20. September 2017

Dauerbrenner Fremdsprachen

Der Fremdsprachenunterricht ist erst seit der Jahrtausendwende ein Zankapfel
Am Wochenende wird wieder einmal über den Fremdsprachenunterricht abgestimmt, diesmal im Kanton Luzern. Ein Ende des Deutschschweizer Dauerstreits um Frühfranzösisch und Frühenglisch ist jedoch nicht in Sicht.
Die grosse Schweizer Disharmonie, NZZ, 20.9. von Christophe Büchi 


Die Luzerner Stimmbürger müssen am kommenden Wochenende über eine Volksinitiative entscheiden, die nur noch eine Fremdsprache auf der Primarstufe zulassen will. Nachdem der Kanton Zürich im Mai eine ähnliche Vorlage deutlich abgelehnt hat – und danach das Thurgauer Kantonsparlament seinen Entscheid für nur eine Fremdsprache umgestossen hat –, sieht es auch in Luzern eher nach einer Ablehnung aus, zumal das Kantonsparlament mit 72 zu 42 Stimmen die Initiative klar verworfen hat. Zudem: Im März 2015 haben sich die Nidwaldner Stimmbürger für die Beibehaltung von Französisch und von Englisch auf der Primarstufe entschieden. Als Indiz für ein bevorstehendes Luzerner Nein könnte zudem die Tatsache gewertet werden, dass der Abstimmungskampf keine hohen Wellen wirft. Aber Achtung: Die Ruhe könnte auch täuschen. Dennoch wäre eine Annahme der Vorlage eine Überraschung.

Ein Dauerbrenner
Eine baldige Ruhe an der Deutschschweizer Fremdsprachenfront ist dennoch nicht in Sicht. So nahm das Zuger Parlament neulich eine Motion von SVP und FDP an, die von der Exekutive eine Vorlage für die Abschaffung des Frühfranzösisch verlangt. Pikantes Detail: Der Entscheid wurde mit 34 Ja- zu 40 Nein-Stimmen gefällt – weil aber in Zug für die Nicht-Überweisung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, gilt die Motion als überwiesen. Nach Luzern und Zug dürfte der Fremdsprachenunterricht in den nächsten Monaten noch in weiteren Kantonen – unter anderem in Solothurn – aufs Tapet kommen. Dieses Loch-Ness-Ungeheuer der Schweizer Sprachenpolitik bleibt uns also erhalten.

Man sieht: Die Schweiz ist zwar international als viersprachiges Land bekannt, in dem die friedliche Koexistenz der Sprachengruppen kaum Probleme aufwirft; aber dieses idyllische Bild muss leicht retouchiert werden. Seit der Jahrtausendwende ist der Fremdsprachenunterricht in der Deutschschweiz zu einem politischen Dauerbrenner geworden. Und zwischen 2001 und 2006 fand bereits ein halbes Dutzend kantonaler Abstimmungen zu Volksinitiativen statt, die nur noch eine Fremdsprache in der Primarschule zulassen wollten. Diese Initiativen wurden zwar durchs Band abgelehnt, dennoch schwelt der Brand weiter.

Als Folge davon ist in den welschen Medien immer wieder von einer gegen das Französische gerichteten «guerre de langue», von einem veritablen Sprachenkrieg, die Rede. Natürlich ist diese martialische Rede massiv übertrieben: Es geht ja in keinem Kanton um die Abschaffung des Französischunterrichts, höchstens um dessen Verschiebung auf die Sekundarstufe. Dennoch drückt sich hierin eine Besorgnis der grössten der Schweizer Sprachminderheiten aus, die ernst genommen werden sollte.

Schweizer Paradox
Wenn man die Geschichte der Sprachenpolitik in der Schweiz überblickt, kommt man zu einer überraschenden Feststellung. Noch nie wurde in der Schweiz so regelmässig die Notwendigkeit beschworen, die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung und das Verständnis zwischen den Sprachregionen zu fördern, wie seit dem Jahr 2000 – mit dem Resultat, dass noch nie so oft von einem Sprachenzwist gesprochen wurde wie jetzt. Früher hingegen war die Förderung der Mehrsprachigkeit für die Schweizer Politik kaum ein Thema – aber sie funktionierte.

Dass in der Schweizer Politik über Sprachen gesprochen wird, ist ohnehin ein Phänomen der Neuzeit. Als 1848 der Schweizer Bundesstaat gegründet wurde, hätte man beinahe die Sprachenfrage vergessen. Erst im letzten Moment wurde in der Bundesverfassung ein kurzer Passus eingefügt, in dem Deutsch, Französisch und Italienisch zu «Nationalsprachen» erklärt werden.

Bei der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 wurde dieser Passus übernommen und zudem im Artikel über das Bundesgericht erstmals eine gerechte Verteilung zwischen den Sprachgruppen festgeschrieben. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, den Staat dazu zu verpflichten, etwas Besonderes für die Mehrsprachigkeit zu unternehmen. Erst 1996 wurde ein Sprachenartikel angenommen, in dem Bund und Kantone zur Pflege des Verständnisses zwischen den Sprachregionen verpflichtet wurden. Dieser Artikel wurde 1999 auch in die heute gültige Bundesverfassung aufgenommen. In der Sprachenpolitik wie in anderen Fragen war man also in anderthalb Jahrhunderten vom «laisser-faire» zu einem vorsichtigen staatlichen Interventionismus übergegangen.

Feinde des Schul-Föderalismus
Auch der Sprachenunterricht wurde nach und nach zu einem Politikum. Die Bundesverfassung von 1848 war in Sachen Schulpolitik einsilbig, denn das Schulwesen wurde den Kantonen überlassen. Die Bundesverfassung besagte nur, dass der Bund eine Universität und eine technische Hochschule einrichten dürfe. Die Universität wurde fallengelassen, dafür eine ETH gegründet. Diese kam nach Zürich, weil Bern zuvor zur Bundesstadt geworden war. In der parlamentarischen Debatte zur ETH erklärte ein Nationalrat, dass Zürich ohne diese Bundesgabe zur Provinzstadt absinken könnte.
Mit der Totalrevision 1874 wurde die Schulpflicht in der Bundesverfassung verankert; sonst galt weiterhin die kantonale Schulhoheit. Eine Bresche freilich wurde in den Schulföderalismus geschlagen: Der Bund durfte fortan das Turnen für die Buben organisieren, zwecks militärischer Ertüchtigung – die preussische Armee hatte im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und kurz darauf wurde auch die eidgenössische Rekrutenprüfung eingeführt, mit der – mehr oder weniger verheimlichten – Absicht, den konservativen Kantonen in Sachen Volksschule auf die Finger zu schauen. Aber das oberste Prinzip der Sprachenpolitik war weiterhin: «laisser faire» (les cantons). Der Bund soll nur einschreiten, wenn es nötig ist.

In der Regel war es bis tief ins 20. Jahrhundert hinein so, dass der Fremdsprachenunterricht erst in der Oberstufe und nur für die besseren Schüler vorgesehen war. Im Übrigen galt: Die jungen Männer lernen Sprachen im Beruf und im Militär, die jungen Frauen im Welschlandjahr oder sonst wo als Au-pair.

Spaltpilz Englisch
Mitte der 1930er Jahre, im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung, kam dann die Forderung auf, die Kantone sollten vermehrt die anderen Landessprachen pflegen. Aber erst 1974 gab die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) eine entsprechende Empfehlung an die Kantone heraus. Die meisten Deutschschweizer Kantone führten hierauf den Französischunterricht ab dem 5. Schuljahr ein, während die welschen Kantone den Deutschunterricht vorverlegten.

In der Folge wurde die Vereinheitlichung der kantonalen Schulpolitiken, unter dem sympathischeren Begriff «Harmonisierung», immer mehr zum Thema. Das Resultat waren aber zu einem guten Teil Disharmonie und Dissens. Der neue Spaltpilz hiess: Englisch. Der Aufstieg des Angloamerikanischen zur «globalen», zur Weltsprache stellte Ende des 20. Jahrhunderts das Schweizer Fremdsprachenmodell – Frühfranzösisch für Deutschschweizer, Frühdeutsch für Romands sowie Deutsch und Französisch für die vorbildlichen Rätoromanen und Italienischsprachigen – infrage. Als neuer Winkelried betätigte sich der damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der einen kantonalen Alleingang startete und den Englischunterricht pushte. In der Mehrheit der Deutschschweizer Kantone musste hierauf das Französische dem Englischen den Vortritt lassen – zum grossen Ärger der Romands.

Spaltung in zwei Lager
Die brisante Frage: Sollen die Deutschschweizer Schüler in der Primarschule Englisch oder Französisch lernen?, wurde hierauf salomonisch entschieden: beides! Inzwischen hatten die Erziehungswissenschafter und Sprachdidaktiker ja auch die «kommunikative Wende» eingeläutet. Fortan postulierten sie, dass der Sprachenunterricht vor allem (mündliche) Kommunikation zum Ziel habe, und dabei gelte: Je früher man beginnt, desto besser.
In der Folge konnte in der EDK der Riss zwischen Frühenglisch und Frühfranzösisch nochmals mit Mühe und Not gekittet werden: Es wurde entschieden, dass im Prinzip alle Kantone zwei Fremdsprachen in der Primarschule einführen sollten, wobei die Reihenfolge offengelassen wurde. Das Resultat war eine Spaltung der Kantone in zwei Lager. Eine Gruppe von Kantonen beginnt heute den Fremdsprachenunterricht mit der zweiten Nationalsprache, eine andere mit Englisch. Zum ersten Lager gehören die welschen Kantone sowie die Kantone der westlichen Deutschschweiz, die tapfer mit Französisch anfangen. Zum zweiten «English first»-Camp gehören Zürich und der Aargau wie auch die Ost- und die Zentralschweiz.

Indem die EDK beschloss, zwei Fremdsprachen in der Primarschule zur Norm zu erklären, konnte ein Burgfrieden geschlossen werden. Mit dem Harmos-Konkordat und dem Lehrplan 21 wurde die neue Doktrin auch zügig umgesetzt. Nur: Die teilweise überhastet und ungenügend vorbereitete Einführung von zwei Fremdsprachen auf Primarstufe wurde in der Deutschschweiz von Anfang an bekämpft, nicht zuletzt von einem Teil der Lehrerschaft. Wie erwähnt kam es postwendend zu einer ersten Welle von Volksinitiativen, die oft von der SVP und von dieser nahestehenden Kreisen stammten. Eine neue Welle rollt zurzeit über die Deutschschweizer Kantone.

Bis jetzt hält der mit dem EDK-Modell 3/5 (eine erste Fremdsprache ab dem 3. Schuljahr, eine zweite ab dem 5. Schuljahr) errichtete Damm. Aber er ist brüchig. Er wird nur halten, wenn der Nachweis erbracht werden kann, dass dieses Sprachenkonzept zur Förderung der Mehrsprachigkeit beiträgt. Ob dies gelingt? Zweifel sind erlaubt.

Ein Moratorium, bitte
Einstweilen wäre es wohl von Vorteil, wenn sich die Kantone auf ein Moratorium einigen würden: Das zurzeit geltende Modell 3/5 sollte noch einige Jahre ausprobiert und vor allem evaluiert werden. Danach wäre eine schonungslose Bilanz fällig. Sollte es sich erweisen, dass das jetzige Modell nicht zu einer merklichen Verbesserung der Sprachenkenntnisse der jungen Leute führt, müssten die Konsequenzen gezogen werden. In diesem Fall wäre es wohl am besten, wenn den Kantonen wieder die Freiheit zurückgegeben würde, ihre eigenen Lösungen zu entwickeln.


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