21. September 2017

Lieber Haar- als Sprachpflege

Für Sprachpflege bleibt kaum mehr Musse. Dabei würde es sich lohnen, in der Flut an Geschriebenem wieder mehr Sorgfalt anzumahnen – aber auch vermehrt Diskurse über sprachliche Entwicklungen anzustossen. 
Innehalten im Tempodiktat, NZZ; 21.9. von Urs Bühler



Da sitzen wir also im Zug, beugen uns über Handys und hämmern unsere Phrasen hinein. Hämmern? Nein, das trifft den Sachverhalt nicht ganz – so viel Sorgfalt in der Wortwahl muss schon sein: Die Finger wieseln vielmehr über die virtuellen Tasten, schneller oft, als ein Gedanke wirklich gefasst ist. «Zack!», schon ist eine eilige Botschaft auf Twitter verbreitet. Und «wusch!», schon eine SMS verschickt. Gut, vielleicht hat man dabei das eine oder andere Komma unterschlagen und aufgrund Autokorrektur herzlose statt herzliche Grüsse versandt, wie es dem Verfasser tatsächlich einmal widerfahren ist. Gegen die Tücken einer flüchtigen Kommunikation, die zu Schludrigkeiten verleitet, ist niemand gefeit.
Ja, der schriftliche Austausch erlebt eine Renaissance, zumindest auf elektronischem Weg. Man könnte gar behaupten: Noch nie ist so viel getextet worden wie jetzt – in den letzten hundert Jahren aber auch noch nie so fehlerreich und liederlich, keineswegs nur im Privaten.

Klagen aus den Schulen
Dass in der Oberstufe fehlerhafter geschrieben wird als noch vor zehn Jahren, ist angesichts verbreiteter Klagen aus dem Lehrkörper kaum zu bestreiten. An den Hochschulen sieht es nicht viel besser aus: Untersuchungen fördern erhebliche Mängel bei Studienanfängern zutage, was die Korrektheit und Varianz des schriftlichen Ausdrucks betrifft. Diesbezüglich ist auch aus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern unlängst gegenüber der NZZein «dramatischer Kompetenzverlust» des akademischen Nachwuchses beklagt worden, ein sprachlich «zum Teil erschreckendes Niveau». Defizite dieser Art sind nicht ganz zu entkoppeln von Denkmängeln. Wer notorisch das Komma nach eingeschobenem Nebensatz unterschlägt, entwickelt wohl auch keine Meisterschaft darin, unter- von übergeordneten Gedanken zu unterscheiden.

Nun wäre es zu simpel, dieses Malaise allein dem elektronischen Schriftverkehr und dessen Tempo anzulasten. Denn auch in anderen Bereichen schwindet die Bereitschaft, Sorgfalt einzufordern. Wer es tut, erntet bestenfalls mitleidige, nicht selten abschätzige Blicke – selbst in Kreisen, die sich eigentlich professionell mit Sprache beschäftigen müssten: Bei Pädagogen grassiert die Auffassung, das Anstreichen von Fehlern in Aufsätzen sei zu defizitorientiert und man fördere lieber Kreativität als Sattelfestigkeit. Und auf Redaktionen wird bald inflationär der Unsitte gefrönt, indirekte Rede nicht mit dem Konjunktiv zu kennzeichnen. Dass damit die journalistische Grundregel mit Füssen getreten wird, fremde Aussagen klar von eigenen abzugrenzen, wird achselzuckend hingenommen.
Ebenso augenfällig ist das schwindende Bewusstsein für vollständigen Satzbau. Wer mit Bedacht gelegentlich eine Ellipse einstreut, einen unvollständigen Satz, der wählt damit ein Stilmittel. Wird das Fragmentarische hingegen zum Normalfall, haben wir ein Problem, das nicht selten auch dem Verständnis hinderlich ist. Tatsächlich wird nicht nur in Schulaufsätzen die Syntax mit derartiger Hartnäckigkeit malträtiert, dass es uns bekümmern müsste.

Lieber Haar- statt Sprachpflege
Das ist weniger der Fehler des Nachwuchses als derjenige der Erwachsenen, die mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Wer sich in der Kunst üben will, Regeln bewusst zu brechen, braucht ein Grundwissen über diese Regeln. Und diese Basis wird, obwohl man das durchaus lustvoll tun könnte, in der obligatorischen Schulzeit immer weniger gelegt.
Mit Genugtuung mögen all jene solche Entwicklungen beobachten, welche Sprachnormen gerne verteufeln mit dem Hinweis, diese hinderten Bildungsferne an der Teilhabe. Mit solchen Argumenten wird die Grundidee der Aufklärung, alle Menschen zum Erreichen eines höheren Bildungsstands zu befähigen, unterwandert und dafür eine Nivellierung nach unten in Kauf genommen. Dabei ist eine überregionale Schriftsprache mit all ihren Normen doch einst geschaffen worden, um die überregionale Verständigung zu fördern.
Unseligerweise geht dem geschilderten Schlendrian oft ein Mangel an Bereitschaft einher, am Sprachstil zu feilen. Leute pflegen ihr Haar, ihre Haut, ihren Rasen und vielleicht ihr Image. Aber die Sprache zu pflegen, halten allzu viele allzu oft für lässlich. «Pflegen» heisst laut der westgotischen Wurzel des Begriffs, sich für etwas einzusetzen. Und sich für Sprache und ihre Möglichkeiten einzusetzen, wie es im 17. Jahrhundert namentlich die Mönche in den Klöstern taten, müsste doch auch heute zu den nobelsten Aufgaben zählen. Denn gute Sprache ist so wenig ein fixer Wert wie akkurate Kleidung – die Grundlagen sind immer wieder neu zu verhandeln, zu hinterfragen, durch einzelne Gruppen, aber auch durch die ganze Gesellschaft.

Es geht dabei keineswegs nur um eine Haltung gegenüber fremdsprachlichen Einflüssen, sei es früher des Französischen oder heute des Englischen (in Zeiten, da das Schweizer Fernsehen seinen Heimat-Zweiteiler als «Das grosse TV-Event-Movie» ankündigt). Es geht ebenso um die Frage, wie zielführend die Gleichmacherei mithilfe geschlechtsneutraler Pluralformen wie «Studierende» sei oder wie sehr formale Korrektheit noch zum Bildungskanon gehören solle – und in das Pflichtenheft professioneller Schreiberlinge. Ist es beispielsweise einfach hinzunehmen, dass dem Zeitdruck des Online-Journalismus die Sorgfalt geopfert wird, indem Texte oft gar nicht mehr in ausgedruckter Form durchgelesen werden? Und ja, es geht auch um die Frage, ob Hochschulen wirklich vermehrt auf Englisch setzen und der deutschen Sprache damit ein wichtiges Entwicklungsfeld entziehen sollen.

Es gibt Hoffnung, natürlich
Doch halt: Obgleich wir nun leicht kulturpessimistisch geworden sind, gibt es Hoffnung. Zahlreiche Leserzuschriften auf Artikel, in denen wir sprachliche Zeiterscheinungen aufs Korn nehmen, belegen ein waches Interesse an Sprachpflege. Auf NZZ.ch wurde unlängst gar ein simpel konstruierter Rechtschreibtest zum Renner, und populärwissenschaftliche Bücher zu sprachlichen Zweifelsfällen finden reissenden Absatz.


Es gibt also noch immer genügend Zeitgenossen, die gerne innehalten inmitten der Textflut und des Tempodiktats; die nach dem Wort fahnden, das exakt den Sachverhalt trifft, an Sätzen feilen, bis sie verständlich und rhythmisch sind. Das ist oft ein Kampf, und wer glaubt, dieser bleibe professionellen Schreibern erspart, dem sei zum Trost versichert: Selbst wenn es am Ende im besten Fall so aussehen mag, als wäre alles ganz leicht von der Hand gegangen, ringen auch wir tagtäglich um Formulierungen. Denn die eigene Sprache ist wie ein Kind – sie entgleitet uns immer wieder bei all unseren Bemühungen, sie zu erziehen. Und dafür lieben wir sie.

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