Johann Heinrich Pestalozzi hatte im 18. Jahrhundert das Ziel, den
Menschen selbständiger und mündiger zu machen, um dadurch auch die Demokratie
und die Unabhängigkeit des Landes zu stärken. Er gründete dafür zahlreiche
Institutionen, in denen das Lesen und das Schreiben unterrichtet wurden. Als
Folge davon stieg die Alphabetisierungsrate in der Schweiz rasch an. Die Lese-
und Schreibkompetenzen bereiteten die Schweiz ideal auf die erste industrielle
Revolution vor, welche bald darauf folgen sollte. Zu dieser Zeit verschwanden
viele Berufe, und es entstanden neue. Das Handwerk etwa zog in die Fabriken
ein, wo die Nachfrage nach Buchhaltung, Administration und weiteren
Dienstleistungen wuchs – alles Gebiete, bei denen die neuen Kompetenzen
unentbehrlich waren.
Pestalozzi und die digitale Revolution, NZZ, 17.11. Gastkommentar von Martin Vetterli
Auch der besser ausgebildeten Bevölkerungsschicht, die bereits lesen und
schreiben konnte, verlangte die erste industrielle Revolution neue Fähigkeiten
ab. So gab es damals nur wenige Ingenieure und Techniker im Land, denn es
fehlten die Schulen und Professoren, die diese neuen Fächer beherrschten und
sie unterrichten konnten. Dank dem unermüdlichen Einsatz von Menschen wie dem
Politiker und Unternehmer Alfred Escher konnten aber auch diese Anforderungen angegangen
werden. Und zwar durch die Gründung des Polytechnikums, des Vorgängers der
heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschulen, und mit dem Ruf nach Experten
aus dem Ausland, die diese Wissenslücke schliessen konnten. Auf diese Weise
wurden im 19. Jahrhundert unentbehrliche Grundsteine für den heutigen Bildungs-
und Forschungsplatz Schweiz gelegt.
Heute steht uns eine vierte industrielle Revolution bevor, angetrieben
durch die aufkommenden digitalen, robotischen und biologischen Technologien.
Und wieder stellt sich die Frage, welche Berufe entstehen und welche verloren
gehen werden. Die Antwort ist offen, es scheint sich aber klar abzuzeichnen,
welche neuen Kompetenzen die Voraussetzung für die Berufe von morgen sein
werden: Es sind die digitalen Fähigkeiten, oder besser: die analytischen
Kenntnisse aus der digitalen Welt.
Es geht dabei natürlich nicht darum, dass in Zukunft alle zum
Programmierer oder zur Datenwissenschafterin werden. Ein Verständnis der
Denkweisen in der Computerwelt und generell der Prinzipien der digitalen Welt
aber wird das A und O für die meisten Berufe von morgen sein, ganz so, wie es
das Lesen und das Schreiben einst für Buchhaltung oder Administration waren.
In der Schweiz besteht gerade auf diesem Gebiet ein grosser Aufholbedarf,
ähnlich wie zu den Zeiten von Pestalozzi und Escher. Im Vergleich zu Ländern
wie den USA oder Grossbritannien bieten wir unseren Schülern, Studenten und der
Bevölkerung nicht genügend Möglichkeiten, ihre Kenntnisse zu erweitern und zu
vertiefen. Was wir brauchen, ist ein Ansatz, wie ihn damals Pestalozzi vor
Augen hatte, jetzt aber in digitaler Form: erschwingliche und idealerweise auch
gleich online zugängliche Kurse über die wichtigsten Prinzipien der digitalen
Welt, von Algorithmen bis zur Datenanalyse.
An der EPFL in Lausanne arbeiten wir bereits daran. Als Vorreiter bieten
wir zum Beispiel bereits seit dem Jahre 2012 die sogenannten Massive Open
Online Courses an. Mit diesen offenen Online-Kursen haben wir schon über 1,9
Millionen Benutzer aus der ganzen Welt erreicht. Zurzeit sind bei uns rund 81
Kurse im Angebot, und über 30 sind in Vorbereitung. Die Kurse richten sich
grundsätzlich an Studierende und umfassen eine breite Palette von Fächern.
Umfragen zeigen, dass die Kurse in Computerwissenschaften am
beliebtesten sind und dass zwei Drittel der Kursteilnehmer nicht Studierende
sind, sondern Erwerbstätige, die sich digitale Fähigkeiten für ihre Fortbildung
aneignen möchten.
Dies zeigt schön auf, dass ein modernes Bildungssystem nicht nur gute
Computerwissenschafter an Universitäten ausbilden muss; digitale Kenntnisse
werden auf allen Stufen der Berufsbildung und der Weiterbildung eine immer
wichtigere Rolle spielen. Und auch in der Sicherheitspolitik werden
Computerwissenschaften immer ausschlaggebender sein. Ich denke etwa an den
Schutz der Privatsphäre, aber auch an die mit der Digitalisierung
einhergehenden gesellschaftlichen Risiken.
Eine Zusammenarbeit der Eidgenössischen Technischen Hochschulen mit der
Berufsbildung, dem Verteidigungswesen und der Fortbildung im Allgemeinen wird
entscheidend sein für den Erfolg der Schweiz in der vierten industriellen
Revolution. Es ist die Aufgabe des Staates und unserer Schulen, diese
Kenntnisse jetzt zu vermitteln, um in Zukunft allen eine neue Form der digitalen
Mündigkeit zu ermöglichen – ganz nach dem Vorbild von Pestalozzi und Escher.
Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne.
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