Der Fremdsprachenunterricht ist erst seit der Jahrtausendwende ein
Zankapfel
Am Wochenende wird wieder einmal über den Fremdsprachenunterricht
abgestimmt, diesmal im Kanton Luzern. Ein Ende des Deutschschweizer
Dauerstreits um Frühfranzösisch und Frühenglisch ist jedoch nicht in Sicht.
Die grosse Schweizer Disharmonie, NZZ, 20.9. von Christophe Büchi
Die Luzerner Stimmbürger müssen am kommenden Wochenende über eine
Volksinitiative entscheiden, die nur noch eine Fremdsprache auf der Primarstufe
zulassen will. Nachdem der Kanton Zürich im Mai eine ähnliche Vorlage deutlich
abgelehnt hat – und danach das Thurgauer Kantonsparlament seinen Entscheid für
nur eine Fremdsprache umgestossen hat –, sieht es auch in Luzern eher nach
einer Ablehnung aus, zumal das Kantonsparlament mit 72 zu 42 Stimmen die
Initiative klar verworfen hat. Zudem: Im März 2015 haben sich die Nidwaldner
Stimmbürger für die Beibehaltung von Französisch und von Englisch auf der
Primarstufe entschieden. Als Indiz für ein bevorstehendes Luzerner Nein könnte
zudem die Tatsache gewertet werden, dass der Abstimmungskampf keine hohen
Wellen wirft. Aber Achtung: Die Ruhe könnte auch täuschen. Dennoch wäre eine
Annahme der Vorlage eine Überraschung.
Ein Dauerbrenner
Eine baldige Ruhe an der Deutschschweizer Fremdsprachenfront ist dennoch
nicht in Sicht. So nahm das Zuger Parlament neulich eine Motion von SVP und FDP
an, die von der Exekutive eine Vorlage für die Abschaffung des Frühfranzösisch
verlangt. Pikantes Detail: Der Entscheid wurde mit 34 Ja- zu 40 Nein-Stimmen
gefällt – weil aber in Zug für die Nicht-Überweisung eine Zweidrittelmehrheit
erforderlich ist, gilt die Motion als überwiesen. Nach Luzern und Zug dürfte
der Fremdsprachenunterricht in den nächsten Monaten noch in weiteren Kantonen –
unter anderem in Solothurn – aufs Tapet kommen. Dieses Loch-Ness-Ungeheuer der
Schweizer Sprachenpolitik bleibt uns also erhalten.
Man sieht: Die Schweiz ist zwar international als viersprachiges Land
bekannt, in dem die friedliche Koexistenz der Sprachengruppen kaum Probleme
aufwirft; aber dieses idyllische Bild muss leicht retouchiert werden. Seit der
Jahrtausendwende ist der Fremdsprachenunterricht in der Deutschschweiz zu einem
politischen Dauerbrenner geworden. Und zwischen 2001 und 2006 fand bereits ein
halbes Dutzend kantonaler Abstimmungen zu Volksinitiativen statt, die nur noch
eine Fremdsprache in der Primarschule zulassen wollten. Diese Initiativen
wurden zwar durchs Band abgelehnt, dennoch schwelt der Brand weiter.
Als Folge davon ist in den welschen Medien immer wieder von einer gegen
das Französische gerichteten «guerre de langue», von einem veritablen
Sprachenkrieg, die Rede. Natürlich ist diese martialische Rede massiv
übertrieben: Es geht ja in keinem Kanton um die Abschaffung des
Französischunterrichts, höchstens um dessen Verschiebung auf die Sekundarstufe.
Dennoch drückt sich hierin eine Besorgnis der grössten der Schweizer
Sprachminderheiten aus, die ernst genommen werden sollte.
Schweizer Paradox
Wenn man die Geschichte der Sprachenpolitik in der Schweiz überblickt,
kommt man zu einer überraschenden Feststellung. Noch nie wurde in der Schweiz
so regelmässig die Notwendigkeit beschworen, die Mehrsprachigkeit der
Bevölkerung und das Verständnis zwischen den Sprachregionen zu fördern, wie
seit dem Jahr 2000 – mit dem Resultat, dass noch nie so oft von einem
Sprachenzwist gesprochen wurde wie jetzt. Früher hingegen war die Förderung der
Mehrsprachigkeit für die Schweizer Politik kaum ein Thema – aber sie funktionierte.
Dass in der Schweizer Politik über Sprachen gesprochen wird, ist ohnehin
ein Phänomen der Neuzeit. Als 1848 der Schweizer Bundesstaat gegründet wurde,
hätte man beinahe die Sprachenfrage vergessen. Erst im letzten Moment wurde in
der Bundesverfassung ein kurzer Passus eingefügt, in dem Deutsch, Französisch
und Italienisch zu «Nationalsprachen» erklärt werden.
Bei der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 wurde dieser
Passus übernommen und zudem im Artikel über das Bundesgericht erstmals eine
gerechte Verteilung zwischen den Sprachgruppen festgeschrieben. Niemandem wäre
es in den Sinn gekommen, den Staat dazu zu verpflichten, etwas Besonderes für
die Mehrsprachigkeit zu unternehmen. Erst 1996 wurde ein Sprachenartikel
angenommen, in dem Bund und Kantone zur Pflege des Verständnisses zwischen den
Sprachregionen verpflichtet wurden. Dieser Artikel wurde 1999 auch in die heute
gültige Bundesverfassung aufgenommen. In der Sprachenpolitik wie in anderen
Fragen war man also in anderthalb Jahrhunderten vom «laisser-faire» zu einem
vorsichtigen staatlichen Interventionismus übergegangen.
Feinde des Schul-Föderalismus
Auch der Sprachenunterricht wurde nach und nach zu einem Politikum. Die
Bundesverfassung von 1848 war in Sachen Schulpolitik einsilbig, denn das
Schulwesen wurde den Kantonen überlassen. Die Bundesverfassung besagte nur,
dass der Bund eine Universität und eine technische Hochschule einrichten dürfe.
Die Universität wurde fallengelassen, dafür eine ETH gegründet. Diese kam nach
Zürich, weil Bern zuvor zur Bundesstadt geworden war. In der parlamentarischen
Debatte zur ETH erklärte ein Nationalrat, dass Zürich ohne diese Bundesgabe zur
Provinzstadt absinken könnte.
Mit der Totalrevision 1874 wurde die Schulpflicht in der
Bundesverfassung verankert; sonst galt weiterhin die kantonale Schulhoheit.
Eine Bresche freilich wurde in den Schulföderalismus geschlagen: Der Bund
durfte fortan das Turnen für die Buben organisieren, zwecks militärischer
Ertüchtigung – die preussische Armee hatte im Deutsch-Französischen Krieg
1870/71 einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und kurz darauf wurde auch die
eidgenössische Rekrutenprüfung eingeführt, mit der – mehr oder weniger
verheimlichten – Absicht, den konservativen Kantonen in Sachen Volksschule auf
die Finger zu schauen. Aber das oberste Prinzip der Sprachenpolitik war
weiterhin: «laisser faire» (les cantons). Der Bund soll nur einschreiten, wenn
es nötig ist.
In der Regel war es bis tief ins 20. Jahrhundert hinein so, dass der
Fremdsprachenunterricht erst in der Oberstufe und nur für die besseren Schüler
vorgesehen war. Im Übrigen galt: Die jungen Männer lernen Sprachen im Beruf und
im Militär, die jungen Frauen im Welschlandjahr oder sonst wo als Au-pair.
Spaltpilz Englisch
Mitte der 1930er Jahre, im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung, kam
dann die Forderung auf, die Kantone sollten vermehrt die anderen Landessprachen
pflegen. Aber erst 1974 gab die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) eine
entsprechende Empfehlung an die Kantone heraus. Die meisten Deutschschweizer
Kantone führten hierauf den Französischunterricht ab dem 5. Schuljahr ein,
während die welschen Kantone den Deutschunterricht vorverlegten.
In der Folge wurde die Vereinheitlichung der kantonalen Schulpolitiken,
unter dem sympathischeren Begriff «Harmonisierung», immer mehr zum Thema. Das
Resultat waren aber zu einem guten Teil Disharmonie und Dissens. Der neue
Spaltpilz hiess: Englisch. Der Aufstieg des Angloamerikanischen zur «globalen»,
zur Weltsprache stellte Ende des 20. Jahrhunderts das Schweizer
Fremdsprachenmodell – Frühfranzösisch für Deutschschweizer, Frühdeutsch für
Romands sowie Deutsch und Französisch für die vorbildlichen Rätoromanen und
Italienischsprachigen – infrage. Als neuer Winkelried betätigte sich der
damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der einen kantonalen
Alleingang startete und den Englischunterricht pushte. In der Mehrheit der
Deutschschweizer Kantone musste hierauf das Französische dem Englischen den
Vortritt lassen – zum grossen Ärger der Romands.
Spaltung in zwei Lager
Die brisante Frage: Sollen die Deutschschweizer Schüler in der
Primarschule Englisch oder Französisch lernen?, wurde hierauf salomonisch
entschieden: beides! Inzwischen hatten die Erziehungswissenschafter und
Sprachdidaktiker ja auch die «kommunikative Wende» eingeläutet. Fortan
postulierten sie, dass der Sprachenunterricht vor allem (mündliche)
Kommunikation zum Ziel habe, und dabei gelte: Je früher man beginnt, desto
besser.
In der Folge konnte in der EDK der Riss zwischen Frühenglisch und
Frühfranzösisch nochmals mit Mühe und Not gekittet werden: Es wurde
entschieden, dass im Prinzip alle Kantone zwei Fremdsprachen in der
Primarschule einführen sollten, wobei die Reihenfolge offengelassen wurde. Das
Resultat war eine Spaltung der Kantone in zwei Lager. Eine Gruppe von Kantonen
beginnt heute den Fremdsprachenunterricht mit der zweiten Nationalsprache, eine
andere mit Englisch. Zum ersten Lager gehören die welschen Kantone sowie die
Kantone der westlichen Deutschschweiz, die tapfer mit Französisch anfangen. Zum
zweiten «English first»-Camp gehören Zürich und der Aargau wie auch die Ost-
und die Zentralschweiz.
Indem die EDK beschloss, zwei Fremdsprachen in der Primarschule zur Norm
zu erklären, konnte ein Burgfrieden geschlossen werden. Mit dem
Harmos-Konkordat und dem Lehrplan 21 wurde die neue Doktrin auch zügig
umgesetzt. Nur: Die teilweise überhastet und ungenügend vorbereitete Einführung
von zwei Fremdsprachen auf Primarstufe wurde in der Deutschschweiz von Anfang
an bekämpft, nicht zuletzt von einem Teil der Lehrerschaft. Wie erwähnt kam es
postwendend zu einer ersten Welle von Volksinitiativen, die oft von der SVP und
von dieser nahestehenden Kreisen stammten. Eine neue Welle rollt zurzeit über
die Deutschschweizer Kantone.
Bis jetzt hält der mit dem EDK-Modell 3/5 (eine erste Fremdsprache ab
dem 3. Schuljahr, eine zweite ab dem 5. Schuljahr) errichtete Damm. Aber er ist
brüchig. Er wird nur halten, wenn der Nachweis erbracht werden kann, dass
dieses Sprachenkonzept zur Förderung der Mehrsprachigkeit beiträgt. Ob dies
gelingt? Zweifel sind erlaubt.
Ein Moratorium, bitte
Einstweilen wäre es wohl von Vorteil, wenn sich die Kantone auf ein
Moratorium einigen würden: Das zurzeit geltende Modell 3/5 sollte noch einige
Jahre ausprobiert und vor allem evaluiert werden. Danach wäre eine
schonungslose Bilanz fällig. Sollte es sich erweisen, dass das jetzige Modell
nicht zu einer merklichen Verbesserung der Sprachenkenntnisse der jungen Leute
führt, müssten die Konsequenzen gezogen werden. In diesem Fall wäre es wohl am
besten, wenn den Kantonen wieder die Freiheit zurückgegeben würde, ihre eigenen
Lösungen zu entwickeln.
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