10. August 2017

"Ideal wäre ein Team-Teaching von drei Lehrkräften auf zwei Klassen"

Erst Lehrer, dann Lehrerausbildner, Lehrbuchautor, Lehrgangmitentwickler, Mitarbeiter an verschiedenen Forschungsprojekten, Schulpflegepräsident einer Oberstufe und Mitglied der Freinet-Gruppe Schweiz, die sich für eine Erziehung ohne Zwang einsetzt: Um die Schule und den Beruf des Lehrers drehte sich Donatus Stemmles ganzes bisheriges Leben. Ende 2018 will der 69-Jährige definitiv in Pension gehen. Ganz wird er der Schule aber nicht den Rücken kehren: Acht Enkelinnen und Enkel dürfen mit seinem Interesse rechnen.
Ist mit 69 Jahren noch in der Lehrerbildung tätig: Donatus Stemmle, Bild: Dan Cermak
Für Donatus Stemmle werden Lehrer nicht bald durch Roboter ersetzt, Migros Magazin, 10.8. von Esther Banz

Donatus Stemmle, Sie werden dieses Jahr 70 Jahre alt und sind längst pensioniert. Warum treffen wir uns trotzdem an der Pädagogischen Hochschule in Zürich (PHZH), wo Lehrer ausgebildet werden?
Stimmt, eigentlich bin ich in Pension (lacht). Ich gebe hier nur noch ein Modul in Natur-Mensch-Gesellschaft und ein anderes an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Weil ich sehr ungern damit aufhöre.

Die Zahl der Studierenden an der PHZH ist beeindruckend: Im nächsten Semester werden 3550 Männer und Frauen studieren. Das ist rekordverdächtig.
Ja, der Beruf ist unvermindert beliebt, und Klassenlehrer werden nicht so bald durch Roboter ersetzt werden.

Man liest viel über die Nöte der Lehrer heute: Jeder Dritte leidet an anhaltenden depressiven Beschwerden, und ebenso viele Lehrer seien Burn-out-gefährdet, besagt eine Nationalfondsstudie aus dem Jahr 2014. Was macht den Beruf so schwierig?
Es sind verschiedene Faktoren, aber einer scheint mir besonders gewichtig: die hohen Ansprüche. Damit meine ich die Ansprüche, die eine Lehrerin oder ein Lehrer an die eigene Leistung hat: Man deckt mehrere Fächer ab und will es in jedem richtig gut machen. Und dann sind da noch die Vorstellungen vieler ehrgeiziger und oft selber akademisch gebildeter Eltern. Sie erwarten – natürlich zu Recht –, dass ihr Kind bestmöglich gefördert wird. Die Kinder sind heut­zutage erfreu­licherweise selbstbewusster, widersprechen und können einen langweiligen Unterricht stören. Früher erwartete man von den Kindern Gehorsam und von den Lehrern Strenge. Wenn ein Schüler eins an die Ohren kriegte, erzählte er das besser nicht zu Hause, sonst gabs dort noch eins drauf. Ein Kind musste gehorchen, das war einfach so, es gab kein Wenn und Aber. Der Lehrer war unantastbar.

Man erzog die Kinder nicht unbedingt zu mündigen, selbstbewussten Mitmenschen.
Genau. Heute indes erwartet die Gesellschaft, dass Kinder in der Schule zu eigenständig denkenden und eigenverantwortlich handelnden Bürgern und Bürgerinnen erzogen werden. Die Heranwachsenden sollen ihre Stärken und Schwächen erkennen, Auftrittskompetenz erlangen und selbst verantworten, was sie tun.

Das klingt fantastisch. Man würde erwarten, es herrsche Friede-Freude-Eierkuchen, alle seien wunschlos glücklich.
Die positive Wirkung heutiger Pädagogik sehen natürlich nicht alle gleich. Es gibt in konservativen Kreisen Eltern, die die züchtigende Hand vermissen. Und dann gibt es Eltern, die ihre eigene berufliche Wunschvorstellung auf ihr Kind projizieren. Zudem wirkt sich das heutige Konsumdenken aus: Man meint, Erfolg könne man kaufen, man hätte ein Anrecht darauf, und man fühlt sich befähigt, die Qualität des Unterrichts selber zu beurteilen, denn man ist ja auch mal in die Schule gegangen.

Mit der Integration von Kindern, die zuvor aufgrund ihres Verhaltens oder einer Behinderung in Kleinklassen respektive einer Sonderschule unterrichtet wurden, sind die Klassen heterogener geworden. Was bedeutet das für den Unterricht?
Sie sprechen das sogenannte Classroom-Management an. Das ist in der Tat die grosse Sorge angehender Lehrerinnen und Lehrer: Wie schaffe ich es, eine grosse und höchst vielseitige Klasse zu führen? Ich habe eine hochbegabte Schülerin, Kinder mit ADHS und insgesamt acht Sprachen im Klassenzimmer vertreten. Wenn ich ein Mensch bin, der gut mit der Vielfalt umgehen kann, eine positive Grundeinstellung Kindern mit speziellen Bedürfnissen gegenüber hat und das als sportliche Herausforderung angeht, gelingt es eher, als wenn ich von vornherein damit schon Mühe habe. Dann sehe ich alles, was gegen die Disziplin in der Klasse wirkt, gegen mich und mein Unterrichtsziel gerichtet. Das ist anstrengend.

Ist das Unterrichten einer derartigen Klasse alleine nicht fast unmöglich?
Doch. Aber genau diese Vielfalt ist heute für viele Lehrerinnen und Lehrer Realität. Heilpädagogen sind nur wenige Stunden pro Woche in einer Klasse, die restlichen Stunden ist man mit den Kindern alleine, sollte differenzieren, jedem sinnvolle Aufgaben geben und gleichzeitig etwas für die Gemeinschaftsbildung machen. Immer dann, wenn eine Assistenz da ist, gelingt das, aber in all den anderen Stunden eben weniger. Trotzdem gibt es für das Gelingen der Integration nicht mehr Geld. Ideal wäre ein Team-Teaching von drei Lehrkräften auf zwei Klassen.

Kann man wenigstens mit gutem Zusprechen im Lehrerzimmer rechnen?
Nicht unbedingt. Es ist gut möglich, dass ich als Lehrerin, die bereits am Limit ist, dort von einem Kollegen zu hören bekomme, wie gut er es mit derselben Klasse habe. Das kann dann schnell das Gefühl auslösen, selber schuld zu sein am nicht gelingenden Classroom-Management. Und dann ist es kein weiter Weg mehr in den Kreisel des Burn-outs.

«Das Magazin» des «Tages-Anzeigers» erzählte kürzlich die Geschichte einer Lehrerin, die den Beruf nach 20 Jahren erschöpft an den Nagel hängte. Drei Jungs störten den Unterricht, eine Mutter machte Druck – aber letztlich war das Verhalten des Schulleiters ausschlaggebend. Er liess die Lehrerin offenbar alleine. Die Schulleitung scheint heute eine zentrale Rolle zu spielen für die Arbeitsqualität der Lehrer.
Ja, unbedingt. Aber das ist relativ neu. Bis um die Jahrtausendwende herum gab es keine Schulleitungen, man war als Lehrer sein eigener Herr und Meister. Es gab zwar Schulhausvorsteher, aber deren Aufgaben waren vor allem administrativer Natur, nicht pädagogischer. Und einmal im Jahr kam ein Inspektor, der hauptsächlich auf Äusserlichkeiten achtete: Stehen alle Schuhe in einer Reihe? Sind alle Bücher gut eingebunden? Ist die Wandtafelschrift schön? Gibt es genügend Aufsätze? Macht der Lehrer Diktate? Wird Schriftdeutsch gesprochen? Er machte sich Notizen und gab einen Bericht ab, auf Anfrage schriftlich. Dann war er wieder für ein Jahr weg. Was er immer sehen wollte, war das Unterrichtsheft – ob es nachgeführt ist. Aber über die Art und Weise des Unterrichts wurde wenig gesprochen, denn es galt die Lehr- und Methodenfreiheit der Lehrpersonen.

Wie steht es um diese heute?
Es gibt sie noch. Aber die Administration ist näher am Unterricht und hat mehr Macht.

Wie das?
Die Lehrpersonen einer Schule müssen ein gemeinsames pädagogisches Profil entwickeln; das ist erwünscht, und ich finde das auch positiv. Es hat aber selbstverständlich die Kehrseite, dass die einzelne Lehrperson etwas von ihrer Autonomie verliert. Hat sie einen guten Stand im Team, kann sie ihre Vorstellung von Unterricht behaupten. Als Junglehrerin, oder wenn man das «Heu nicht auf der gleichen Bühne hat» wie die Schulleitung, kann der Alltag mühsam werden.

In anderen Ländern können die Lehrer nur davon träumen, inhaltliche Freiheiten zu haben oder nur schon wählen zu können, wo sie unterrichten.
Ja, das ist ein Privileg. In Deutschland zum Beispiel wird man administrativ an eine Stelle gebunden oder versetzt. Und in Frankreich gibt es standardisierte Jahresprüfungen, die die Lehrfreiheit sehr stark einschränken.

Wer wird eigentlich Lehrer, Lehrerin?
Das kann ich nicht allgemein beantworten. Aufgrund der Motivationsschreiben der Studierenden fiel mir auf: Viele waren in der Pfadi oder leiteten eine Jugendriege. Oder sie hatten eine Lehrerin, die zum Vorbild wurde.

Was hat es mit dem Klischee auf sich, Lehrer seien mehrheitlich linksgrün?
Ich möchte nicht behaupten, ein rechtskonservativ denkender Mensch denke weniger differenziert, aber man muss schon interessiert und offen sein und es genauer wissen wollen mit der Komplexität der Welt, ihren Problemen auch, und sich für die Vielfalt an Menschen interessieren. In der Schule löse ich zwar nicht die Flüchtlingsprobleme, aber ich habe sie, die Flüchtlingskinder, und muss eine positive Haltung ihnen gegenüber entwickeln. Ich habe unvoreingenommen zu sein, um mit jedem Kind eine Beziehung aufbauen zu können – ob es aus dem Kanton Glarus kommt oder aus Ghana. Und wenn ich einer bin, der es schafft, die Kinder für die Vielfalt in ihrem Lebensraum zu begeistern, ist es auch nicht verwunderlich, wenn ich mich durch das angeeignete Wissen um Lebensräume und die Stadtentwicklung oder um die heutige Landwirtschaft und ihre Nachhaltigkeit oder ums Klima sorge.

Wer wird also sicher nicht Lehrer?
Jemand, der ganz andere Berufsinteressen hat oder der in erster Linie an Geld und Karriere denkt. Man verdient zwar anständig als Lehrperson, aber nicht übermässig.

Dafür haben Lehrerinnen und Lehrer mehr Ferien als alle andern.
Das wird immer wieder behauptet. Lehrer machen in einer Unterrichtswoche Überstunden und während der unterrichtsfreien Wochen, in denen die Kinder Ferien haben, kompensieren sie oder machen Weiterbildung und bereiten den Unterricht vor.

Sie unterrichteten in den vergangenen Jahren auch quer einsteigende Lehrerinnen und Lehrer, viele von ihnen über 40-Jährige. Was sind das für Leute?
Viele kommen aus kreativen Berufen: Schauspieler, Fotografinnen, Journalistinnen, Architekten, Gärtnerinnen, aber auch ein Pfarrer oder eine Frauenärztin waren schon dabei.
Warum kommen so viele aus kreativen Berufen?
Auch der Lehrberuf hat viel mit Kreativität zu tun. Ich kann mit den Kindern Themen
individuell aufbereiten, indem wir sie verschriftlichen, Plakate für eine Ausstellung anfertigen, Filme drehen, Theater aufführen, musizieren. Von daher ist das Unterrichten wie eine offene Tür. Der Lehrerberuf ist sehr vielseitig, wie die Menschen, die zur Schule gehen.

Früher waren die Lehrer mehrheitlich männlich, jetzt unterrichten vor allem in der Primarschule hauptsächlich Frauen. Womit hat das zu tun?
Je mehr der Lehrberuf Erziehungsberuf wurde, desto mehr galt er in der Gesellschaft offenbar als femininer Beruf. In den letzten Jahren ist vieles dazugekommen, das die Schulen an Sozialisation leisten müssen. Ein gesellschaftlicher Wandel, den ich weder positiv noch negativ bewerten möchte. Das sind neue schulische Aufgaben, die Frauen offenbar mehr ansprechen als Männer.

Warum wertet man den Frauenüberhang bei den Lehrpersonen als Problem?
Studien belegen, dass es für Buben in der Schule schwieriger geworden ist, wenn sie nur von Frauen unterrichtet werden. Buben stören öfters und sind schulisch weniger erfolgreich als Mädchen. In der Weiterbildung spricht man deshalb von notwendiger «Bubenarbeit».

Viele Eltern fürchten, ihr Kind könnte in der Schule Pech haben, indem es an eine «schlechte» Lehrperson gerät. Es gibt ja tatsächlich bessere und weniger gute Pädagogen.
Oh ja, selbstverständlich, es gibt die ganze Palette, wie in jedem Beruf.

Was, wenn es zwischen einem Kind und der Lehrperson nicht «geigt», wenn ein Kind nicht in seinen Fähigkeiten erkannt und gefördert wird, sondern ihm im Gegenteil sogar die angeborene Lust am Lernen vergeht?
Ich weiss als dreifacher Vater und achtfacher Grossvater, dass das ein beunruhigendes Szenario ist. Aber es ist tatsächlich schwierig zu erkennen, ob jemand für mein Kind eine gute Lehrperson ist oder nicht.

Sogar Sie als Insider sagen das?
Klar kann ich eine Lehrperson anders einschätzen als Eltern, die in ihrem Erwachsenenleben erstmals mit einer Lehrerin zu tun haben. Man stutzt vielleicht, wenn in einem Lehrgangfach wie Französisch bestimmte Seiten nicht bearbeitet werden – das kann ein Hinweis dafür sein, dass die Lehrerin oder der Lehrer weit hinter dem Stoff liegt, der durchgenommen werden sollte. Aber die Lehrfreiheit erlaubt es auch, mit eigenen Materialien zu arbeiten, insofern kann man mit seinen Befürchtungen komplett falsch liegen, weil mit gezielteren Mitteln dieselben Lernziele besser erreicht werden.

Und was ist, wenn eine Lehrperson den Kontakt zum Kind nicht findet?
Das lässt sich leicht feststellen, wenn man den Unterricht besucht und die Lehrperson darauf anspricht. Aber klar, es gibt überall Leute, die es schaffen, alle zu täuschen. Zum Glück passiert das nur sehr selten.

Sollen Lehrer alle Kinder gleich behandeln? Und ist das überhaupt möglich?
Nein, gleich behandeln geht nicht. Aber alle gleich anders, das geht. Ich muss für jeden Einzelnen und seine Besonderheiten ein Verständnis erlangen. Einem hyperaktiven Kind wird fast selbstverständlich erlaubt, zwischendurch umherzugehen, ein introvertiertes hingegen will sanft aus seinen scheinbaren Tagträumen geweckt werden. Man findet heraus, wo ein Kind ein spezielles Bedürfnis hat, wo seine Stärken, seine Schwächen sind. Man spricht von Binnendifferenzierung. Dieser Anspruch ist heute da, und es gibt dafür Strategien, wie zum Beispiel an einem Auftrag kürzer oder länger dran sein zu dürfen.

Was raten Sie Eltern im Umgang mit Lehrpersonen?
Nachfragen und das Gespräch suchen, wenn einen etwas irritiert.

Und was raten Sie Lehrpersonen im Umgang mit Eltern?
Keine Kommunikation über E-Mail! Das ist immer heikel, unnötig, zeitraubend, und man muss sich auch noch für jeden grammatikalischen Fehler rechtfertigen, der im schnellen Antworten übersehen wurde. Das kostet unnötig Nerven. Besser bereits beim ersten Elternabend wünschen: Sie können mir gerne eine E-Mail schreiben, um einen Termin zu vereinbaren, aber nicht mehr. Inhaltliches besprechen wir persönlich und dafür nehmen wir uns Zeit. 



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