27. Januar 2018

Schlechtschreiben ist lernbar

Viele Schweizer Schüler lernen «nach Gehör» schreiben. Die Lust am kreativen Text steht dabei im Vordergrund, die Orthografie spielt keine Rolle. Doch jetzt zeigen neue Studien: Die hochgelobte Methode ist mitverantwortlich für die Erosion der Rechtschreibfähigkeit.
Alex presst aufgeregt die Lippen zusammen. Sein Finger fährt der Buchstabentabelle entlang und hält triumphierend. Da sind ein Affe und eine kleine Ameise abgebildet, darunter steht ein Buchstabe, den er nun in sein Heft abmalt. Dann sucht der Siebenjährige das nächste Bildchen und «schreibt» weiter. Alex besucht seit ein paar Monaten die erste Klasse und lernt lesen und schreiben. Nach einer Viertelstunde zeigt er der Lehrerin stolz das Ergebnis. «ICh SchBiLE FUSBAL MiTMEiNeM PAPA.»
Schlechtschreiben ist lernbar, Weltwoche, 25.1. von Philipp Gut und Peter Keller


Alex alias «ALeKS» beginnt seine ersten Schritte in der Buchstabenwelt mit dem Lernprogramm «Lesen durch Schreiben». Entwickelt hat die Methode der 2009 verstorbene Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Gearbeitet wird mit einer Anlauttabelle, und man lässt die Kinder eigenständig und nach eigenem Tempo vorgehen. Mit dem jeweiligen Anlaut sind Bilder verbunden: mit B eine Banane, mit Sch eine Schere, mit Z eine Zitrone. Die Schüler wählen mit Hilfe des Bildes frei einen Buchstaben aus und beginnen nach Gehör zu schreiben, ohne Rücksicht auf die Orthografie nehmen zu müssen.

Kinder könnten mit «Lesen durch Schreiben» erstaunlich schnell kleine Geschichten aufschreiben statt nur einzelne Buchstaben oder einfache Wörter wie bei anderen Methoden, berichten Lehrer. Sie lernen aus sich heraus, «selbstgesteuert», wie ein Modewort der Reformpädagogik lautet. Lustvoller Umgang mit Sprache statt Pauken und Diktate: Jürgen Reichen schien einen pädagogischen Coup gelandet zu haben. In der Schweiz, aber auch in Deutschland setzte sich sein Lernprogramm an vielen Schulen durch.

Schweizer im Hintertreffen
Doch jetzt zeigen sich Schattenseiten der hochgelobten Methode: «Lesen durch Schreiben» hat zu einer Erosion der Schreibkompetenz geführt. Schlechtschreibung ist lernbar. Was bei Klein Alex vielleicht noch herzig war, wird spätestens in den höheren Schulstufen zu einem ernsthaften Problem. Die mangelhafte Orthografie lässt sich kaum mehr oder nur sehr mühsam korrigieren. Kinder prägen sich falsche Schreibweisen ein. «‹Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.› In neurobiologischer Hinsicht ist diese Volksweisheit längst eingeholt und auf vielfache Weise bestätigt», sagt Manfred Spitzer, der wohl bekannteste deutsche Hirnforscher. Dazu kommt die Verunsicherung, wenn die Schüler ab der dritten, vierten oder gar erst der fünften Klasse plötzlich regelgetreu schreiben sollten und erstmals richtige Zeugnisse erhalten. Zu den profiliertesten Kritikern von «Lesen durch Schreiben» gehört Jürgen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich (siehe Interview Seite 20). Das Konzept basiere «auf einer falschen kognitiven Grundannahme, die übersieht, welche Bedeutung Üben und Fehlerkorrektur für richtiges Schreiben haben».

In einer Metastudie von 2014   analysierte Professor Reinold Funke aus Heidelberg sechzehn empirische Untersuchungen zum Thema. Ihre Aussagekraft sei «durch methodologische Beschränkungen begrenzt», gibt Funke zu bedenken. Dennoch: Im Vergleich mit Klassen, die nach einer klassischen Lesefibel unterrichtet wurden, seien die Lernergebnisse beim Rechtschreiben auf der Primarstufe «signifikant schlechter». Besonders für «Schüler mit ungünstigen Lernvoraussetzungen, möglicherweise auch für zweisprachige Schülerinnen und Schüler» stelle «Lesen durch Schreiben» keine «optimalen Lernwege» bereit. Mit anderen Worten: Leidtragende sind ausgerechnet schwächere und fremdsprachige Schüler, auf welche die Reformpädagogen eigentlich besonders eingehen wollten.

Ein ähnliches Bild zeichnet das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln: «Mittels der Anlauttabelle setzen sich die Kinder intensiv mit der Laut-Buchstaben-Beziehung auseinander und fokussieren damit auf den Kern der deutschen Schrift. Diese Strategie reicht jedoch nicht aus, um zu einem kompetenten Schreiber (und Leser) zu werden.» Schwächere Schüler scheiterten an diesen Anforderungen, «weil man ihnen keine Hilfestellung an die Hand gibt, um die Strukturen zu erkennen und zu verstehen». Zwar führten viele Lehrer ins Feld, dass die Kinder sich bei der Methode «Lesen durch Schreiben» hochmotiviert fühlten, Texte zu produzieren. Dies sei «allerdings nicht durch Studien belegt».

In der Schweiz sorgte vor eineinhalb Jahren eine noch nicht veröffentlichte Studie aus dem deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg für Schlagzeilen. «Schweizer Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche und österreichische», titelte die Aargauer Zeitung. Studienautor Erich Hartmann, Professor an der Universität Freiburg, erklärt auf Anfrage der Weltwoche, dass die Studie nun in diesem Jahr publiziert werde. Sie vergleicht die Rechtschreibleistung der Freiburger Schüler mit jener von gleichaltrigen aus Deutschland («Hamburger Schreib-Probe») und kommt zum Schluss, dass die Freiburger Probanden beim lautorientierten Schreiben «insgesamt besser abschnitten», jedoch «vergleichsweise schwächere Leistungen in Teilbereichen des orthografischen Schreibens» zeigten, wie Hartmann ausführt. Dies liege wohl primär am Unterricht und an den Lehrmitteln. Stünden das lautorientierte und das freie Schreiben im Vordergrund, gehe dies auf Kosten der Orthografie. Das zielt direkt auf Methoden wie «Lesen durch Schreiben» und «Schreiben nach Gehör».

Bequem für die Lehrer
Die Frage stellt sich, warum diese umstrittenen Methoden trotzdem so verbreitet bleiben. Die grosse Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen arbeite zumindest teilweise nach den Ideen von Jürgen Reichen, sagt eine Primarlehrerin aus dem Kanton Graubünden. An den pädagogischen Hochschulen würden diese immer noch gelehrt. Der Kanton Zürich empfiehlt die Software «Erstes Verschriften», «das Originalcomputerprogramm von Dr.   Jürgen Reichen». In der Anleitung heisst es: «Durch Wahl des Programmstarts entscheidet das Kind selbst, welchen Anforderungen es sich stellen will: Rechtschreibung amtlich korrekt oder lautgetreu.» Nicht im Beipackzettel steht, dass der Entscheid gegen die korrekte Rechtschreibung fatale Nebenwirkungen haben kann – mit orthografischen Langzeitschäden.

Ein anderes verbreitetes Lehrmittel aus demselben Verlag (Scola, gehört heute zu Orell Füssli) heisst schlicht «Lesen durch Schreiben» und preist sich als «ideales Arbeitsmittel für den offenen Unterricht». Reihentitel: «Little Genius», kleines Genie. Der schulische Alltag sieht allerdings anders aus, viele der «kleinen Genies» bleiben ohne genaue Instruktion und Kontrolle heillos überfordert.

Der Sekundarlehrer Urs Kalberer, der den vielbeachteten Bildungsblog «Schule Schweiz» betreibt, sieht einen Grund für die anhaltende Beliebtheit der reformpädagogischen Schreibkonzepte in der grossen Heterogenität der Klassen. «Lesen durch Schreiben» sei für die Lehrer eine bequeme Methode, weil sie auf einfache Weise das Individualisieren zulasse. Weniger gut sieht laut Kalberer die Bilanz für die Schüler aus: Die schlechteren von ihnen würden so schon zu Beginn der Alphabetisierung abgehängt.

Auf der Oberstufe lasse nicht nur die Rechtschreibfähigkeit nach, sondern auch das Schriftbild, stellt Kalberer fest. Manche Texte könne er fast nicht mehr entziffern. Möglicherweise bestehe hier ein Zusammenhang: Der «Niedergang der sauberen Schrift» habe vielleicht auch Auswirkungen auf die Qualität. Das Abendland gehe deshalb aber nicht unter. Aus der Distanz betrachtet, verlaufe in der Bildungspolitik vieles in Wellen. Kalberer beobachtet eine «Gegenbewegung», die wieder mehr Wert auf «formale Korrektheit» legt. Tatsächlich machen einzelne Lehrervertreter ihrem Unmut mit deutlichen Worten Luft. «Kein Mensch käme auf die Idee, dass es ein Kind [.   .   .] beim Trompetenspiel oder Kunstturnen ohne subtile, zielgerichtete Führung, Anweisung, Wiederholung, Steuerung und Fehlerkorrektur auf ein beachtliches Niveau bringen würde», sagt Roger von Wartburg, Präsident des Lehrerverbandes Baselland. Aber ausgerechnet beim Erlernen des Schreibens, einer höchst anspruchsvollen Tätigkeit, sollten diese grundsätzlichen Regeln ausser Kraft gesetzt sein, wundert er sich.

Nicht nur Lehrmeister beklagen die Schreibschwächen von Schulabgängern, selbst an Hochschulen registrieren die Dozenten mit einer Mischung aus Ärger und Amüsement die mangelhafte Orthografie ihrer Studenten. Carl Bossard, ehemaliger Rektor der Pädagogischen Hochschule Zug, wartet mit Beispielen auf, die leider keine Einzelfälle seien: «Noch eine verspätete schriftliche Entschuldigung für das ich am Mittwoch 31.10. Krank wahr.» Ein anderer Student habe sich abgemeldet mit den Worten: «Ich hoffe auf Ihr Verständtniss und möchte mich viel mals entschuldigen.»

Wie sollen angehende Lehrer dereinst ihren Schützlingen den korrekten Sprachgebrauch beibringen, wenn sie selber grundlegende Rechtschreibregeln nicht beherrschen? Bossard sieht in dieser Entwicklung auch eine Folge falscher Prioritätensetzung. Die kantonalen Bildungsdirektoren schienen sich fast nur noch für frühe Fremdsprachen zu interessieren. «Aber wie steht es um das korrekte Frühdeutsch?», fragt er.

Erstaunliche Karriere
Der Erfinder von «Lesen durch Schreiben» legte eine erstaunliche Karriere hin und gehört neben Heinrich Pestalozzi wohl zu den einflussreichsten Schweizer Pädagogen überhaupt. Jürgen Reichen, geboren 1939, machte in Baselland die Ausbildung zum Primarlehrer, studierte Psychologie, schrieb eine Dissertation, unterrichtete dann mehrere Jahre auf der Unterstufe, ehe er in Hamburg zum Dozenten und Autor von Lehrmitteln wurde, die bis heute an vielen Schulen in Gebrauch sind. Ein einträgliches Geschäft.

Reichen plädiert für einen Unterricht, der sich auf die Kinder ausrichtet. Diese seien von Natur aus neugierig, sie wollten lernen, man müsse ihnen nur die entsprechenden Gelegenheiten bieten. Der Lehrer wird so zum «Coach», der Unterricht werde «individualisiert». Das klingt alles wunderbar und einleuchtend, hat aber, wie die Erfahrungen zeigen, einen entscheidenden Haken: Der Idealfall entspricht nicht der Wirklichkeit, die Folgen sind besorgniserregend.

Hier setzt auch die Fundamentalkritik des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers an: Man baue auf Methoden, die nicht auf ihre Wirksamkeit getestet würden. Widerrede sei unerwünscht: «Wer dagegen protestiert, hat die Schulen und die geballte Grundschulpädagogik gegen sich», die auf altersdurchmischtes Lernen schwöre, bei der Inklusion – also der Integration von schwierigen und lernschwachen Schülern in die Regelklassen – keinerlei Nachteile sehe und einen möglichst notenfreien Unterricht wünsche.

Verbote in Deutschland
Doch der politische und mediale Druck wächst, vorab in Deutschland. Der Spiegel widmete dem Thema («Das grosse Schulversagen») eine Titelgeschichte: Nur jeder fünfte Absolvent der obligatorischen Schule könne einigermassen fehlerfreie Texte verfassen. Schuld sei vor allem «eine Lehrmethode, die Grundschülern freistellt, wie sie schreiben». «Zweifelhafte Reformen vergrössern die Kulturwüste», mahnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Immer mehr Bundesländer rückten davon ab, dass die Texte von den Kindern erst einmal nach Gehör verfasst werden, denn die Ergebnisse seien «schauerlich». Ausgerechnet in Hamburg, von wo aus die Methode von Reichen ihren Siegeszug durch die deutschsprachigen Länder angetreten hat, haben die Behörden den Schulen als Erste untersagt, entsprechende Lehrmittel zu verwenden. Ein Verbot gibt es auch in Baden-Württemberg.

In der Schweiz läuft die Debatte etwas weniger konfrontativ ab, was wohl auch mit dem föderalistischen Aufbau der Bildungspolitik zu tun hat: Grundsätzlich sind gemäss Verfassung die Kantone zuständig für die Schulen und damit auch für die Auswahl der Lehrmittel. Allerdings wurde gerade mit dem Lehrplan 21 ein Rahmengerüst geschaffen, das die kantonale Bildungshoheit empfindlich einschränkt. Die Weltwoche hat bei der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) nachgefragt, inwiefern Lernmethoden wie «Lesen durch Schreiben», «Lautgetreues Schreiben» und «Schreiben nach Gehör» Gegenstand des Lehrplans 21 seien. Benedict Zemp, wissenschaftlicher Mitarbeiter der D-EDK, hält fest, dass die Methodenfreiheit der Lehrpersonen nicht eingeschränkt werde. Im Lehrplan seien einzig die Kompetenzen definiert, die je nach Schulstufe zu erreichen seien: «Rechtschreibung und Grammatik haben dabei einen grossen Stellenwert.» Auf die Frage, wie die Erziehungsdirektorenkonferenz zum umstrittenen Reichen-Ansatz stehe, weicht Zemp aus; er könne die verschiedenen Methoden nicht gegeneinander abwägen, da es nicht Aufgabe des Lehrplans 21 sei, hier Vorgaben zu machen.

Klarer Bezug zur Reichen-Methode
Ein Blick in den Lehrplan zeigt allerdings, dass der Rechtschreibung keineswegs ein so grosser Stellenwert zukommt, wie die Erziehungsdirektoren behaupten. Auch sind die Kompetenzvorgaben durchaus methodenbezogen definiert. So ist im Kapitel «Schreiben, Grundfertigkeiten» für die Unterstufe ein klarer Bezug zur Reichen-Methode auszumachen: «Die Schülerinnen und Schüler [.   .   .] können einzelne Laute heraushören, diese den passenden Buchstaben zuordnen und einzelne Wörter lautgetreu verschriften.» Nichts anderes will die Methode «Schreiben nach Gehör». Weiter heisst es, die Kinder müssten alle Laute und Lautverbindungen heraushören «und in lautgetreuer (nicht unbedingt orthografisch korrekter) Schreibung entsprechenden Buchstaben zuordnen können» (Seite 17). Ähnlich klingt es im Kapitel «Schreiben» (Seite 22), da ist von «lautgetreuer Schreibweise» die Rede. Selbst in den höheren Klassen sprechen die Lehrplan-21-Autoren kuschelschwammig von «Fehlersensibilität entwickeln».

Reichen lebt. Auch in den Listen der obligatorischen Lehrmittel fast aller Kantone. Sie heissen wie das Original «Lesen durch Schreiben» oder sind inspiriert davon wie «Lara», «Anton und Zora» oder die weitverbreitete «Buchstabenreise» (vormals «Buchstabenschloss»). Beispiele davon finden sich auf den Lehrmittellisten der Kantone Bern, Basel-Stadt und Baselland, Aargau, Thurgau, Luzern, Zug, Schwyz, Ob- und Nidwalden, St.   Gallen, Schaffhausen, Solothurn, Appenzell und Zürich. Alle diese Lehrmittel sollten den Kindern lustvoll und mühelos Lesen und Schreiben beibringen. Schön wär’s. Die Reichen-Methode hat mit ihrem gefährlichen Laisser-faire die gegenwärtige Rechtschreibkrise wesentlich mitzuverantworten.

Korrigieren am Küchentisch
Professor Oelkers erkennt ein strukturelles Problem als Grund, warum die «falsche Methode» bis heute an Primarschulen unterrichtet werde: Die Aufsicht greife wegen der Schulautonomie nicht ein, und auch die Eltern seien machtlos, hätten aber letztlich dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder schriftlich korrekt ausdrücken können. Anders gesagt: Am Küchentisch muss korrigiert werden, was im Schulzimmer vernachlässigt wurde.
Dass einiges im Argen liegt beim Schreibunterricht, haben inzwischen sogar die Schüler gemerkt. Die träfste Kritik an «Lesen durch Schreiben» formulierte der Sprecher eines Münchner Schülerrats: Schreiben nach Gehör, meinte er, sei wie operieren nach Gefühl.

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