Vom Selfie zum Selbstmord kommt der Professor an diesem Abend in
weniger als einer Minute. Er steht auf der Bühne einer deutschen Buchhandlung
und blinzelt ins Scheinwerferlicht. «In Amerika hat sich die Suizidrate von
Mädchen in nur sieben Jahren verdoppelt.» Der Professor blickt in die entsetzten
Gesichter in den ersten Reihen. Egal vor wem er spricht, dieser Vergleich zieht
immer: je mehr Facebook und Instagram, desto mehr tote Jugendliche. «Und Sie
wissen ja», er holt Luft. «Was in den USA passiert, haben wir zehn, fünfzehn
Jahre später auch hier.»
Über einen, der aus Ängsten Geld macht, Tages Anzeiger, 9.5. von Jan Stremmel
Die Lesung von Manfred Spitzer, 59, Chefarzt, Hirnforscher und
so erfolgreicher wie umstrittener Sachbuchautor, ist seit Wochen ausverkauft.
Schon zwanzig Minuten vor Einlass warten zwei Dutzend Fans vor der Tür. Es sind
freundliche Damen und Herren um die 60, drei pensionierte Lehrerinnen tragen
das neue Buch des Professors unter dem Arm. Es heisst «Einsamkeit, die
unerkannte Krankheit». Und diese Krankheit, verrät das Cover, sei «schmerzhaft,
ansteckend, tödlich».»
Wenn künftige Generationen einmal wissen wollen, wovor die
Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts besonders viel Angst hatten, sind Spitzers
Bücher die ideale Forschungsgrundlage. Man kann sie lesen wie eine Fieberkurve
der Gesellschaft. Mitte der Nullerjahre schrieb er «Vorsicht Bildschirm!».
Darin rechnete er vor, dass die Nebenwirkungen von Fernsehern und Computern
schon bald jährlich 40'000 Menschen umbringen würden. Es folgten die Bestseller
«Digitale Demenz» und «Cyberkrank!». Dort schrieb Spitzer der Nutzung von
Videospielen, sozialen Netzwerken und Smartphones ebenso apokalyptische Folgen
zu.
Angesehene Forscher nennen die Bücher «unseriös» und
«irreführend», trotzdem gehören sie zu den erfolgreichsten auf dem Buchmarkt:
Allein «Digitale Demenz» hat sich mehr als 270'000 Mal verkauft. In diesem Jahr
ist die Einsamkeit dran, ein grosses Thema der Gegenwart. Oder, wie Spitzer
schon im Klappentext verrät: «die Todesursache Nummer eins».
Typische Spitzer-Sätze
Wer ist dieser Mann, der mit Sorgenfalten auf der Stirn durch
die Talkshows tourt, den andere, sonst um Sachlichkeit bemühte Professoren als
«Sarrazin der Computerkritik» bezeichnen? Woher stammt Spitzers Gespür für
gesellschaftliche Ängste? Und warum ist er so erfolgreich?
Manfred Spitzer ist Chefarzt einer kleinen psychiatrischen
Uniklinik in Ulm. In seinem Besprechungszimmer mit Blick über die Stadt steht
ein Gehirn aus grauem Stein, gross wie ein Fussball, gehalten von zwei
steinernen Händen. Spitzer lässt sich gern damit fotografieren. In dem Zimmer
findet das erste Interview statt, im Januar 2017. Ein Fernsehteam filmt, und
während die Kamera läuft, läuft auch Spitzers Charme auf Hochtouren.
Er redet leidenschaftlich, rattert Zahlen aus dem Kopf herunter.
Wer als Journalist gelegentlich mit Wissenschaftlern zu tun hat, mag Spitzer
sofort: ein knalliger O-Ton nach dem anderen, kein Zögern, kein Abwägen, kein
«So eindeutig kann man das nicht sagen». Im Gegenteil. Tablet-Computer für
Kinder? «Wie Zigaretten!» Medienkompetenz als Unterrichtsfach? «Wir
unterrichten doch im Kindergarten auch keine Alkoholkompetenz!»
Ein typischer Spitzer-Satz, aus einem seiner Bestseller, geht
so: «Meiden Sie digitale Medien. Sie machen (...) tatsächlich dick, dumm,
aggressiv, einsam, krank und unglücklich.»
Einen typischen Spitzer-Satz erkennt man auch daran, dass man
sich selbst möglicherweise beim Nicken ertappt. Spitzer-Sätze klingen logisch,
decken sich mit dem gesunden Menschenverstand. Und sie berühren ein Unwohlsein,
das fast jeder Erwachsene kennt, der hin und wieder mit Jugendlichen zu tun
hat. Smartphones machen süchtig? Bestimmt. Computerspiele dumm? Klingt
vernünftig. Soziale Medien neidisch und traurig? Vermutlich ja.
«Das lernen unsere Studis im ersten Semester»
In Wahrheit ist die Sache keineswegs so eindeutig. Spitzers
Thesen sind wissenschaftlich mindestens umstritten, oft interpretiert er Zahlen
einfach so, wie es ihm passt. Aber die Warnung vor dem digitalen Weltuntergang
holt sein Publikum genau da ab, wo es steht: ratlos und etwas verängstigt vor
einer Entwicklung, die es nicht mehr ganz begreift. Ein grosser Teil von
Spitzers Erfolg erklärt sich also schlicht so: Ihm zu glauben ist leichter, als
ihm nicht zu glauben.
Auch Markus Appel, Professor für Medienkommunikation in
Würzburg, war beeindruckt. Zumindest auf den ersten Blick. Vor einigen Jahren,
Spitzer hatte gerade «Digitale Demenz» veröffentlicht, sah Appel ihn in einer
Talkshow. «Ich dachte, erstaunlich, was er da sagt. Diese Radikalität, diese
Rhetorik.» Nur: Appel hatte die Studienergebnisse, die Spitzer im Fernsehen
zitierte, ganz anders in Erinnerung. Er besorgte sich Spitzers Buch und begann
es gemeinsam mit einer Kollegin zu überprüfen. Satz für Satz, Fussnote für
Fussnote.
Anfang 2014 veröffentlichten der Medienprofessor und seine
Kollegin Constanze Schreiner ihren zehnseitigen Befund in der «Psychologischen
Rundschau». Eine Ohrfeige für Spitzer: Nach Abgleich mit Dutzenden
Meta-Analysen fänden sich «keine Belege» für die meisten von Spitzers Thesen.
Sie werden in dem Papier «Mythen» genannt. Spitzer habe sich einzelne
Ergebnisse herausgepickt, die zu seinen Thesen passten, und alles andere
ignoriert. «Dieses schiefe Bild garniert er mit ein bisschen Hirnforschung, was
natürlich viele Leute überzeugt», sagt Appel. «Nur mit guter Wissenschaft hat
das wenig zu tun.»
Wer Spitzer mit diesen Argumenten konfrontiert, kann sich auf
einen gepfefferten Gegenangriff einstellen. Kritik an seinen Thesen sieht er
als persönlichen Affront. Journalisten und Medienwissenschaftlern, er nennt sie
«Medienfuzzis», unterstellt er, nur zu berichten, «was die Linie ist». Lieber
gibt er ein knapp zweistündiges Interview auf einem Youtube-Kanal, der sich
sonst mit Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 beschäftigt.
Gern gesehener Gast in Talkshows: Manfred
Spitzer.
Nach seiner Lesung sitzt Spitzer in der Teeküche der
Buchhandlung und ist ausser sich. Der Reporter hat ein Wort benutzt, auf das
der Professor allergisch ist. «Alarmistisch?!», platzt es aus ihm heraus. «Ist
es für Sie vielleicht auch alarmistisch, wenn jemand vor dem Klimawandel
warnt?! Herrgott, das ist so!» Er knallt sein Macbook auf den Tisch. Er klappt
es auf und klickt sich durch ellenlange Powerpoint-Präsentationen. Schliesslich
bleibt er bei einer Grafik stehen. Viele Punkte in einem Koordinatensystem.
Eine Achse zeigt die Entwicklung der Leseleistung von Schülern auf der ganzen
Welt. Die andere Achse die Investitionen in Schulcomputer im jeweiligen Land.
Manfred Spitzer schiebt jetzt ungeduldig den Laptop rüber. «Je mehr investiert
wurde, desto schlechter wurden die Schüler. Wollen Sie’s nicht kapieren, oder
was ist mit Ihnen?»
Genau hier, sagen Fachleute, liegt das Hauptproblem von Spitzers
Argumentation. Er interpretiert Korrelation kausal. «Das lernen unsere Studis
im ersten Semester», sagt Peter Vorderer, Professor für Medienwissenschaft an
der Universität Mannheim, und klingt am Telefon fast belustigt. «Ein Beispiel:
Im Frühjahr sehen Sie in Deutschland mehr Klapperstörche. Gleichzeitig kommen
mehr Kinder auf die Welt.» Wenn man wie Manfred Spitzer argumentiert, würden
also die Störche die Kinder bringen.
Später, nach dem Interview, liest man die Studie genau durch.
Direkt unter der Grafik stellen die Autoren klar, dass es sich um Korrelation
handele. Nicht um Kausalität. Sprich: Es ist unklar, ob Schüler schlechter
lesen, weil sie mehr Computer nutzen. Oder mehr Computer nutzen, weil sie
schlechter lesen. Oder ob, das ist am wahrscheinlichsten, ein ganz anderer
Grund vorliegt. Das mache es schwer, resümieren die Autoren, Richtlinien für
die Politik daraus abzuleiten. Spitzer tut es trotzdem.
Dabei gibt es Situationen, in denen der Professor gern auf
Gegenargumente eingeht: wenn er auf einer Bühne steht und keine Widerrede
befürchten muss. «Aber Mannnfred», äfft er seine Kritiker nach. «Mannnfred, das
kann man doch so nicht sagen! Es gibt doch gar keine Langzeitstudie, die
belegt, ob ein iPad ein Baby wirklich dumm macht!» In der Buchhandlung
schütteln zwei ältere Frauen in der vierten Reihe grinsend den Kopf. «Na ja,
was soll ich sagen?», Spitzer guckt hilflos ins Publikum. «Ich brauch ja auch
keine Doppelblindstudie, um zu wissen, dass ein Fallschirm lebensrettend ist,
wenn ich aus dem Flugzeug springe!» Grosses Gelächter. Es ist eine merkwürdige
Rolle für einen Wissenschaftler, aber es ist die, in der Spitzer sich offenbar
am wohlsten fühlt: der Klartext-Professor, der den engstirnigen Eierköpfen
vorhält, was der gesunde Menschenverstand doch eh weiss.
Spitzers Wutausbruch
Spitzer ist ein profilierter Mediziner. Schon mit 31 wurde er
habilitiert, er war Gastprofessor in Harvard, sein jüngster wissenschaftlicher
Aufsatz befasst sich mit der Hirnaktivität bei Patienten mit
Borderline-Syndrom. Er ist zweifellos ein namhafter Psychiater. Aber in seinen
Bestsellern schreibt Spitzer über die Wirkung von Medien. Und darin, sagen
Fachleute, ist er objektiv gesehen nicht mehr als ein interessierter Laie mit
starker Meinung.
«Er schreibt ständig», sagt einer seiner Freunde, der Arzt und
Psychologe Wulf Bertram. «Und zwar mit einer Geschwindigkeit, die atemberaubend
ist.» Bertram beschreibt Spitzer als eine Art Universalinteressierten, der
«Dinge wahnsinnig schnell aufschnappt und sich darin vertieft.» Spitzer spielt
Schlagzeug, Saxofon, Gitarre und Klavier, sein Studium hat er sich als
Alleinunterhalter finanziert. Die Anerkennung in der akademischen Welt, sagt
Bertram, interessiere Spitzer nur am Rande. Viel lieber trete er mit der
breiten Öffentlichkeit in Kontakt. «Ein gewisser Wunsch, gesehen zu werden und
zu performen, ist wie bei vielen Bestsellerautoren natürlich auch dabei.»
Anfang der Nullerjahre füllt Spitzer auf Lesereisen die ersten
Hallen. Damals verkündet der Hirnforscher «die frohe Botschaft einer neuen
pädagogischen Bibel». Die freundliche These seiner Bücher: Lernen muss Spass
machen. Als er ein paar Jahre später das erste Buch über die schädliche Wirkung
von Bildschirmen auf Kinder schreibt, hat er sein Thema gefunden. Das Warnen
vor den Risiken der digitalen Welt sehe Spitzer seither als seine
«humanistische Mission», sagt Bertram.
Und es scheint, als mache Kritik den Professor nur noch
verbissener. Ein paar Tage nach seinem Wutausbruch in der Teeküche kommt eine
erboste Mail: keine weiteren Treffen. Fortan muss der Reporter Spitzer
begleiten, ohne eingeladen zu sein.
Eine der Hauptthesen in Spitzers Buch lautet: Die Gesellschaft
werde immer narzisstischer. Er belegt diese Behauptung, indem er eine Studie
zitiert, die mithilfe von Google in Hunderttausenden amerikanischen Büchern
häufiger das Wort «ich» und seltener das Wort «wir» gefunden hat als vor 50
Jahren. Andere Erklärungen, die man für dieses Phänomen vorbringen könnte,
nennt er nicht. Man findet in seinen Büchern zahllose ähnliche Beispiele.
Ein Dienstagvormittag in München. Spitzer sitzt in der zweiten
Reihe eines vollen Auditoriums und macht sich Notizen. Gleich geht sein Vortrag
los. Waberndes blaues Licht, Technomusik. Es findet ein Kongress für Marketing
statt. Knapp vierhundert Menschen in gut geschnittenen Anzügen sitzen im Saal,
jeder hat 780 Euro für den Tag bezahlt. Wenn Spitzers Warnung von den
gefährlichen Bildschirmen aus dem Jahr 2005 zuträfe – die Leute hier, viele um
die 30, müssten fettleibig, depressiv oder dement sein.
Man habe Professor Spitzer eingeladen, weil er polarisiere,
erklärt der Veranstalter begeistert. «Wissenschaft ist ja sonst oft ein
bisschen trocken.» Spitzer, der Warner vor der digitalen Apokalypse, ist längst
fester Teil der deutschen Vortragsbranche. Auch an diesem Tag enttäuscht er
nicht. Der Vortrag ist ein saftiges Medley der schlimmsten Gefahren der
vernetzten Welt: Fake News, Wahlmanipulation, steigende Selbstmordraten.
Spitzer schliesst die Rede mit einem Seitenhieb auf die «Qualitätspresse», die
ihn, Spitzer, ständig zu Unrecht als «Angstmacher» abstemple.
Spitzer und Google
Wie sich Spitzer eine faire Berichterstattung vorstellt, kann
man in der Fachzeitschrift «Nervenheilkunde» nachlesen. Spitzer ist seit vielen
Jahren Herausgeber des Blattes. In jeder Ausgabe schreibt der Professor
persönlich das Vorwort. Im Wirbel um «Digitale Demenz» vor einigen Jahren
beschwerte er sich dort über die Medien. Ein ARD-Beitrag über ihn sei ein
«Lehrstück für den Umgang öffentlich-rechtlicher Medien mit unbequemer Kritik».
Das gehässige Fazit des Films, das er in seiner Zeitschrift
zitiert, fällt in dem im Netz abrufbaren Beitrag aber gar nicht. Dafür erwähnt
Spitzer gleich im ersten Absatz, die erste Auflage seines Buchs sei «nach dem
Erscheinungstag vergriffen» gewesen. Der Verlag Droemer Knaur teilt auf Anfrage
mit: Es dauerte neun Tage.
Manfred Spitzer scheint Fakten nur noch als wabernden
Hintergrund für die Präsentation seiner Wahrheit zu brauchen. Ganz genau sollen
es bitte nur seine Gegner nehmen. In Ausgabe 1/2018 der «Nervenheilkunde» malt
er im Vorwort mal wieder ein Schreckensbild: Zu den «Nebenwirkungen von
Smartphones» gehörten demnach Suizidalität, Geschlechtskrankheiten und sogar
die Gefährdung der Demokratie.
Der Professor endet mit einer Empfehlung an die geneigten Leser:
«Wer mir nicht glaubt, (...) kann – und sollte sowieso – alles selbst googeln,
denn im Bereich der Wissenschaft geht es nicht darum, etwas zu glauben, sondern
darum, etwas begründet zu wissen.»
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