2011 kam mein Sohn in
Zürich in die erste Klasse. Was mit viel Optimismus und Freude begann, führte
schnell zu Ernüchterung, Tränen und Frust. Das Anfangsjahr war noch mit vielen
Erfolgserlebnissen verbunden: Lesen zu lernen, gelang leicht, und erste Rechnungen
zu lösen, machte Spass. Aber schon in der zweiten Klasse hiess es: Die Schrift
ist zu hässlich, seitenweise Schreibübungen machen! Danach hasste er das Fach
Deutsch.
Ähnlich ging es ihm mit Mathematik und Französisch, und ab der
vierten Klasse war dank 40 Minuten Hausaufgaben pro Tag der Mist definitiv
geführt. Und der Standpunkt meines Sohnes klar: An der Schule mag
er am liebsten die Pausen. In sechs Jahren Primarschule habe ich selbst einiges
gelernt. Hier mein absolut subjektives, aber vielleicht denkwürdiges Fazit:
Die bizarre Welt der Primarschule, Sonntagszeitung, 13.8. von Marah Rikli
1. Die Schubladen
Bereits Kindergärtnerinnen müssen die Entwicklung der Kinder
dokumentieren und füllen standardisierte Fragebögen aus: Ein Kind hält den
Stift nicht richtig oder kann nicht auf einem Bein hüpfen? Da folgen häufig
Abklärungen, und es wird ein Therapieangebot präsentiert. Kein Wunder, sorgen
sich Eltern, ihr Kind sei nicht normal, und machen bereits vor Schuleintritt
präventiv Abklärungen. Als würde man nicht schon früh genug in Schubladen
gesteckt.
Tipp Hören Sie auf Ihr
Gefühl als Eltern, vertrauen Sie dem Kind, und bleiben Sie vor allem skeptisch:
Mit Abklärungen verdienen viele Leute viel Geld.
2. Elite, Elite, Elite
Stolz informierte uns der Schulleiter am ersten Elternabend
über die «hohe Gymiquote von 50 Prozent». Die Sek-A- und -B-Quote sowie das
viel gerühmte Schweizer System der Berufslehre erwähnte er nicht. Ab der
fünften Klasse empfahl man den geeigneten Kandidaten Gymivorbereitungskurse, die
sich die Eltern bis zu 1000 Franken kosten lassen. Bestehen deren Kinder die
Aufnahmeprüfung trotzdem nicht, besucht ein Grossteil nach der Primarschule
eine Privatschule mit Maturaziel. Der Tanz ums gebildete Kind führt zu einem
Konkurrenzkampf, auch deshalb ist Mobbing allgegenwärtig. Mein Empfinden: An
unserer Schule fördert man die Elite. Oder bedient die elitären Ansprüche der
Eltern.
Tipp Sich möglichst
früh abgrenzen und an den Schulapéros schnell den Prosecco finden.
3. 13 : 1
Mein Sohn hatte in der ersten Klasse 13 Bezugspersonen: 5
Hortmitarbeiterinnen, 2 Klassenlehrerinnen, 1 Handarbeitslehrerin, 1
Schwimmlehrerin, 1 Musiklehrerin, 1 Lehrerin zur integrativen Förderung, 1
Heilpädagoge, 1 Klassenassistentin (pensionierte Helferin). Zum Vergleich: Ich
hatte 2. Der Vorteil: Die Kinder sind nicht vom Urteil einer einzigen
Lehrperson abhängig. Der Nachteil: Eine persönliche Beziehung zu den
Lehrerinnen und Lehrern aufzubauen, ist für die SchülerInnen schwerer. Aber
genau die bräuchte es, um Freude am Lernen zu bekommen.
Tipp Gönnen Sie dem
Kind freie Zeit, damit es die vielen neuen Eindrücke verarbeiten kann. Lernen
Sie die Bezugspersonen kennen. Manchmal hilft auch gemeinsames Lästern.
4. Info-Wahnsinn
Ich habe einen grossen Ordner anlegen müssen für die unzähligen
Mails und Merkblätter. Wöchentlich erhielt ich Papiere zu Gewaltprävention,
gesundem Znüni oder Medienkonsum, zu sicherem Velofahren, Sexualerziehung und
Zecken. Zu Klassenlagern, Projektwochen und natürlich Schulsozialarbeitern und
Mobbing. Dazu kamen E-Mails der Elterndelegierten zu Abschieds-, Willkommens-
und Mutterschaftsgeschenken, zu Läusen, Sporttagen, Schulhausfesten, Theater,
Museen und Zirkus.
Tipp Klassenwebseite
oder eine App einrichten! Wenn es nicht die Schule macht, findet sich
vielleicht ein (über-)engagierter Elternteil.
5. Die Strichlein
Die heutige Jugend akzeptiere keine Autoritäten mehr, heisst
es. Kein Wunder: Jeder Toilettengang wird dreimal diskutiert. Dabei würde
manchmal ein einfaches «Nein» reichen, und die Sache wäre geregelt. Stattdessen
will man sich an der Schule mit Strichleinlisten und Reglementen auf recht
hilflose Art Autorität verschaffen: Da gibt es Strichlein fürs Zuspätkommen,
Strichlein, wenn das Kind die Hand nicht hebt, Strichlein fürs Kaugummikauen,
Strichlein fürs Vergessen der Hausaufgaben. Und Reglemente zum Schulzimmer, zum
Hort, zum Schulhaus und zum Schwimmunterricht. Verstösst ein Kind gegen das Reglement,
muss es das Merkblatt dreimal abschreiben. Macht es auch das nicht richtig,
gibt es vermutlich wieder ein Strichlein.
Tipp Mit dem Kind über
den Sinn von Regeln in unserer Gesellschaft und den dazugehörigen Konsequenzen
sprechen.
6. Hausaufgaben-Terror
Der Stundenplan ist heute viel dichter, als er noch in meiner
Schulzeit war. Hinzu kommt, dass länger gearbeitet wird und meistens beide
Elternteile im Job eingespannt sind. Nur: Der Tag hat immer noch 24 Stunden.
Nach Hort und Schule noch an die Hausaufgaben sitzen zu müssen, hat bei uns
immer wieder zu Streit geführt. Mein Sohn war zu müde oder sein Kopf zu voll.
Er verschwieg die «Ufzgi» oder «vergass» die Unterlagen in der Schule.
Zeitgemässer wäre doch, täglich eine Schulstunde zur Hausaufgabenstunde zu
machen. Oder Hausaufgaben ganz abzuschaffen.
Tipp Sich möglichst
wenig einmischen und im schlimmsten Fall den Hort in die Pflicht nehmen.
7. Franz für die Katz
Franz-Wörtli für eine Prüfung zu lernen und sie dann gleich
wieder zu vergessen, kommt mit der Oberstufe noch früh genug. Und wenn die
Kinder auf Englisch ein paar lustige Lieder singen, muss das nun wirklich nicht
benotet werden. Kurz: Frühfranzösisch und -englisch schaden mehr, als sie
nützen. Und wenn der Lehrer is not so sattelfest in English, then we have
completely the salad. Zudem beweisen Studien, dass Kinder dadurch später keinen
Vorteil haben. Also: abschaffen.
Tipp Ferien in der
Bretagne sind effizienter – und bringen der ganzen Familie etwas. Oder:
gemeinsam Filme im Originalton mit Untertiteln schauen.
8. Buben sind böse
Die Schule muss bubenfreundlicher werden! Jungs stehen unter
Generalverdacht. In den Augen der Lehrpersonen prügeln sie zu viel und haben
eine zu hohe «Gewaltfaszination». Ich wurde beim Elterngespräch gefragt, ob
mein Sohn Gewaltfilme schaue, er zeichne oft Soldaten und Waffen. Bezeichnend
auch: Von 15 Buben aus seiner Klasse sind im sechsten Jahr noch 11 beisammen –
die anderen hat man versetzt, da sie den Unterricht zu sehr störten oder
verweigerten.
Tipp Sich nicht bei
jeder Schlägerei einmischen, vieles lösen die Jungs unter sich. Wird es zu
grob, schalte ich mich jeweils ein – das ist dem Sohnemann so peinlich, dass es
eine Weile anhält.
9. Musisch interessiert
nicht
Im Turnen eine 6, Musik und Handarbeit als Lieblingsfächer. Das
ist doch toll, nicht? Nein. Denn am Schluss zählen für die Oberstufeneinteilung
Französisch, Deutsch, Englisch und Mathematik. Der Rest ist schön und gut, interessiert
jedoch keinen. Warum gibt es keinen Niveau-Unterricht und ein Förderprogramm im
Zeichnen oder Werken? Bei Mathematik ist das doch auch schon lange etabliert.
Es gibt weiterführende Schulen für künstlerisch und sportlich begabte Kinder,
da könnte man doch die kreativen Fächer wenigstens halb zählen lassen.
Tipp Stärken stärken,
unabhängig davon, ob das Talent ökonomisch wünschenswert ist.
10. Alle zittern
Es herrscht Angst: Die Lehrer haben Angst vor den Eltern, da diese
immer öfter Anwälte einschalten. Sei es, weil ihr Kind bessere Noten verdient
hätte oder weil sie das Kind nicht zum Schwimmunterricht schicken wollen. Die Eltern
haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder, und die Kinder haben Angst, nicht zu
genügen. Was bitte schön kann sich in solch einem Klima entwickeln? Am ehesten
noch eine Angststörung.
Tipp Alle mal
durchatmen bitte – es kommen noch andere prägende Zeiten. Was auch hilft: Meditation,
schreien – und das beruhigende Wissen, dass das alles vorbeigeht.
In diesem Sinne wünsche ich allen Erstklässlern und ihren Eltern
einen guten Schulstart. Und: Macht euch auf etwas gefasst! Ich bereite mich
dann mal auf die Oberstufe vor – mit einem Cüpli.
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