ist eben nicht bloss Attest einer breiten Allgemeinbildung, die alle Türen offen hält: Sie ist in erster Linie das Eintrittsbillett für die Universität. Sie sichert den Maturanden einen prüfungsfreien Zugang an die Hochschule – mit Ausnahme der medizinischen Fakultät. Das soll auch so bleiben. Mehr Gymnasiasten hiesse zudem weniger leistungsstarke Lehrlinge, was für den Fachkräftemangel in technischen Berufen und die gesteigerten Anforderungen im Arbeitsmarkt – Stichwort Digitalisierung – fatal wäre. Eine faktisch fixierte gymnasiale Maturitätsquote bedeutet freilich nicht, dass ihr Prozentsatz in Stein gemeisselt sein muss. Zu denken gibt, dass diese je nach Kanton stark variiert: Am höchsten ist sie in der Romandie und im Tessin, am tiefsten in der Ostschweiz. Geografische und historische Gründe mögen diese Unterschiede erklären – gerecht ist es nicht, wenn Jugendliche in der Waadt leichter zu einem Ausweis für die universitäre Zulassung kommen als ihre Altersgenossen in St. Gallen. Dass es nicht alle ans Gymnasium schaffen, ist aber nicht per se ungerecht.

Experten werden nicht müde zu betonen, wie durchlässig das Schweizer Bildungssystem sei. In Realität aber bleibt diese vielbeschworene Bildungsmobilität oft genug Theorie. Das liegt nicht allein am Elternhaus, sondern auch am Schulsystem, konkret an der frühen Selektion: Zürcher Schüler etwa landen bereits nach der sechsten Klasse in den Schubladen Sek A, B, C oder Langgymnasium. Untersuchungen von Bildungsverläufen zeigen, dass für die meisten damit die Weichen schon gestellt sind. Kein Wunder also, wird das Langgymnasium in Zürich immer beliebter. Tatsächlich scheint der Zeitpunkt für die Selektion in der Primarschule reichlich früh. Kaum jemand vermag die mittelfristige Entwicklung und damit auch das schulische Potenzial eines zwölfjährigen Kindes einzuschätzen, das die Schwelle der Pubertät gerade erst oder noch nicht einmal erreicht hat – geschweige denn diese selbst. Vor allem Knaben hätten zu diesem Zeitpunkt einen «genetischen» Nachteil im Selektionsprozess, sagen Lehrer hinter vorgehaltener Hand.

Später ans Gymnasium

Die wirksamste und einfachste Methode, um zumindest den Zugang zur gymnasialen Bildung gerechter zu gestalten, wäre eine Abschaffung des Langgymnasiums. Damit würde man jenen wissbegierigen, sprachaffinen Schülern jedoch keinen Gefallen tun, die ihre akademische Karriere hier optimal anbahnen können. Indem man den Begabtesten die angemessene Förderung entzöge, würde man einfach eine neue Ungerechtigkeit schaffen. Dieser Preis wäre zu hoch.

Nachvollziehbar ist hingegen, dass die Zürcher Regierung eine «spätere und stärker leistungsbezogene Aufnahme ans Gymnasium» wünscht. Dass gleich 60 Prozent der Gymnasiasten eine akademische Frühförderung benötigen, darf tatsächlich bezweifelt werden. Und der massenhafte Ansturm aufs Langgymnasium schafft Probleme auch in der Sekundarschule: Statt dass dort stärkere Schüler schwächere mitziehen und diese weiterhin in einen heterogenen Klassenverbund integriert sind, werden die Kinder in einer entscheidenden Entwicklungsphase getrennt. Die Ungleichheit ihrer Startvoraussetzungen wird sich zwar auch bei einem späteren Gang ans Gymnasium nicht vollständig ausmerzen lassen, aber zumindest der Startschuss sollte für möglichst viele zum selben Zeitpunkt fallen. Denn wenn die Mehrheit der besten Köpfe nach der sechsten Klasse abwandert, schwächt dies nicht nur die Sekundarschule insgesamt, sondern auch deren Schulkameraden, die erst nach der zweiten oder der dritten Sekundarklasse ans Kurzgymnasium wechseln.


An welchem Rädchen man letztlich auch dreht – ob an der Prüfung, der Quote oder dem Schulmodell: Gefragt sind in erster Linie die Wächter der gymnasialen Tore. Das sind die Lehrer, die sich mit ihren Kollegen austauschen, um zu verhindern, dass soziale Stereotype ihre Beurteilung unbewusst beeinflussen. Wie jener Sekundarlehrer, der ein afghanisches Flüchtlingsmädchen mit auffallenden mathematischen Fähigkeiten fürs «Chagall»-Programm vorschlug. Aber auch die Eltern sind gefordert. Sie müssen sich mitunter auch einmal eingestehen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter im Kurzgymnasium oder in einer Berufslehre besser aufgehoben wäre. Lehrer und Eltern zusammen sind es, die verborgene Potenziale zur Entfaltung bringen können, ohne den Einzelnen zu überfordern.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen