16. November 2017

Solothurn schwankt bei Noten für Erstklässler

Zensuren gleich von Anfang an? Der Kanton hat die Noten für Schulstarter zuerst abgeschafft und dann wieder eingeführt. Nun könnte es erneut zu einer Wende kommen.
Zuerst abgeschafft, dann wieder eingeführt: Wie sinnvoll sind Schulnoten für Erstklässler? Solothurner Zeitung, 16.11. von Sven Altermatt


Wie vernünftig aber ist es, den Erfolg von Schülern mit Noten zu bewerten? Erst recht, wenn sie noch ganz am Anfang ihrer Bildungslaufbahn stehen? Wahrscheinlich sind diese Fragen so alt wie die Volksschule selbst. Und trotzdem sorgen sie immer wieder für Zündstoff – gerade in Solothurn: Der Kanton ist neben Glarus und Tessin der einzige, der bereits die Leistungen von Erstklässlern benoten lässt.

Wie lange das noch Bestand haben wird, ist allerdings ungewiss. Von der Öffentlichkeit bislang unbemerkt, diskutieren Bildungsstrategen einmal mehr über Sinn und Unsinn von Noten. Das Solothurner Volksschulamt hat im Frühjahr, gleich nach dem Ja zum Lehrplan 21 an der Urne, eine Arbeitsgruppe zum Thema eingesetzt. Seither treffen sich Vertreter von Behörden, Lehrkräften und Schulleitern regelmässig hinter verschlossenen Türen. Sie sollen die bisherigen Beurteilungsformen überprüfen und Vorschläge ausarbeiten, wie Leistungen im Zeugnis dargestellt werden könnten.
Konkret geht es um den sogenannten ersten Zyklus der Volksschule. Gemäss Lehrplan 21 beginnt dieser mit dem Eintritt in den zweijährigen Kindergarten und endet mit dem Abschluss der zweiten Klasse der Primarschule. Das neue Regelwerk ist grundsätzlich auf Kompetenzen ausgerichtet. Demnach ist nicht mehr in erster Linie massgeblich, was Kinder wissen, sondern was sie können sollen. Weil entsprechende Fähigkeiten jedoch nicht einfach wie Wissen beurteilt werden können, lanciert der Lehrplan 21 erneut eine Debatte um Schulnoten.

Kritik am Status quo

Eine Leistungsbeurteilung sollte im Zeugnis «frühestens zum Ende der zweiten Klasse» aufgeführt werden, empfiehlt die Konferenz der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren in einem Fachbericht. Nach dem Kindergarten und der ersten Primarschule erachte man lediglich eine Bestätigung des Besuchs im Zeugnis als angebracht.

Verbindliche Ziele sind im Lehrplan 21 erstmals für das Ende des ersten Zyklus festgeschrieben, erinnern die Erziehungsdirektoren. «Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Kinder auf dieser Stufe hinsichtlich ihrer Lernentwicklung stark unterscheiden», heisst es in dem Bericht weiter. Ebenso könne vermieden werden, «dass die Kinder zu früh einem nicht altersgemässen Leistungsdruck ausgesetzt werden».

Anders gesagt: Der Solothurner Status quo entspricht nicht unbedingt dem, was als zeitgemäss taxiert wird. Auch im Bildungsdepartement von Regierungsrat Remo Ankli (FDP) scheint diese Erkenntnis angekommen zu sein. Zwar werden die Ergebnisse der Arbeitsgruppe erst im Mai des kommenden Jahres erwartet. Aber bereits jetzt wird deutlich, in welche Richtung deren Vorschläge gehen könnten.

«Die alleinige Beurteilung durch Noten ist besonders beim Schulstart mit den grossen Unterschieden im Entwicklungsstand der Kinder heikel», schreibt der Regierungsrat in seiner Stellungnahme zu einer Anfrage von SP-Kantonsrat Mathias Stricker. Der Bettlacher sitzt in der Geschäftsleitung des kantonalen Lehrerverbandes und präsidiert die Gruppe der Primarlehrpersonen. In seinem Vorstoss wollte er wissen, welche Auswirkungen der Lehrplan 21 aus offizieller Sicht auf die Beurteilungspraxis haben wird.

Schulstart steht im Fokus

Mit kritischen Tönen zur Benotung von Schulstartern lässt sich die Regierung in ihrer Vorstossantwort überraschend tief in die Karten blicken. Grundsätzlich vertritt sie die Ansicht: «Beurteilung, Lehrplan und Lernen» sollten stets aufeinander abgestimmt sein.
«Je nach Funktion sind andere Formen als die Notengebung bei der Leistungsbeurteilung als Ergänzung wichtig.» Die Frage, wie die «Beurteilung des ersten Zyklus» ausgestaltet werden soll, hält die Exekutive für vordringlich, das betont sie gleich mehrfach. «Sicher keine Änderungen» wird es laut ihrer Stellungnahme bei den anderen Zyklen geben – bei der dritten bis sechsten Klasse der Primarschule und der Sekundarschule also.
«Die frühe Benotung von Schülern ist ein Riesenthema unter den Primarlehrern im Kanton», sagt Stricker im Gespräch. Die Mehrheit stünde dem heutigen System eher ablehnend gegenüber. Nicht zuletzt mit Blick auf die spezielle Förderung gestalte sich der Umgang mit Noten als schwierig. Der oberste Primarlehrer des Kantons kritisiert: «Wer gerade erst eingeschult worden ist, kann noch gar nicht richtig einordnen, was eine Note überhaupt bedeutet.»

Lehrer wollen anderes System

Bereits im vergangenen Jahr hat der Lehrerverband eigens einen Runden Tisch zur Problematik durchgeführt. Stricker stimmt zuversichtlich, dass nun auch die Behörden aktiv geworden sind. Beim Lehrerverband betont man, es gehe keineswegs einfach darum, die Noten wieder abzuschaffen. Vielmehr habe man jetzt die Möglichkeit, ein sinnvolleres System einzuführen. Welche Alternativen denkbar wären, verdeutlicht die Regierung in ihrer Stellungnahme zu Strickers Vorstoss. Als Beispiele für «differenziertere Praktiken» aus anderen Kantonen nennt sie etwa Prädikate («gut erreicht», «erreicht» oder «nicht erreicht»), Beurteilungsbögen mit Ergänzungen oder Lernberichte.

Dass der Lehrerverband vieldeutig von der «Weiterentwicklung des Beurteilungssystems erster Zyklus» spricht und die Behörden den vagen Begriff «Beurteilungsformen» prägen, kommt nicht von ungefähr. Vielmehr dürfte die eher defensive Terminologie den politischen Befindlichkeiten geschuldet sein. Denn Schulnoten waren im Solothurnischen stets hoch umstritten.

Erst im Sommer 2011 war der Kanton zur Notengebung ab der ersten Klasse zurückgekehrt. Zuvor gab es auf der unteren Schulstufe während über zwei Jahrzehnten keine Noten mehr. Der Kantonsrat aber war damit nicht zufrieden und wollte einen Schritt zurückgehen. 2004 stimmte er einem entsprechenden Postulat aus der CVP zu, 2008 doppelte die SVP in einem Auftrag erfolgreich nach. Immerhin: Trotz Noten hielt das Promotionsreglement für die Primarschule weiterhin an Beurteilungsgesprächen fest.

Politik hat Noten aufgezwungen

Eine Mehrheit im Parlament vertrat jeweils den Standpunkt, die jährlichen Beurteilungsgespräche zwischen Lehrern, Eltern und Kindern genügten nicht. Besonders Eltern würden sich bisweilen in falscher Sicherheit wiegen, bis mit den Noten das böse Erwachen kommt. Zudem seien Prädikate wie «Lernziel erreicht» beliebig.

Die Vertreter der Lehrerschaft warnten vergebens, es würde lediglich eine Scheingenauigkeit vorgegaukelt. Noten hätten für Schulstarter einen beschränkten Aussagewert, meist wirkten sie nur auf leistungsstärkere Schüler motivierend. Darüber hinaus entstünde eine «trügerische Noten-Durchschnittsrechnerei». Es sind die Argumente, die auch in den kommenden Monaten wieder vermehrt zu hören sein dürften.

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