3. April 2018

Fördern im Familienalltag

Das Projekt «Lernort Familie 5+» zeigt Eltern, wie sie ihre Kleinkinder spielerisch zum Lernen anregen können. Damit sollen Eltern ihren Kindern den Schuleintritt erleichtern.
Eltern lösen Hausaufgaben - die Kinder profitieren, NZZ, 3.4. von Lena Schenkel



Normalerweise sitzen hier Kinder im Halbkreis und hören der Kindergärtnerin zu. An diesem Nachmittag in Rümlang sind es für einmal ihre Eltern: Vier Mütter und ein Vater sind im Kindergarten Rümelbach zusammengekommen, um zu lernen, wie sie ihre Kleinen daheim fördern können. «Und, wie ist es gegangen mit dem Fruchtsalat?», fragt die Elternbildnerin Sandra Stylianou-Osterwalder. Die Eltern holen bunt bemalte Blätter hervor: Banane, Erdbeeren, Äpfel und Ananas. Weiss geblieben sind: Broccoli, Lauch und Zwiebel. Eine Mutter berichtet, ihr Sohn habe die Früchte und Gemüse erst auf Italienisch, dann auf Deutsch aufgezählt. Eine andere war erstaunt, dass ihr Sohn Lauch nicht kannte.
«Lernort Familie 5+» heisst das Gruppenprojekt, an dem Eltern an fünf Nachmittagen teilnehmen können, während ihre Kinder nebenan betreut werden. Zwei Stunden lang geben Elternbildnerin Stylianou-Osterwalder und die Heilpädagogin Naemi Gasser ihnen Tipps, wie sie ihre Kinder im Familienalltag fördern können. Heute auf dem Programm: der Schuleintritt, der nach den Sommerferien ansteht. Stylianou-Osterwalder heftet verschiedene Kärtchen an eine Tafel, auf denen steht, was Eltern tun können, um ihre Kinder dabei zu unterstützen. Vorab gemeinsam den Schulweg abgehen oder positive eigene Erfahrungen von der Schulzeit erzählen, zum Beispiel. Wichtig sei auch, Interesse zu zeigen, sagt die Elternbildnerin; das Kind zu ermuntern, von der Schule zu erzählen.
«Das tue ich jetzt schon», sagt darauf eine Mutter, «aber mein Bub erzählt einfach nichts vom Kindergarten.» Während die Tochter munter drauflosplappere, bleibe der Junge wortkarg. «Wir haben gespielt», sei jeweils das Einzige, was er rausbringe. Das komme ihr bekannt vor, wirft ihre Sitznachbarin ein. Bei ihr habe das Abendritual geholfen, den Tag Revue passieren zu lassen. Inzwischen falle es ihrem Sohn leichter, positive Erlebnisse aufzuzählen und vom Kindergarten zu erzählen. Heilpädagogin Gasser ergänzt, manche Kinder wollten daheim bewusst nichts von «ihrem» Refugium erzählen, das sei auch zu respektieren.

Zielgerichteter Austausch

Dass die anderen Eltern ähnliche Probleme hätten, sei beruhigend, sagt eine Mutter in der anschliessenden Kaffeepause. Auch sie hat letztes Mal einen hilfreichen Rat bekommen. Ihr Sohn hatte morgens beim Anziehen immer getrödelt. So sehr, dass sie ihm schon entnervt drohte, dann müsse er halt im Pyjama in den Kindergarten. «Pack den Buben doch bei seinem Ehrgeiz», riet darauf eine Mutter. Und tatsächlich: Seit sie und ihr Sohn jeden Morgen darum wetteifern, wer schneller angezogen ist, klappt es. Aber hätte sie diesen Tipp nicht auch von einer Freundin bekommen können? Vielleicht, sagt sie, aber hier sei der Austausch zielgerichteter, professioneller.

Eine Selbsthilfegruppe für Eltern ist der Kurs jedoch mitnichten. In erster Linie sollen nicht die Mütter und Väter, sondern die Kinder profitieren. Etwa, wenn sie zu Hause gemeinsam würfeln und Formen ausmalen, Katzen und Kühe auf einem Bauernhofbild zählen und benennen oder Bauklötze auf einem Blatt drapieren. Ihr Bub schätze es sehr, dass sie sich einmal nur für ihn Zeit nehme, sagt eine Mutter. Nebenbei fördern solche Übungen sprachliche und kognitive Fertigkeiten, welche die Kinder später brauchen. Selbst beim einfachen Leiterlispiel, das die Eltern heute auf einem laminierten Blatt Papier mit nach Hause nehmen, erwerben die Kinder mathematische Grundkompetenzen – ohne es zu merken.

Initiiert hat das Förderprogramm die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH), die es wissenschaftlich begleitet und seine Wirksamkeit untersucht. In der Umsetzung arbeitet sie eng mit dem Amt für Jugend und Berufsberatung der Zürcher Bildungsdirektion zusammen. Dass sich eine solche Frühförderung lohnt und Lern- und Verhaltensstörungen vorbeugen kann, bewies bereits das Vorgängerprogramm «PAT – mit Eltern lernen» im Rahmen der Langzeitstudie «Zeppelin». Von 2011 bis 2016 besuchten Mütterberaterinnen regelmässig sogenannt sozial belastete Familien, die etwa von Armut, Krankheit oder Migration betroffen waren. Sie zeigten ihnen Wege, ihr Kind von der Geburt bis zum dritten Altersjahr bei der Entwicklung zu unterstützen.

Wie die Forscher zu Projektende aufzeigen konnten, verfügten die derart frühgeförderten Kinder mit drei Jahren über signifikante Vorsprünge gegenüber nicht geförderten in ähnlichen Familienverhältnissen: Sie hatten etwa einen grösseren Wortschatz, waren weniger ängstlich oder hatten ihre Impulse besser unter Kontrolle. Selbst zwei Jahre später sind die positiven Effekte bei der Sprache und im Familienumfeld noch nachweisbar, wie erste Ergebnisse zeigen, die seit März vorliegen. Abgenommen haben laut Studienautoren indes die Unterschiede bei den mathematischen und kognitiven Kompetenzen.
Dass die anderen Kinder teilweise aufholten, liege wohl auch an der guten Förderung im Kindergarten, sagt Andrea Lanfranchi. Er leitet das Projekt und lehrt als Professor an der HfH. Aus der Forschung wisse man aber auch, dass die Effekte der Frühförderung mit der Zeit nachliessen. Mit dem neuen Programm will man die Präventionskette – Lanfranchi selbst spricht lieber von Förderlinie – weiterziehen, vom zweiten Kindergartenjahr bis zur zweiten Primarschulklasse. Finanziert wird es vom kantonalen Lotteriefonds und von zwei privaten Stiftungen.

Zehn Standorte – 60 Elternteile

Gefördert wird gezielt in Gemeinden mit hohem Sozialindex, wo Eltern mitunter erschwerte Bedingungen haben. «Lernort Familie 5+» wird zurzeit an zehn Standorten in den Gebieten Dietikon-Schlieren, Opfikon-Kloten und Dübendorf-Uster angeboten. Am Programm beteiligen sich derzeit insgesamt 60 Elternteile. Rund ein Drittel hat bereits am «Zeppelin»-Projekt teilgenommen, wurde also mit dem Frühförderprogramm PAT unterstützt. Hinzu kamen weitere hinsichtlich sozialer Schicht, Familiensprache und Beruf der Mutter vergleichbare Familien, welche die HfH mithilfe der Kindergärtnerinnen ausgewählt und kontaktiert hat. Insgesamt seien die Anmeldungen mit 50 Prozent Rücklaufquote bisher deutlich unter den Erwartungen geblieben, sagt Projektleiter Lanfranchi. Obwohl die Förderung gut gelinge, sei es nicht einfach, die Eltern zu erreichen und zu motivieren.
In Rümlang hat Heilpädagogin Gasser deswegen von Beginn weg sämtliche Eltern von Kindergartenkindern angeschrieben, worauf sich acht Väter und Mütter angemeldet haben. Im Rümelbach sitzen an diesem Nachmittag solche mit und ohne Migrationshintergrund, Bildungsnahe und -ferne: die albanische Biochemikerin neben der Schweizer Angestellten. Profitieren könnten alle, sagt Gasser. Sie hat bereits im ersten Kindergartenjahr einen ähnlichen Kurs angeboten und erlebt, was für einen Vorsprung Frühförderung den Kindergartenkindern verschaffen kann. Dass sich diesmal weniger Eltern angemeldet hätten, liege sicher auch daran, dass diese im Rahmen des Forschungsprojekts auch befragt und besucht würden, was einige als störend empfänden. Sollte das Angebot einmal institutionalisiert sein, sähe dies bestimmt anders aus, zeigt sich Gasser überzeugt.


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