18. Juni 2017

Entdeckendes Lernen fördern

Haben Schule und Unterricht im Kampf gegen rechtspopulistische und postfaktische Strömungen im Netz eine Chance, haben sie ihn womöglich noch gar nicht aufgenommen oder ihn bereits verloren?
Schule im postfaktischen Zeitalter, NZZ, 17.6. von Volker Reinhardt


Wenn wir im Internet zu Themen wie Europa oder Flüchtlingspolitik recherchieren, gelangen wir sehr schnell auf Seiten der sogenannten Identitären oder solche mit «political incorrect news» und weitere, die sich im Netz grosser Beliebtheit erfreuen und daher von den Suchmaschinen auch recht weit oben angezeigt werden. Trotz den vielen geschlossenen oder geschützten Netzen und Blogs, in denen sich Rechtspopulisten tummeln, kommt man also auch bei einer normalen Google-Suche sehr schnell zu den einfachen Wahrheiten der «Welterklärer».

Nun könnte man als Pädagoge oder Lehrerin sagen, dass das der Lauf der Dinge sei und dass sich die Jugendlichen – wie zu allen Zeiten – mit den neuen Medien irgendwann arrangieren und ihren eigenen Weg finden werden, damit umzugehen. Jedenfalls kann es trotz der Diskussion um Pisa, Vera, Kompetenzen und Bildungsstandards gar nicht die Aufgabe der Schule sein, dem etwas entgegenzusetzen. Wir haben so viele Aufgaben in den einzelnen Fächern und in der Schulentwicklung zu bewältigen, dass gar kein Platz für solche wertorientierten, ethisch-politischen Fragen bleibt. Vielleicht sagen sich Einzelne auch, dass wir mit unseren wenigen Unterrichtsstunden in der Schule gegen die parallele Erziehung im Netz gar keine Chance haben. Kann es Aufgabe der Schule sein, postfaktische Weisheiten der Populisten zu dechiffrieren und dagegen anzugehen? Muss sich die Schule also damit beschäftigen, auch weil das Wort «postfaktisch» von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt wurde?

Wie ist es mit der Postfaktizität?
Überhaupt: Was soll das mit der postfaktischen Politik eigentlich bedeuten? Gab es vor dieser «post»-Zeit tatsächlich eine Zeit, in der Fakten die dominierende Rolle in Gesellschaft und Politik gespielt haben? Was sind eigentlich politische Fakten? Und waren es nicht gerade sozialwissenschaftliche Theorien wie die der philosophischen Konstruktivisten, die uns gesagt haben, dass jeder seine Wirklichkeit selbst konstruiert und seine eigenen Wahrheiten produziert? Also, wie ist es dann mit der Postfaktizität?
Wir müssen aber gar nicht philosophisch-abstrakten Überlegungen nachgehen, es reicht beispielsweise auch schon die gesellschaftsrelevante Frage, ob sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet oder nicht. Fragen wir Expertinnen von Arbeitgeberinstitutionen, erfahren wir andere Wahrheiten, als wenn wir solche der Gewerkschaften befragen. Ist (und war) also alles nur eine Frage des Standpunktes, der Meinung, der individuellen Sicht auf Politik und Gesellschaft? Und sind damit alle – unterschiedlichen – Sichtweisen auf Politik und Gesellschaft gleichwertig? Ist nicht gerade durch den Beutelsbacher Konsens schon in den 1970er Jahren festgeschrieben worden, dass alles, was in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers dargestellt und diskutiert werden soll und dass niemandem eine Meinung aufgezwungen werden darf, er also nicht indoktriniert werden darf? Wenn also politische Mündigkeit ein wichtiges Ziel der Bildungsanstrengungen in Schule und Unterricht darstellt, dürfen Schule und Unterricht auch nicht eingreifen, wo Meinungen und Haltungen nicht den Vorstellungen und Werten der Lehrerschaft entsprechen? Also lassen wir als Lehrer und Lehrerinnen lieber die Finger von heissen Themen, die populistisch aufgeladen sind und mit denen unsere Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit, im Netz und in den Peer-Gesprächen konfrontiert werden?
Fragen über Fragen, die aufzeigen, dass es gar nicht so leicht ist, sich als Lehrerinnen und Lehrer den Themen eines vermeintlich postfaktischen Zeitalters, das durch populistische Strömungen, durch Beschimpfungen, Entgleisungen und Hasstiraden – vor allem im Netz – geprägt ist, zu stellen. Was also ist zu tun?

Lügen als solche aufdecken
Erstens gibt es tatsächlich Themen und Kontroversen, bei denen Behauptungen durch Faktenrecherche leicht als richtig oder falsch deklariert werden können. Hier sollten sich Lehrerinnen und Lehrer nicht scheuen, populistische Lügen als solche zu kennzeichnen und die Fakten auf den Tisch zu legen. Zweitens sind gerade die gesellschaftlichen und politischen Themen und Fragen für Schule und Unterricht interessant, bei denen man nicht auf Anhieb Lügen bzw. Postfaktizität dechiffrieren kann, bei denen es einen aber gefühlsmässig durchschüttelt oder fast zerreisst. Hier hilft, was sehr häufig hilft, wenn's in der Schule wirklich ernst wird: Man muss sich Zeit nehmen, man muss den Schülerinnen und Schülern Zeit geben, damit sie sich durch Recherchen, durch echte Argumentationen (statt durch Ad-hoc-Meinungen, Standpunkte oder Beschimpfungen) dem Thema nähern können und die Aussagen von Populisten und die Gegenargumente reflektieren können.
Hier helfen Lehr- und Lernformen wie forschendes Lernen, Sozialstudien, Fallanalysen oder Projektarbeit, um in das Thema tief einzudringen und den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ein Thema wirklich zu begreifen und zu analysieren. Auch das Einnehmen einer anderen Perspektive – wie zum Beispiel durch Planspiele, Pro-Contra- oder Talkshow-Diskussionen – kann dazu beitragen, dass sich die Lernenden mit anderen Vor- und Einstellungen eingehender auseinandersetzen lernen. Wenn sie den Themen aktiv auf den Grund gehen, davon also nicht nur oberflächlich hören oder darüber etwas lernen müssen, werden sie ein differenziertes Weltbild erhalten und nicht emotionalisierten Populisten auf den Leim gehen.

Stellung beziehen
Drittens sollte der Beutelsbacher Konsens nicht dazu führen, dass sich der Lehrer aus Angst vor Überwältigung und Indoktrination der Schüler als Neutrum betrachtet und sich jeder eigenen Überzeugung enthält. Vielmehr sollten Lehrerinnen und Lehrer nach der gründlichen Erarbeitung bzw. Durchdringung des Themas sehr wohl ihre Meinung dazu sagen dürfen (vor allem fordern dies die Schüler regelmässig auch heraus) und sich nicht auf ihre Neutralität zurückziehen. Zum einen fördert das nicht gerade die Authentizität der Lehrperson, zum anderen bekennen sich viele Schulen in ihrem Leitbild und in ihren Grundsätzen zu Werten und erarbeiten häufig Schulentwicklungsprogramme wie «Schule gegen Rassismus» oder «Fair miteinander».

Aber sicherlich ist das Sicheinlassen auf gesellschaftliche und politische Fragen immer eine Gratwanderung zwischen Indoktrinationsverbot und Wertvermittlung; es geht also um die Fragen: Wo halte ich mich mit meiner Meinung/Haltung zurück, und wo möchte ich auch wert- und normorientiert bilden und erziehen? Wenn Schüler aber einem gesellschaftlich relevanten Problem auf den Grund gegangen sind, halten sie auch die Meinung des Lehrers aus und können sich damit auseinandersetzen und sich vor allem argumentativ daran reiben.

Viertens sind zentrale gesellschaftliche Fragen, die von Populisten gerne aufgenommen werden, Themen aller Fächer und der Schule als ganzer. Es sollte sich meines Erachtens kein Fach nicht zuständig fühlen, wenn es darum geht, Licht ins Dunkel der postfaktischen Weisheiten zu bringen. Nicht nur die klassischen Unterrichtsfächer Geschichte und Gemeinschaftskunde sollten sich diesen Fragen stellen, ebenso sind die Naturwissenschaften aufgerufen, sich postfaktischem Populismus zu stellen und Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zu geben, sich mit den einfachen Wahrheiten der Protagonisten auseinanderzusetzen. Sie sind aufgefordert, der wichtigen Aufgabe der Schule nachzukommen, rationales forschendes und entdeckendes Lernen zu fördern.

Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg.


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