12. April 2018

Largo rechnet mit dem Fremdsprachenunterricht ab

Remo Largo, der 74-jährige Entwicklungsforscher und Autor von Bestsellern wie «Babyjahre» und «Das passende Leben»,wird am Donnerstag in Chur über das Wesen des Kindes und die Ansprüche der Gesellschaft sprechen. Dies tut er im Rahmen der Veranstaltung «Wer bestimmt den Lernerfolg? Kind. Schule. Gesellschaft» des Vereins Kulturkanton Graubünden. Im folgenden Interview äussert sich Largo zur Initiative «Nur eine Fremdsprache in der Primarschule». Diese wurde dem Stimmvolk kürzlich von der Bündner Regierung ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen. Käme es zu einer Annahme, würde in den romanischund italienischsprachigen Regionen nur noch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Englisch stünde in Deutschbünden auf dem Stundenplan. 
"Schickt die Kinder lieber in ein Ferienlager im Misox", Südostschweiz, 10.4. von Madleina Barandun

Remo Largo, was halten Sie davon, dass man in der Primarschule statt zwei nur noch eine Fremdsprache lernen soll, wie dies die Fremdspracheninitiative will? 
REMO LARGO: Wissen Sie, der Widerstand gegen die Fremdsprachen kommt überall immer wieder hoch, derzeit auch in Basel. Hier geht es um zwei Grundprobleme in unserem Bildungswesen. Ein Problem ist, dass man die Beschlüsse zu Fremdsprachen und zum Lehrplan 21 ganz weit oben fasst. Der Staat setzt sie um, obwohl die Bevölkerung oft gar nicht einverstanden ist. Solche anonymen Entscheide sind undemokratisch. Weil niemand hinsteht, Verantwortung übernimmt, und sagt: Aus diesen Gründen sind Fremdsprachen in der Primarschule sinnvoll und effektiv. 

Bringt das Fremdsprachenlernen denn wirklich gar nichts? 
Es gibt Studien, die sagen, es bringe auf der Primarstufe gar nichts. Das zweite gravierende Problem,das mich noch mehr aufbringt, ist, dass man den Kindern einen Unterricht aufzwingt, der nicht kindgerecht ist. 

Aber Kinder lernen Sprachen doch mit links. 
Stimmt. Zwischen einem und etwa zehn Jahren lernen Kinder eine Sprache, ohne dass man sie ihnen beibringt. Sie werden mit der Fähigkeit geboren, sich die Sprache anzueignen, mit der sie aufwachsen. Niemand geht hin und erklärt ihnen, wie man konjugiert und dekliniert. Sämtliche Regeln von Grammatik und Satzbau erfassen sie selbstständig. 

Und was brauchen sie dazu? 
Die Grundvoraussetzung ist, dass Kinder die Sprache nicht nur hören, sondern auch erleben. Beim sogenannten Immersionslernen geht Sprache hören immer mit Erfahrungen mit Personen, Handlungen und Situationen einher. Wenn ein Kind aus Syrien in den Kindergarten kommt, dann dauert es sechs bis zwölf Monate und es spricht perfekt Schweizerdeutsch. Weil es die Sprache erlebt. Zweite Bedingung: Der Umgang mit der Sprache muss mit einer gewissen Intensität geschehen. Unsere Kinder sind Sprachgenies. Aber auch sie können in zwei Lektionen pro Woche keine Sprache lernen. 

Also am besten gar keine Frühfremdsprachen auf Primarstufe? 
Wenn, dann wirklich nur mit Immersionslernen. Die Sprache muss voll in den Alltag eingebettet sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Brixen im Südtirol. Dort wird eine Hälfte der Woche Deutsch, die andere Italienisch gesprochen. Die Kinder sind nicht nur perfekt zweisprachig. Sie sprechen auch noch Ladinisch, ein Idiom des Rätoromanischen. Vokabulare büffeln und die Regeln der Grammatik auswendig lernen funktioniert erst in der Oberstufe. Und sogar da für viele Schüler nur unbefriedigend. 

Die Gegner der Fremdspracheninitiative fürchten ein Ende des Sprachenfriedens. Sie haben Angst, dass sich die Südbündner und Nordbündner nicht mehr verstehen können.
Eine berechtigte Sorge. Sind die Erwachsenen aber auch wirklich sprachkompetent? Das ist doch scheinheilig. Ein Vorschlag: Machen wir doch einmal eine Umfrage,wie gut Regierungsräte, Grossräte und Bevölkerung die drei Kantonssprachen beherrschen.

Verschwenden wir also mit Frühfremdsprachen Zeit und Geld? 
Noch schlimmer. Wir tun so, als ob die Kinder mit dem aktuellen Sprachunterricht sprachk ompetent würden. Ein Mythos, den wir endlich loswerden sollten. Die Bündner sollten die Kinder lieber in ein langes Ferienlager im Misox schicken, wenn sie wirklich eine solche Integration betreiben wollen. Zusammen mit Italienisch sprechenden Schülern und umgekehrt. Integration hat nicht nur mit Sprache, sondern auch sehr viel mit Kultur zu tun.

Die Diskussion in Graubünden müsste sich also nicht um die Anzahl Fremdsprachen, sondern eher, um den Unterricht drehen? 
Genau. Grundsätzlich sind Kinder fähig, zwei oder drei Fremdsprachen zu lernen, wenn die Sprache in den Alltag eingebunden ist.Im Idealfall sollte man mit den Fremdsprachen bereits im Vorschulalter beginnen. Dann geht es gratis in der Familie oder Krippe. Dazu braucht es sprachkompetente Erwachsene und vor allem Erfahrungen mit anderen Kindern.

Was soll man anstelle von Sprachen unterrichten? Mathematik oder technische Fächer, wie Unternehmer immer wieder fordern? 
Wissen Sie, das ist eine weitere politisch kontroverse Frage. Die Forderung nach mehr Mathe, mehr technischen Fächern kommt von Politikern, die sich an den momentanen Bedürfnissen der Wirtschaft orientieren. 

Ist das so verkehrt? 
Ja. Woher wissen sie, wie viele IT-Fachleute und Techniker wir in 20 Jahren brauchen werden, wenn alles automatisiert ist? Es wäre weit sinnvoller, die Schule so zu gestalten, dass die Kinder ihre individuell angelegten Fähigkeiten entwickeln dürfen. So, dass sie am Ende der Schulzeit sagen können: Ich bin fähig, mit meinen Stärken in der Gesellschaft zu bestehen. Ich kann mit meinen Schwächen umgehen. Dabei geht es also nicht nur darum, was die Kinder lernen, sondern auch wie. Ihr Selbstwertgefühl wird in der Schule gestärkt, statt durch jahrelange Überforderung beschädigt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen