15. April 2018

"Tagesschulen sollten gratis sein"

Kinder müssen auch ausserhalb der Schulstunden gefördert werden, fordert die Erziehungswissenschafterin Marianne Schüpbach.
Wir brauchen Tagesschulen, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, NZZaS, 15.4. von Regula Freuler


NZZ am Sonntag: Frau Schüpbach, was gehört zu einer guten Tagesschule?
Marianne Schüpbach: Klar definierte pädagogische Zielsetzungen. Eine gute Tagesschule ist ein Bildungsangebot, wo die Kinder im Aufbau von sozialen Kompetenzen unterstützt und ihre Selbständigkeit gefördert werden. Dazu kommen individuelle Fördermöglichkeiten, etwa im sprachlichen, im mathematischen oder im naturkundlichen Bereich.

Also eine Erweiterung des Schulunterrichts?
Bildung kann weit mehr sein, als was im Unterricht stattfindet! In der Tagesschule geht es darum, dass die Kinder ausserhalb des Unterrichts eine sinnvolle und anregende Umgebung vorfinden. Auf der Primarstufe können das sehr spielerische Formen sein. An der idealen Tagesschule, wenn wir sie so nennen wollen, gibt es Arbeitsgruppen. Aus der amerikanischen Forschung weiss man, dass solche Arbeitsgruppen oder Programme dann besonders wirksam sind, wenn konkret und zielgerichtet an einem Thema über längere Zeit gearbeitet wird.

Können Sie ein Beispiel geben?
In einer bayrischen Tagesschule wird im Sommer ein neues Angebot eingeführt: Die Kinder begeben sich jeweils einmal in der Woche an einem Nachmittag gemeinsam auf eine «Reise». Die einzelnen Stationen auf dieser Reise symbolisieren Themen wie «Gefühlslandschaft» oder «Friedenstal», wo man Streitsituationen und Konflikte löst. Begleitend gibt es Materialien wie einen Routenplaner oder ein Reiselied, das an jeder Station um eine passende Strophe wächst. So sollen die Kinder ihre sozialen Kompetenzen verbessern. Wir begleiten das Projekt mit einer Interventionsstudie.

Wie sieht es mit der Hausaufgabenbetreuung aus?
Auch das gehört dazu.

Sollten die zusätzlichen Angebote freiwillig oder verpflichtend sein?
Die vorliegenden empirischen Studien zeigen keinen Vorteil eines gebundenen, obligatorischen Modells gegenüber einem offenen, freiwilligen. Aus pädagogischer Perspektive und aufgrund von theoretischen Überlegungen bietet das gebundene Modell allerdings mehr Möglichkeiten. Man kann dann eine Zeitstruktur für alle Kinder schaffen und den ganzen Schultag mit Unterricht und Bildungs- und Freizeitaktivitäten rhythmisieren. Wichtiger als das Modell ist jedoch die pädagogische Qualität dieser Angebote und Aktivitäten.

Wie erreicht man eine solche Qualität?
Es würde zu kurz greifen, die Verantwortung dafür allein dem Betreuungspersonal zuzuschieben. Der Ausbau der Schule über den Unterricht hinaus ist eine neuere Entwicklung, und ob sie gelingt oder nicht, hängt davon ab, wie das Ganze aufgegleist wird. Hier ist noch sehr vieles offen.

In der Schweiz wird über zu viel Leistungsdruck an Schulen geklagt. Sollte man das Freispiel nicht verteidigen, statt mit zusätzlichen Aktivitäten einzuschränken?
Wir würden unser Bildungspotenzial verschenken, wenn wir Tagesschulen frei von Aktivitäten halten würden. In anderen Ländern wie den USA, Südkorea oder Japan ist die ausserunterrichtliche Betreuung ganz klar als Bildungsangebot konstituiert. In unserem Nachbarland Deutschland verfolgt sie das Ziel von mehr Chancengleichheit. Es geht, wie gesagt, nicht um Zusatzunterricht. Man muss diese Betreuungszeit pädagogisch neu denken.

In der Schweiz sind 43 Prozent des Betreuungspersonals nicht spezifisch ausgebildet. Ausgebaut wird der Anteil der Fachangestellten Betreuung, die eine dreijährige Lehre machen. Reicht das, um die geforderte Qualität zu erreichen?
Die Professionalisierung ist essenziell, keine Frage. Das Personal muss eine pädagogische Ausbildung mitbringen. Wie es in Schweden gemacht wird, finde ich vorbildlich. Da gibt es kein ungelerntes Personal mehr an Tagesschulen. Lehr- und Betreuungspersonen machen einen Bachelor an der Universität und besuchen gemeinsame Lehrveranstaltungen. Danach gibt es eine Spezialisierung für jene, die unterrichten wollen. Man entwickelt auf diese Weise ein gemeinsames Bildungsverständnis.

Inwiefern ist das wichtig für die Qualität?
Das ist nicht nur eine gute Grundlage für die Betreuungsarbeit selbst, sondern genauso für die Zusammenarbeit. Wie die Kooperation zwischen unterrichtendem und betreuendem Personal läuft, ist ein ganz wichtiger Qualitätsfaktor. Oft scheitern Tagesschulen daran, dass die Betreuerinnen und Betreuer nicht dasselbe Standing und nicht dasselbe Renommee haben wie die Lehrpersonen. Auch beim Lohn gibt es massive Unterschiede.

Sie haben zwischen 2006 und 2017 zwei Studien zum Nutzen von Tagesschulen in der Schweiz durchgeführt und sind zu gegenteiligen Ergebnissen gekommen: Bei der ersten Studien zeigte sich ein Lerneffekt, bei der zweiten nicht. Warum?
Die Studien waren unterschiedlich konzipiert und verglichen unterschiedliche Modelle. Ausserdem war der Längsschnitt unterschiedlich lang: bei der ersten Studie drei Jahre, bei der zweiten etwas mehr als ein Jahr. Man weiss jedoch von anderen Untersuchungen, dass sich ein Effekt erst nach einer gewissen Dauer und bei intensiver Nutzung einstellt, die über das Mittagessen hinausgeht.

Ihre Untersuchungen zeigen, dass die Ansprüche, die gegenwärtig an Tagesschulen gestellt werden, sehr unterschiedlich sind. Sind sie generell zu hoch?
Im Gegenteil, sie sind zu wenig hoch! Und das ist nicht etwa meine persönliche Meinung, sondern wir haben dies untersucht. Wir haben die Eltern befragt. Diese erhoffen sich in erster Linie mehr zeitlichen Freiraum, um arbeiten gehen zu können, sowie bessere soziale Kontakte und die Förderung der Selbständigkeit ihrer Kinder. Schon das Beaufsichtigen der Hausaufgaben ist für die meisten Eltern weniger bedeutend. Geht es um die individuelle Förderung oder bessere Leistungen ihrer Kinder, nehmen die elterlichen Ansprüche rasant ab. Sie könnten jedoch auch nicht viel mehr verlangen, so wie die gegenwärtige Ausstattung der Betreuung an vielen Orten angelegt ist. Hier besteht ein grosses Potenzial. Es gibt jedoch positive Ausnahmen, das soll hier auch gesagt werden.

Sie fordern mehr Betreuungspersonal. Hier stösst man aber an politische Grenzen. Lässt sich das Tagesschulen-Konzept wie etwa jenes von Zürich trotzdem erfolgreich umsetzen?
Nicht, ohne Geld in die Hand zu nehmen. Das sollte man aber dringend tun, um eine gute pädagogische Qualität zu erzielen. Beim Schulunterricht sind sich ja auch alle einig, dass es eine gute Qualität braucht und dass diese etwas kostet. Konkret braucht es Investitionen in die Aus- und Weiterbildung des Personals und in mehr Personal. Bei der Finanzierung ist ein Umdenken nötig: Ausser vielleicht das Mittagessen sollte das Angebot Tagesschule für die Familien gratis sein, wenn man damit auch mehr Chancengleichheit erzielen möchte.


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