18. Juli 2017

Amerikanisierung der Gesellschaft

In einem Kirchenlager fesselten sechs 13-Jährige einen Gleichaltrigen. Ein Spiel, sagen sie. Gewalt, sagen die Behörden. Eine klassische Überreaktion, sagt der Psychologe.
Hexenjagd im Emmental, Sonntagszeitung, 9.7. von Dominik Balmer


Verhaftet wird der 13-jährige Thomas* am Dienstag um 9.45 Uhr. Der Polizist wartet im Schulhaus, als der Bub, der vor dem Coop-Supermarkt mit zwei Kollegen Schülerzeitungen verkauft, Nachschub holen will. Der Polizist ist nett und fragt als Erstes: «Wo ist dein Handy?»

Ein Dorf im Emmental ist an diesem Tag Schauplatz einer grossen Polizeiaktion. Zwölf Beamte in Zivil fahren vor – sie verhaften fünf weitere Siebtklässler. Drei holen sie direkt aus dem Unterricht in der Sekundarschule, zwei stellen sie vor dem Coop. Thomas spielt Fussball, trainiert Kung-Fu, mag Videogames und geht oft mit dem Hund spazieren. Sein Klassenlehrer sagt, er sei «ein interessierter, lebhafter und aktiver Schüler, der sich an die geforderten Regeln hält». Er habe «gute Umgangsformen», sei «beliebt und gut integriert». Im Gespräch zu Hause am Küchentisch schenkt Thomas Mineralwasser nach, stellt Schokolade auf den Tisch, hilft beim Abräumen, lacht mit seiner Mutter.

Das Verhör dauert sieben Stunden
Es ist eine Geschichte über die Grenzen von Kinder- und Jugendspielen. Was ist tolerierbar? Wo beginnt eine strafbare Handlung? Und es ist auch eine Geschichte einer misslungenen Deeskalation. Deshalb steht der Fall für viele andere. «Wir erleben eine Amerikanisierung unserer Gesellschaft», sagt der Psychologe Allan Guggenbühl. Heute sei es ein Trend, bei jeder Kleinigkeit eine Anzeige einzureichen – gerade bei Schulen.
Warum er mitkommen solle, fragt Thomas an jenem Dienstag. «Es geht um einen Vorfall in einem Lager», sagt der Polizist.

Die Beamten fahren mit Thomas zur Wohnung seiner Eltern. Er gibt das Handy ab, benachrichtigt seine Mutter. Die Polizisten sagen, vielleicht würden sie den Buben die Nacht über in Arrest behalten. Zum Abschied küsst und umarmt die Mutter ihren Sohn. Die Polizei bringt die sechs 13-Jährigen auf drei Posten. Die Beamten kommunizieren miteinander, gleichen Aussagen ab, spielen die Buben gegeneinander aus. Thomas’ Verhör dauert sieben Stunden, der Polizist bietet ihm Cola und Snickers an. Er lehnt ab.

Sie wollen dem Buben die Fingerabdrücke nehmen und ihn fotografieren – für die Verbrecher-Datenbank. Es heisst, das sei Standard. Erst das Berner Obergericht pfeift die Polizei zurück. Es sei unverhältnismässig, den Buben erkennungsdienstlich zu erfassen.

Am Anfang stand eine Wette
Nach der Befragung durch die Polizei folgen weitere Einvernahmen bei der Jugendanwaltschaft. Nicht alle können damit so umgehen wie Thomas. Ein Bub braucht Schlaftabletten, fiebert und erbricht sich vor den Terminen.

Was im Lager der reformierten Kirche im April 2016 im Schlafraum der Buben tatsächlich passiert ist, lässt sich nicht mehr bis ins letzte Detail rekonstruieren. Die Aussagen der Beteiligten sind zu widersprüchlich.

Thomas sagt, das Ganze sei aus einer Wette heraus entstanden, er sei von anderen Schülern aus Jux gefesselt worden. Er habe sich befreit. Dann sei der andere Bub gekommen, habe die Hände hingestreckt und gesagt, das könne er auch: sich befreien.
Im Strafbefehl der Jugendanwaltschaft wird das Aussagen-Wirrwarr zur unumstösslichen Wahrheit: Thomas und die fünf anderen Buben schlugen vor, einen Gleichaltrigen zu fesseln, um «zu schauen, ob er sich selbst befreien konnte». Dazu nahmen sie ein Seil aus einer Spielkiste, banden ihm die Hände vor dem Bauch zusammen, verknoteten es und wickelten es um die Beine. Zuletzt stülpten sie dem Buben einen Kissenbezug über den Kopf. Er wollte sich befreien, fiel hin und zog sich Prellungen zu. Der Gefesselte weinte, die Buben lachten, zwei schleiften ihn über den Boden. Thomas löste «nach ungefähr 10 Minuten» das Seil.

Verfahren kostet 150'000 Franken
Der gefesselte Bub war schon früher Opfer von Streichen – auch von anderen Kindern. Es hat Interventionen und Elternabende gegeben. Bei seiner Familie sind Wunden aufgerissen.
Die Jugendanwältin verurteilte die sechs Buben wegen Tätlichkeit und Freiheitsberaubung. Fünf Strafbefehle sind rechtskräftig. Thomas und seine Eltern akzeptierten die Strafe. Er muss «eine unbedingte persönliche Leistung von drei Tagen in Form von deliktsorientierten Gesprächen» erbringen. Hinzu kommt ein weiterer Tag bedingt, mit einer Probezeit von einem Jahr.

Zudem muss er Verfahrenskosten von fast 10'000 Franken übernehmen, sollte er in den nächsten zehn Jahren zu Vermögen kommen. Das Verfahren kostete um die 150'000 Franken. Und es dauerte fast anderthalb Jahre.

«Versagen der pädagogischen Welt»
«Der Fall ist leider bezeichnend», sagt Philipp Ramming, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie. «Er zeigt das Versagen der pädagogischen Welt, indem ein Problem an die staatliche Autorität delegiert wird.» Die verurteilten Jugendlichen würden sich kaum «korrekt behandelt» fühlen. «Für sie muss es sich anfühlen wie eine Hexenjagd. Und auch die Opferfamilie hat nichts davon, weil es keine Versöhnung gibt.»

Es habe schon immer Kinder gegeben, die unter die Räder gekommen seien. «Das ist und bleibt fies und gemein», sagt Ramming. Nur müssten die Lösungen mit pädagogischen Mitteln erfolgen. «Man kann die Rädelsführer aus dem Umfeld entfernen oder den Schwachen einen Götti oder eine Begleitperson zur Seite stellen. Das funktioniert häufig sehr gut. Miteinander ist immer erfolgreicher als gegeneinander. Aber da müssen die Eltern mitmachen.»

Im Dorf wurde zunächst alles vorbildlich aufgegleist. Wenige Tage nach dem Lager organisierte die Kirche eine Besprechung, an der alle Buben teilnahmen. Sie mussten sich fragen, was falsch gelaufen ist und wie solche Vorfälle verhindert werden können. «Wir suchten eine erste Form der Entschuldigung», heisst es in einem Schreiben nach dem Anlass.

Schulleiter ermuntert die Mutter zur Anzeige
Thomas ging von der 1. bis zur 3. Klasse mit dem Opfer in die gleiche Klasse. Sie waren Kollegen, Thomas holte den Buben jeden Morgen ab. «Wir haben uns nichts gedacht bei der Aktion. Erst als ich zu Hause war, merkte ich, dass wir einen ‹huere Schissdräck› gemacht haben», sagt er heute. Thomas hat sich entschuldigt.

Die Mutter des Opfers erwog eine Anzeige – «wegen des Filmens», wie sie in einer Mail an einen Schulleiter schreibt. Sie vermutete, die Buben hätten ihren Sohn fotografiert und gefilmt. So steht es in der Strafanzeige. Doch diese Filme und Fotos existieren nicht. Wie es scheint, wurde die Mutter vom selben Schulleiter zu einer Anzeige ermuntert. Einen Tag nach dem Lager schrieb er ihr über die E-Mail-Adresse der Schule: «Ohne weitere Gespräche abzuwarten, würde ich dir wohl empfehlen, eine Anzeige zu machen. Das wäre evtl. eine Sprache, die die Jugendlichen verstehen . . .»

Der Schulleiter sagt heute, er habe den Rat als Privatperson gegeben. Die Mutter des Opfers will sich nicht äussern. Die zuständige Gemeinderätin sagt, alles habe sich beruhigt. Die Verantwortlichen von Schule und Kirche seien «sensibilisiert und aufmerksam».

Lektion gelernt
Thomas’ Mutter hat sich bei der Mutter des Opfers gemeldet und sie gebeten, die Anzeige zurückzuziehen. Die «Giele» hätten ihre Lektion gelernt, es sei doch Gras über die Sache gewachsen.

«Letztlich bekommt man den Eindruck, dass die Erwachsenen sich nicht mehr getrauen, hinzustehen und soziale Normen im persönlichen Kontakt durchzusetzen», sagt Psychologe Ramming. Kinder und Jugendliche lebten ja nicht isoliert. Sie sind umgeben von Erwachsenen. «Wo waren die beim Vorfall? Wo sind sie jetzt?» Thomas, vor kurzem 15 Jahre alt geworden, besucht nach den Sommerferien die neunte Klasse. Das Opfer von damals sieht er fast jeden Tag auf den Pausenplatz. Sie besuchen nicht mehr die gleiche Schule, aber sie grüssen sich.

Bald findet das Konfirmationslager statt. Dann kommen alle Buben wieder zusammen.


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