8. Februar 2018

Wie kostenneutral wird der neue Aargauer Lehrplan?

Ende 2017 hat die Regierung eine erste Fassung des neuen Lehrplans vorgestellt. Die Parteien zeigen sich in ihren Stellungnahmen nicht nur begeistert. An eine kostenneutrale Einführung ohne Abstriche glauben viele nicht. Sie fürchten um die Qualität.
Kontroverse um Aargauer Lehrplan: mehr Lektionen, aber keine Zusatzkosten? Aargauer Zeitung, 7.2. von Noemi Lea Landolt


Drei Monate hatten Parteien, Verbände und interessierte Aargauerinnen und Aargauer Zeit, sich zum neuen kantonalen Lehrplan zu äussern. Diesen hat der Regierungsrat auf Grundlage des Deutschschweizer Lehrplans 21 ausgearbeitet. Über 400 Stellungnahmen sind beim Kanton eingegangen, knapp 200 davon von Privaten. Diese Punkte geben zu reden:

Die Regierung will den neuen Lehrplan kostenneutral einführen. Weil die Stundentafeln dem Deutschschweizer Lehrplan 21 angepasst werden, haben Aargauer Schülerinnen und Schüler künftig mehr Schule. Je nach Stufe sind es eine bis sechs zusätzliche Pflichtlektionen pro Woche.

Was sich ändert
Damit sich das ohne zusätzliche Kosten realisieren lässt, werden Wahlfächer sowie ungebundene Lektionen – also Unterricht in Halbklassen – teilweise in Pflichtlektionen umgewandelt. Ausserdem will die Regierung die Weiterbildung der Lehrpersonen und Schulleitungen mit den bestehenden Mitteln finanzieren.

Die SVP geht in die Opposition. In ihrer Stellungnahme verlangt sie, von einer Erhöhung der Pflichtlektionen abzusehen. Sie sehe nicht, womit eine solche Erhöhung gerechtfertigt sein sollte.

Denn: «An Universitäten und Fachhochschulen schneiden die Aargauer Studenten im Vergleich mit anderen Kantonen gut ab.» Deshalb pocht die SVP darauf, «dass die ganze Übung kostenneutral erfolgt».

Genau diese von der Regierung angestrebte Kostenneutralität kritisieren die anderen Parteien. SP, GLP, Grüne, CVP, EVP, der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband (alv), die Gewerkschaft VPOD Aargau/Solothurn und Arbeit Aargau glauben nicht, dass eine kostenneutrale Einführung des neuen Lehrplans ohne Abstriche möglich ist.
Dies, weil der neue Lehrplan und die vorgeschlagene Stundentafel von Schulen und Lehrpersonen «erhebliche Mehrleistungen verlangen», wie Arbeit Aargau schreibt.
SP, CVP und EVP befürchten einen Qualitätsabbau, wenn wegen der Kostenneutralität der Halbklassenunterricht reduziert wird. «Eine gezielte individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler wird dadurch eingeschränkt», schreibt die CVP. Die GLP findet es gar «illusorisch, dass die Regierung ein so wichtiges Bildungskonzept kostenneutral durchsetzen möchte».

Der alv betont, dass die Jahresarbeitszeit der Lehrpersonen schon heute deutlich überschritten werde, die Reform müsse für Lehrerinnen und Lehrer deshalb «belastungsneutral sein, was sie in der vorgeschlagenen Form eindeutig nicht ist».
Für die BDP wäre eine kostenneutrale Einführung «selbstverständlich erstrebenswert». Sie sei jedoch nicht realistisch, «ohne dass die Qualität leidet».

Neben der SVP glauben nur noch die FDP, EDU sowie der Aargauer Gewerbeverband (AGV) an eine kostenneutrale Einführung. Die FDP merkt an, in der Anhörungsvorlage fänden sich keinerlei Aussagen zu den Auswirkungen auf die Gemeinden und den Schulraum. Die Reduktion des Halbklassenunterrichts sowie die Umwandlung von Wahl- in Pflichtfächer dürften jedoch keine Mehrkosten für die Schulen vor Ort zur Folge haben.

Französisch ab der 5. Klasse
Mit dem neuen Lehrplan möchte die Regierung die nationale Sprachenstrategie umsetzen. Englisch soll wie bisher ab der 3. Klasse obligatorisch sein, Französisch neu bereits ab der 5. und nicht erst ab der 6. Klasse. Für die beiden zusätzlichen Französischlektionen hat der Regierungsrat beim Grossen Rat einen Verpflichtungskredit von rund drei Millionen Franken pro Jahr beantragt.
Praktisch alle Parteien begrüssen, dass die Regierung die nationale Sprachenstrategie umsetzen möchte und verstehen, dass dafür zusätzliches Geld nötig ist. Sie argumentieren, das frühe Erlernen von Fremdsprachen sei in der mehrsprachigen Schweiz wichtig für den Zusammenhalt. FDP und CVP wünschten sich jedoch, dass mittel- bis langfristig wenigstens im Bildungsraum Nordwestschweiz eine einheitliche Sprachenpolitik verfolgt werde.

Aus diesem Grund lehnt die SVP den Französischunterricht ab der 5. Klasse ab. Damit werde keine Harmonisierung herbeigeführt. Schülerinnen und Schüler in den Nachbarkantonen Baselland und Solothurn würden weiterhin Französisch als erste Fremdsprache lernen. Ausserdem stellt die SVP grundsätzlich infrage, ob das frühe Lernen von Sprachen sinnvoll sei. Verschiedene Studien würden das Gegenteil zeigen.

Staatskunde
Politische Bildung ist Teil des neuen Lehrplans. Die Kompetenzen erwerben die Schüler jedoch nicht in einem eigenständigen Fach, wie es die Staatskunde-Initiative der Jungen FDP verlangte, sondern fächerübergreifend. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Initianten mit der Lösung der Regierung nicht zufrieden sind.

Im Gegenteil: Aufgrund der Aufsplittung auf verschiedene Sammelfächer in der Oberstufe werde die politische Bildung insgesamt gegenüber heute sogar geschwächt. Gleicher Meinung ist die CVP. Die GLP befürchtet, dass sich durch die «Verzettelung» am Schluss niemand wirklich verantwortlich dafür fühlt und politische Bildung letztlich «sehr heterogen» unterrichtet werde.

SP, FDP, CVP, GLP und BDP bezweifeln, dass die zur Verfügung stehenden Lektionen ausreichen, um staatspolitische Themen zu vertiefen. Sie würden es deshalb begrüssen, wenn die Anzahl Lektionen im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» in der 9. Klasse auf vier Lektionen erhöht würde. «Diese zusätzliche Lektion kann beispielsweise im 3. Oberstufenjahr dem Fach ‹Ethik, Religion, Gemeinschaft› entnommen werden», schlägt die FDP vor.

Zufrieden mit der Lösung zeigt sich der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband: Er lehnt ein zusätzliches Fach und damit eine weitere Fragmentierung des Unterrichts ausdrücklich ab. Wichtig sei aber, dass die Lehrmittel einen Schwerpunkt auf das Thema legen. Auch die SVP ist mit der Lösung einverstanden, möchte aber sichergestellt haben, dass der Staatskundeunterricht «nicht politisch gefärbt ist».

Neue Sammelfächer
Fertigkeiten in Biologie, Chemie, Physik und neu auch Technik werden in der Oberstufe im Fach «Natur und Technik» unterrichtet. Geografie, Geschichte, politische Bildung und die Entwicklung von Menschen und Gesellschaften wird im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gelehrt. Den Schulen ist freigestellt, ob sie das Bildungsziel mit Unterricht in Einzelfächern oder in den Fachbereichen erreichen.

Damit sind die meisten Parteien einverstanden. Die SVP verlangt, dass die Fächer weiterhin einzeln unterrichtet werden, «um eine Einheitlichkeit in der Bildungslandschaft Aargau zu erreichen». Die FDP möchte dies mindestens für die Bezirksschule, mit Verweis auf ihre «progymnasiale Funktion».

Die Regierung beschliesst im Sommer 2018 den definitiven Aargauer Lehrplan für die Volksschule – ausgehend von den Ergebnissen der Anhörung. Im Herbst wird der Grosse Rat über die Finanzierung der zwei zusätzlichen Lektionen Französisch an der Primarschule abstimmen. Der neue Aargauer Lehrplan sollte dann im August 2020 in Kraft treten.


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