7. Juli 2017

Zürich verzichtet auf kompetenzorientierte Beurteilungen

 «Da wären wir ja morgen noch dran!» Lilo Lätzsch lacht, als ich ihr den Katalog von Themen umreisse, den ich mit ihr besprechen will. In der Tat, die Schule ist ein zu weites Feld für kurze Erkundungstouren, und Lätzsch ist zu lange dabei, um sich mit Oberflächlichem aufzuhalten. Seit 43 Jahren steht die 65-jährige Sekundarlehrerin im Schuldienst, seit 17 Jahren sitzt sie in der Geschäftsleitung des rund 4000 Mitglieder starken Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands ZLV, seit 10 Jahren ist sie dessen Präsidentin.
"Gewisse Regeln sind einfach einzuhalten", NZZ, 7.7. von Walter Bernet


Turbulente Zeiten
Jetzt lege sie die Schulpolitik ad acta, sagt sie. Ihr Nachfolger als ZLV-Präsident ist gewählt. Der 38-jährige Christian Hugi wird sie Ende Monat ablösen. Ob die temperamentvolle Tochter des früheren NZZ-Redaktors, FDP-Stadtrats und Bankers Ernst Bieri ihr politisches Engagement für die Schule ganz lassen kann, wagen wir zu bezweifeln. Zwar schaut sie zweimal in der Woche zu ihren Enkeln, aber daneben ist auch in der Vergangenheit Zeit für anderes geblieben. «Ich liebe alles, was mit Zahlen zusammenhängt», sagt Lätzsch.
Weggefallen ist die Mitwirkung in der Rechnungsprüfungskommission ihrer früheren Wohngemeinde Fällanden. Geblieben ist ihre Tätigkeit im Stiftungsrat der Pensionskasse BVK, den sie die letzten zwei Jahre präsidiert hatte. Eben ist sie zur neuen Vizepräsidentin gewählt worden. Ganz unglücklich ist sie nicht darüber, dass sie auf die kommende Amtsdauer mit mehr Gelassenheit blicken kann. Als Mitglied der BVK-Verwaltungskommission hat sie die ganzen Turbulenzen um die Verselbständigung der vorher staatlichen Kasse und um den Umgang mit kostspieligen Verfehlungen miterlebt.
Auch in der Schul- und Standespolitik hat sie sich nicht gerade eine lockere Periode für eine führende Rolle ausgesucht. Als hartnäckige Kämpferin für die Anliegen der Lehrerschaft machte sie sich einen Namen. Die ganze Umsetzung des Volksschulgesetzes von 2005 mit ihren zahlreichen Reformen und all den Grabenkämpfen darum fiel in ihre Amtszeit. Gewerkschaftliche Anliegen der Lehrerschaft hatten in dieser Zeit einen schweren Stand. Eine wirksame Entlastung von den wachsenden Ansprüchen scheiterte letztlich am Zauberwort «Saldoneutralität», das als Folge der Sparzwänge die ganze Volksschulreform prägte. Immerhin gelang 2010 eine Lohnrevision, die den Kanton Zürich als Arbeitgeber wieder konkurrenzfähig machte.

Der wache, suchende Blick, die Begabung, die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen und dabei auch einmal eine Brüskierung in Kauf zu nehmen, sind Lätzsch geblieben. Ans Aufhören denkt sie nicht. «Ich werde jetzt sogar mehr unterrichten als vorher, ich mache es einfach gerne», sagt sie. Sie habe ja jetzt mehr Zeit, und Lehrkräften sei es möglich, ihre Anstellung bis 70 jeweils um ein Jahr zu verlängern. Als grösste Herausforderung in ihrer Zeit als ZLV-Präsidentin hat sie den Umgang mit der grossen Heterogenität der Schülerschaft erlebt. Für sie ist das nicht nur ein Problem der Schule, sondern der Gesellschaft: Heute sei sich jeder selbst der Nächste, jedes Bedürfnis müsse sofort befriedigt werden.

Eltern verpflichten
Darunter leide die Schule, und im Umgang damit liege noch viel Verbesserungspotenzial. Unbedingt müsse die Zusammenarbeit mit den Eltern verbindlicher ausgestaltet werden. «Man muss die Eltern zur Zusammenarbeit verpflichten», sagt Lätzsch. Die gesetzlichen Möglichkeiten bestünden, aber tatsächlich würden sie vielfach nicht genutzt, etwa wenn es um eigenmächtige Verlängerungen der Ferien gehe. Da sei mehr möglich, gerade in der Stadt Zürich. Die Schulen und ihre Leitungen müssten vermehrt hinstehen und deutlich sagen, es sei nicht alles möglich. Gewisse Regeln seien einfach einzuhalten.

Es hat sich viel verändert, alles ist komplexer geworden, und es wird sich noch viel verändern. So lautet Lätzschs simple Quintessenz aus ihrer langen Schulerfahrung. «Aber die Schule verändert sich ganz, ganz langsam, und das ist vielleicht gar nicht so schlecht.» Früher habe man Stunden ins Schönschreiben investiert, heute setze man auf die schnelle, einfache und lesbare Basisschrift und beginne immer früher mit dem Tastatur-Schreiben. Auch das mühsame geometrische Zeichen mit Tinte oder das Abschreiben ganzer Seiten, bis es ohne Fehler klappte, sei entfallen. Löste man früher drei Mathematikaufgaben und berechnete sie von Hand, rechne heute die Maschine, dafür seien viel mehr Aufgaben zu lösen.

Einiges sei auch genau gleich geblieben. So seien Kompetenzen wie Pünktlichkeit, Teamfähigkeit, Anstand so zentral wie schon immer. Und auch in 40 Jahren werde noch gelten, dass der Lehrer oder die Lehrerin für den Lernerfolg der Klasse als ganzer der wichtigste Faktor bleibe, während die individuelle Leistungsfähigkeit stark vom Elternhaus geprägt sei. Vielfältiger seien die Hilfsmittel geworden und damit die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten. Aufsatz, Nacherzählung, Bildergeschichte, Diktat: So lautete der Kanon im Deutschunterricht lange. Ein Buch habe sie selber in der Sekundarschule nie gelesen. Heute schreiben die Schüler Briefe, Zusammenfassungen, Präsentationen, Buchbesprechungen und vieles mehr.

Die neue Vielfalt habe allerdings an der Verteilung der Leistungsfähigkeit nichts geändert. Sie bereite gerade den Schwächeren zusätzliche Mühe. Damit bleibe auch das Problem der hohen Zahl von Jugendlichen ohne Lehrabschluss bestehen. Da – unsere Zweifel am Ende der schulpolitischen Aktivitäten bestätigen sich – will sich die Sekundarlehrerin vorläufig weiter engagieren. Man müsse Jugendliche bei ihren ersten Schritten in der Berufswelt besser unterstützen, sagt sie. Es gebe zwar eine grosse Vielfalt von Möglichkeiten und Instrumenten, aber kaum jemand habe den Überblick.

Lätzsch möchte deshalb das Fachwissen – etwa zu Berufswahl und Sonderpädagogik – in die Schulen bringen, ohne neue Kosten auszulösen. Spezialisierte Kollegen als Ansprechpartner wären eine Lösung. In den Schulen selber sei die Unterstützung gut. Die Integrierte Sonderschulung zum Beispiel funktioniere, aber wenn es um die Berufsperspektive gehe, gerieten die Betroffenen in ein grosses Loch. Bestehende Wege seien zu wenig bekannt; die 35 Stellen, die der Kanton für solche Fälle bereithalte, seien selten ausgenützt.

Mehr Pädagogik
Dass die Schulen ohne Schulleiter gar nicht mehr funktionieren würden, sei eine Folge der wachsenden Komplexität. «Diese Seite haben die meisten Schulleiter aber im Griff», urteilt Lätzsch. In zweierlei Hinsicht sei sie vom heute flächendeckend eingeführten Modell der geleiteten Schulen enttäuscht. Erstens sei die pädagogische Entwicklung in den Schulen an einem kleinen Ort geblieben und spiele auch in den Mitarbeitergesprächen kaum eine Rolle. Und zweitens brächten die Ergebnisse der regelmässigen Evaluationen der ganzen Schulen durch die Fachstelle für Schulevaluation im Verhältnis zum Aufwand zu wenig. So werde die Leistungsbeurteilung immer wieder als zu klassenbezogen bemängelt. Ausser Acht werde gelassen, dass auch die Rahmenbedingungen nicht exakt übereinstimmten. Mit dem Verzicht auf die Einführung kompetenzorientierter Beurteilungen mit dem Lehrplan 21 gestehe die Bildungsdirektion ja ein, dass der Anspruch zu hoch sei. Da bleibt noch viel zu tun.






1 Kommentar:

  1. Die Bemerkung fällt ganz am Schluss, so quasi am Rande: Zürich verzichtet auf eine kompetenzorientierte Beurteilung. Dies hat aber Konsequenzen: Wie kann man kompetenzorientiert unterrichten, wenn man nicht gleichzeitig auch kompetenzorientiert beurteilt?

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