13. August 2017

Leitfaden zum Schulbeginn

2011 kam mein Sohn in Zürich in die erste Klasse. Was mit viel Optimismus und Freude begann, führte schnell zu Ernüchterung, Tränen und Frust. Das Anfangsjahr war noch mit vielen Erfolgserlebnissen verbunden: Lesen zu lernen, gelang leicht, und erste Rechnungen zu lösen, machte Spass. Aber schon in der zweiten Klasse hiess es: Die Schrift ist zu hässlich, seitenweise Schreibübungen machen! Danach hasste er das Fach Deutsch.
Ähnlich ging es ihm mit Mathematik und Französisch, und ab der vierten Klasse war dank 40 ­Minuten Hausaufgaben pro Tag der Mist ­definitiv geführt. Und der ­Standpunkt meines Sohnes klar: An der Schule mag er am liebsten die Pausen. In sechs Jahren Primarschule habe ich selbst einiges gelernt. Hier mein absolut subjektives, aber vielleicht denkwürdiges Fazit:
Die bizarre Welt der Primarschule, Sonntagszeitung, 13.8. von Marah Rikli


1. Die Schubladen
Bereits Kindergärtnerinnen müssen die Entwicklung der Kinder dokumentieren und füllen standardisierte Fragebögen aus: Ein Kind hält den Stift nicht richtig oder kann nicht auf einem Bein hüpfen? Da folgen häufig Abklärungen, und es wird ein Therapieangebot präsentiert. Kein Wunder, sorgen sich Eltern, ihr Kind sei nicht normal, und ­machen bereits vor Schuleintritt präventiv Abklärungen. Als würde man nicht schon früh genug in Schubladen gesteckt.

Tipp Hören Sie auf Ihr Gefühl als Eltern, vertrauen Sie dem Kind, und bleiben Sie vor allem skeptisch: Mit Abklärungen verdienen viele Leute viel Geld.

2. Elite, Elite, Elite
Stolz informierte uns der Schul­leiter am ersten Elternabend über die «hohe Gymiquote von 50 Prozent». Die Sek-A- und -B-Quote sowie das viel gerühmte Schweizer System der Berufslehre erwähnte er nicht. Ab der fünften Klasse empfahl man den geeigneten Kandidaten Gymivorbereitungskurse, die sich die Eltern bis zu 1000 Franken kosten lassen. Bestehen deren Kinder die Aufnahmeprüfung trotzdem nicht, besucht ein Grossteil nach der Primarschule eine ­Privatschule mit Maturaziel. Der Tanz ums gebildete Kind führt zu einem Konkurrenzkampf, auch deshalb ist Mobbing allgegenwärtig. Mein Empfinden: An unserer Schule fördert man die Elite. Oder bedient die elitären Ansprüche der Eltern.

Tipp Sich möglichst früh abgrenzen und an den Schulapéros schnell den Prosecco finden.

3. 13 : 1
Mein Sohn hatte in der ersten ­Klasse 13 Bezugspersonen: 5 Hortmitarbeiterinnen, 2 Klassenlehrerinnen, 1 Handarbeitslehrerin, 1 Schwimmlehrerin, 1 Musiklehrerin, 1 Lehrerin zur integrativen Förderung, 1 Heilpädagoge, 1 Klassenassistentin (pensionierte Helferin). Zum ­Vergleich: Ich hatte 2. Der Vorteil: Die Kinder sind nicht vom Urteil einer einzigen Lehrperson abhängig. Der Nachteil: Eine persönliche Beziehung zu den Lehrerinnen und Lehrern aufzubauen, ist für die SchülerInnen schwerer. Aber genau die bräuchte es, um Freude am Lernen zu bekommen. 

Tipp Gönnen Sie dem Kind freie Zeit, damit es die vielen neuen Eindrücke verarbeiten kann. Lernen Sie die Bezugspersonen kennen. Manchmal hilft auch gemeinsames Lästern.

4. Info-Wahnsinn
Ich habe einen grossen Ordner anlegen müssen für die unzähligen Mails und Merkblätter. Wöchentlich erhielt ich Papiere zu Gewaltprävention, gesundem Znüni oder Medienkonsum, zu sicherem Velofahren, Sexualerziehung und Zecken. Zu Klassenlagern, Projektwochen und natürlich Schulsozialarbeitern und Mobbing. Dazu kamen E-Mails der Elterndelegierten zu Abschieds-, Willkommens- und Mutterschaftsgeschenken, zu Läusen, Sporttagen, Schulhausfesten, Theater, Museen und Zirkus.

Tipp Klassenwebseite oder eine App einrichten! Wenn es nicht die Schule macht, findet sich vielleicht ein (über-)engagierter Elternteil.

5. Die Strichlein
Die heutige Jugend akzeptiere ­keine Autoritäten mehr, heisst es. Kein Wunder: Jeder Toilettengang wird dreimal diskutiert. Dabei würde manchmal ein einfaches «Nein» reichen, und die Sache wäre geregelt. Stattdessen will man sich an der Schule mit Strichleinlisten und Reglementen auf recht hilflose Art Autorität ­verschaffen: Da gibt es Strichlein fürs Zuspätkommen, Strichlein, wenn das Kind die Hand nicht hebt, Strichlein fürs Kaugummikauen, Strichlein fürs Vergessen der Hausaufgaben. Und Reglemente zum Schulzimmer, zum Hort, zum Schulhaus und zum Schwimmunterricht. ­Verstösst ein Kind gegen das ­Reglement, muss es das Merkblatt dreimal abschreiben. Macht es auch das nicht richtig, gibt es vermutlich wieder ein Strichlein.

Tipp Mit dem Kind über den Sinn von Regeln in unserer Gesellschaft und den dazugehörigen Konsequenzen sprechen.

6. Hausaufgaben-Terror
Der Stundenplan ist heute viel dichter, als er noch in meiner Schulzeit war. Hinzu kommt, dass ­länger gearbeitet wird und meistens beide Elternteile im Job eingespannt sind. Nur: Der Tag hat immer noch 24 Stunden. Nach Hort und Schule noch an die Hausaufgaben sitzen zu müssen, hat bei uns immer wieder zu Streit ­geführt. Mein Sohn war zu müde oder sein Kopf zu voll. Er verschwieg die «Ufzgi» oder «vergass» die Unterlagen in der Schule. Zeitgemässer wäre doch, täglich eine Schulstunde zur Hausaufgabenstunde zu machen. Oder Hausaufgaben ganz abzuschaffen.

Tipp Sich möglichst wenig einmischen und im schlimmsten Fall den Hort in die Pflicht nehmen.

7. Franz für die Katz
Franz-Wörtli für eine Prüfung zu lernen und sie dann gleich wieder zu vergessen, kommt mit der Oberstufe noch früh genug. Und wenn die Kinder auf Englisch ein paar lustige Lieder singen, muss das nun wirklich nicht benotet werden. Kurz: Frühfranzösisch und -englisch schaden mehr, als sie nützen. Und wenn der Lehrer is not so ­sattelfest in English, then we have completely the salad. Zudem beweisen Studien, dass Kinder dadurch später keinen Vorteil haben. Also: abschaffen.

Tipp Ferien in der Bretagne sind effizienter – und bringen der ganzen Familie etwas. Oder: gemeinsam Filme im Originalton mit Untertiteln schauen.

8. Buben sind böse
Die Schule muss ­bubenfreundlicher werden! Jungs stehen unter Generalverdacht. In den Augen der Lehrpersonen prügeln sie zu viel und haben eine zu hohe «Gewaltfaszination». Ich wurde beim Elterngespräch gefragt, ob mein Sohn Gewaltfilme schaue, er zeichne oft Soldaten und Waffen. Bezeichnend auch: Von 15 Buben aus seiner Klasse sind im sechsten Jahr noch 11 beisammen – die ­anderen hat man versetzt, da sie den Unterricht zu sehr störten oder verweigerten.

Tipp Sich nicht bei jeder Schlägerei einmischen, vieles lösen die Jungs unter sich. Wird es zu grob, schalte ich mich jeweils ein – das ist dem Sohnemann so peinlich, dass es eine Weile anhält.

9. Musisch interessiert nicht
Im Turnen eine 6, Musik und Handarbeit als Lieblingsfächer. Das ist doch toll, nicht? Nein. Denn am Schluss zählen für die Oberstufeneinteilung Französisch, Deutsch, Englisch und Mathematik. Der Rest ist schön und gut, ­interessiert jedoch keinen. Warum gibt es keinen Niveau-Unterricht und ein Förderprogramm im ­Zeichnen oder Werken? Bei Mathematik ist das doch auch schon lange etabliert. Es gibt weiterführende Schulen für künstlerisch und sportlich begabte Kinder, da könnte man doch die kreativen ­Fächer wenigstens halb zählen lassen.

Tipp Stärken stärken, unabhängig davon, ob das Talent ökonomisch wünschenswert ist.

10. Alle zittern
Es herrscht Angst: Die Lehrer ­haben Angst vor den Eltern, da ­diese immer öfter Anwälte einschalten. Sei es, weil ihr Kind ­bessere Noten verdient hätte oder weil sie das Kind nicht zum Schwimmunterricht schicken ­wollen. Die ­Eltern haben Angst um die ­Zukunft ihrer Kinder, und die Kinder haben Angst, nicht zu genügen. Was bitte schön kann sich in solch einem Klima entwickeln? Am ehesten noch eine Angst­störung.

Tipp Alle mal durchatmen bitte – es kommen noch andere prägende Zeiten. Was auch hilft: Meditation, schreien – und das beruhigende Wissen, dass das alles vorbeigeht.

In diesem Sinne wünsche ich ­allen Erstklässlern und ihren ­Eltern einen guten Schulstart. Und: Macht euch auf etwas gefasst! Ich bereite mich dann mal auf die Oberstufe vor – mit einem ­Cüpli.


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