18. November 2017

Pestalozzi und die digitale Revolution

Johann Heinrich Pestalozzi hatte im 18. Jahrhundert das Ziel, den Menschen selbständiger und mündiger zu machen, um dadurch auch die Demokratie und die Unabhängigkeit des Landes zu stärken. Er gründete dafür zahlreiche Institutionen, in denen das Lesen und das Schreiben unterrichtet wurden. Als Folge davon stieg die Alphabetisierungsrate in der Schweiz rasch an. Die Lese- und Schreibkompetenzen bereiteten die Schweiz ideal auf die erste industrielle Revolution vor, welche bald darauf folgen sollte. Zu dieser Zeit verschwanden viele Berufe, und es entstanden neue. Das Handwerk etwa zog in die Fabriken ein, wo die Nachfrage nach Buchhaltung, Administration und weiteren Dienstleistungen wuchs – alles Gebiete, bei denen die neuen Kompetenzen unentbehrlich waren.
Pestalozzi und die digitale Revolution, NZZ, 17.11. Gastkommentar von Martin Vetterli


Auch der besser ausgebildeten Bevölkerungsschicht, die bereits lesen und schreiben konnte, verlangte die erste industrielle Revolution neue Fähigkeiten ab. So gab es damals nur wenige Ingenieure und Techniker im Land, denn es fehlten die Schulen und Professoren, die diese neuen Fächer beherrschten und sie unterrichten konnten. Dank dem unermüdlichen Einsatz von Menschen wie dem Politiker und Unternehmer Alfred Escher konnten aber auch diese Anforderungen angegangen werden. Und zwar durch die Gründung des Polytechnikums, des Vorgängers der heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschulen, und mit dem Ruf nach Experten aus dem Ausland, die diese Wissenslücke schliessen konnten. Auf diese Weise wurden im 19. Jahrhundert unentbehrliche Grundsteine für den heutigen Bildungs- und Forschungsplatz Schweiz gelegt.
Heute steht uns eine vierte industrielle Revolution bevor, angetrieben durch die aufkommenden digitalen, robotischen und biologischen Technologien. Und wieder stellt sich die Frage, welche Berufe entstehen und welche verloren gehen werden. Die Antwort ist offen, es scheint sich aber klar abzuzeichnen, welche neuen Kompetenzen die Voraussetzung für die Berufe von morgen sein werden: Es sind die digitalen Fähigkeiten, oder besser: die analytischen Kenntnisse aus der digitalen Welt.

Es geht dabei natürlich nicht darum, dass in Zukunft alle zum Programmierer oder zur Datenwissenschafterin werden. Ein Verständnis der Denkweisen in der Computerwelt und generell der Prinzipien der digitalen Welt aber wird das A und O für die meisten Berufe von morgen sein, ganz so, wie es das Lesen und das Schreiben einst für Buchhaltung oder Administration waren.

In der Schweiz besteht gerade auf diesem Gebiet ein grosser Aufholbedarf, ähnlich wie zu den Zeiten von Pestalozzi und Escher. Im Vergleich zu Ländern wie den USA oder Grossbritannien bieten wir unseren Schülern, Studenten und der Bevölkerung nicht genügend Möglichkeiten, ihre Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Was wir brauchen, ist ein Ansatz, wie ihn damals Pestalozzi vor Augen hatte, jetzt aber in digitaler Form: erschwingliche und idealerweise auch gleich online zugängliche Kurse über die wichtigsten Prinzipien der digitalen Welt, von Algorithmen bis zur Datenanalyse.
An der EPFL in Lausanne arbeiten wir bereits daran. Als Vorreiter bieten wir zum Beispiel bereits seit dem Jahre 2012 die sogenannten Massive Open Online Courses an. Mit diesen offenen Online-Kursen haben wir schon über 1,9 Millionen Benutzer aus der ganzen Welt erreicht. Zurzeit sind bei uns rund 81 Kurse im Angebot, und über 30 sind in Vorbereitung. Die Kurse richten sich grundsätzlich an Studierende und umfassen eine breite Palette von Fächern.

Umfragen zeigen, dass die Kurse in Computerwissenschaften am beliebtesten sind und dass zwei Drittel der Kursteilnehmer nicht Studierende sind, sondern Erwerbstätige, die sich digitale Fähigkeiten für ihre Fortbildung aneignen möchten.

Dies zeigt schön auf, dass ein modernes Bildungssystem nicht nur gute Computerwissenschafter an Universitäten ausbilden muss; digitale Kenntnisse werden auf allen Stufen der Berufsbildung und der Weiterbildung eine immer wichtigere Rolle spielen. Und auch in der Sicherheitspolitik werden Computerwissenschaften immer ausschlaggebender sein. Ich denke etwa an den Schutz der Privatsphäre, aber auch an die mit der Digitalisierung einhergehenden gesellschaftlichen Risiken.

Eine Zusammenarbeit der Eidgenössischen Technischen Hochschulen mit der Berufsbildung, dem Verteidigungswesen und der Fortbildung im Allgemeinen wird entscheidend sein für den Erfolg der Schweiz in der vierten industriellen Revolution. Es ist die Aufgabe des Staates und unserer Schulen, diese Kenntnisse jetzt zu vermitteln, um in Zukunft allen eine neue Form der digitalen Mündigkeit zu ermöglichen – ganz nach dem Vorbild von Pestalozzi und Escher.

Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne.


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