Schreiben nach Gehör, diese umstrittene Schreiblern-Methode, gerät immer stärker ins Schussfeld der Kritik. Wann ist endlich Schluss mit dem Selbstverwirklichungs-Trip von selbsternannten Experten, die mit Hilfe willfähriger Politiker unsere Schule konsequent an die Wand fahren? Wann beginnen bei uns endlich auch die Eltern, sich Fragen zu stellen und diesem Treiben ein Ende zu setzen? (uk)
Kinder sollen wieder richtig schreiben lernen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8. von Florentine Fritzen
Immer mehr Bundesländer kehren ganz oder teilweise vom „Schreiben nach
Gehör“ in Grundschulen ab. In Baden-Württemberg und Hamburg ist die viel-
kritisierte Methode schon verboten – und vorgeschrieben, dass wieder auf
korrekte Rechtschreibung geachtet werden muss. Nordrhein-Westfalen erwägt das
ebenfalls: Nach Angaben des Schulministeriums lässt Ministerin Yvonne Gebauer
von der FDP im nächsten Schuljahr prüfen, wie
Rechtschreibung an den Grundschulen vermittelt wird. Derzeit herrscht dort wie
in vielen Bundesländern didaktische Freiheit, die Lehrer suchen sich ihre
Methoden also selbst aus. Anschließend will Gebauer zügig entscheiden, ob sie
das Schreiben nach Gehör, das wissenschaftlich „Lesen durch Schreiben“ heißt,
etwa per Erlass verbietet.
Ähnlich äußert sich die neue Bildungsministerin von Schleswig-Holstein,
Karin Prien von der CDU: „Ich habe große Skepsis gegenüber der Methode
Lesen durch Schreiben.“ Sie habe deshalb gerade die Entwürfe ihrer Vorgängerin
für neue Lehrpläne gestoppt und werde diese gemeinsam mit Fachleuten noch
einmal überarbeiten. Priens Parteikollegin Susanne Eisenmann, Kultusministerin
von Baden-Württemberg, sagt: „In Mathe war zwei und zwei schon immer vier und
nicht ungefähr vier. So muss es auch im Deutschunterricht sein.“ Und Ties Rabe,
der Hamburger Schulsenator von der SPD, meint: „Viele Lehrer haben zu lange
geglaubt, dass Kinder richtiges Schreiben mit Hilfe genialer
Unterrichtsmethoden im Vorbeigehen lernen. Aber Rechtschreibung muss man echt
üben.“
Auch Eltern und Pädagogen sehen mit Sorge, dass Kinder und Jugendliche
die deutsche Rechtschreibung immer schlechter beherrschen. Beim Schreiben nach
Gehör verfassen Schüler von Anfang an kleine Texte, ohne dass die Lehrerin
Fehler verbessert. Diktate gelten als verpönt. Die Folge: Im Bewusstsein der
Kinder verfestigt sich, dass richtiges Schreiben nicht so wichtig ist. „Dabei
wollen Kinder gleich das Richtige lernen, wollen wie die Erwachsenen
schreiben“, sagt die Potsdamer Grundschulpädagogin Agi Schründer, die Politiker
als Expertin berät.
In Schulen herrscht ein Methodenmix
„Die derzeitige Generation von Schülern liest und schreibt so wenig wie
keine zuvor, zumindest, was volle, komplexere Sätze betrifft“, sagt der
Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Wenn die
Jugendlichen dann Bewerbungsschreiben verfassten, träfen sie auf eine
„knallharte Gegenwelt“: „Da steht richtiges Schreiben für Zuverlässigkeit,
Verlässlichkeit und Ordnungssinn.“ Derzeit herrscht in den Schulen oft ein
Methodenmix; auf der reinen Lehre des „Lesens durch Schreiben“ aus den
siebziger Jahren beharren nur noch wenige. Aber in der Nachfolge des auch in
Deutschland tätigen, inzwischen verstorbenen Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen
unterstellen immer noch viele Lehrer, dass sich Kinder durch die Lust am
Verfassen zusammenhängender Texte die Rechtschreibung mehr oder weniger selbst
aneignen.
Aus Sicht der Kritiker benachteiligt das Schreiben nach Gehör vor allem
Kinder mit Migrationshintergrund, aber auch solche aus bildungsfernen Familien.
Deren Eltern könnten nachmittags nicht mit ihren Kindern üben, richtig zu
schreiben. Ein weiteres Problem ist für Kinder mit anderer Muttersprache die
oft verwendete Anlauttabelle: Zu jedem Buchstaben ist darin ein Gegenstand
abgebildet, der mit diesem Buchstaben beginnt; damit klauben sich Erstklässler
Buchstabe für Buchstabe ihre Wörter zusammen. Aber ausländische Kinder
verbinden mit den Bildern natürlich andere Laute.
In Baden-Württemberg wurde das Schreiben nach Gehör verboten, nachdem
das Land in Rechtschreibvergleichen abgesackt war. Kultusministerin Eisenmann
forderte Ende vorigen Jahres alle Schulen in einem Brief auf, von der Methode
abzulassen. Jetzt spiele „Orthographie ab Klasse eins wieder eine Rolle“. Für
die promovierte Germanistin geht es dabei auch um die Frage, wie die
Gesellschaft mit ihrer eigenen Kultur umgeht: „Die mediale Welt verkürzt unsere
Sprache. Wir müssen deshalb auch darauf achten, dass wieder mehr Bücher gelesen
werden.“
Der Hamburger Bildungssenator Rabe hat schon 2014 im Rahmen einer
„Rechtschreiboffensive“ verhindert, dass Kinder nicht auf richtige
Schreibweisen achten mussten. Jetzt gehe es darum, den Lehrern „immer wieder zu
sagen, wie wichtig Rechtschreibung ist – auch vor dem Hintergrund, dass immer
neue Stoffe und Themen in die Grundschulen dringen, von Fremdsprachen über
Theater bis zu Ernährung“, sagt Rabe. In Bayern wird „Lesen durch Schreiben“
ebenfalls nicht angewendet – wie in Hamburg gibt es dort einen verbindlichen Grundwortschatz
von rund 800 Wörtern. Der soll am Ende der Grundschulzeit sitzen; immerhin
diese Wörter müssen dann also richtig geschrieben werden.
In Hessen arbeiten Lehrer zwar nach wie vor viel mit Anlauttabellen und
nach dem Prinzip, dass es eine „Kinderschreibweise“ gibt und, davon abgehoben,
eine „Erwachsenenschreibweise“, die für alle verbindlich gilt. Aber auch dort
legt das Kultusministerium Wert darauf, dass von Anfang an auf korrektes Schreiben
geachtet werde. Und im neuen Schuljahr sollen mehr als fünfzig hessische
Schulen probeweise mit einem am bayerischen Grundwortschatz orientierten
Wortschatz arbeiten.
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