Unter Eltern und Lehrern wächst der Unmut über die Inklusion. „Wir
brauchen jetzt eine breite Debatte über die Inklusion – sonst droht ihr das
Schicksal von G8“, heißt es auf einem Lehrerportal, das die Stimmung genau
trifft. Zwischen der politischen Propaganda der Länder und der Schulrealität
klaffen Welten. Zwar schickt nahezu täglich ein Kultusministerium eine
Erfolgsmeldung über neue Zahlen förderbedürftiger Schüler an Regelschulen.
Spitzenreiter ist Bremen, Schlusslicht Hessen. Über die Qualität der Förderung
ist damit aber noch nichts gesagt, ganz im Gegenteil. Zugleich wächst die
Unzufriedenheit der Eltern behinderter Kinder über die Einschränkung des
Elternwahlrechts. In vielen Ländern, wie in Nordrhein-Westfalen, das viele
Förderschulen geschlossen hat, gilt noch immer der ideologische Kurzschluss,
dass sich behinderte Kinder nur unter Regelschülern gut entwickeln.
Inklusion nur für diejenigen, die auch davon profitieren, Bild: dpa
Illusion Inklusion, FAZ, 28.5. vom Heike Schmoll
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Häufig genug aber bewahrheitet sich das Gegenteil davon: Ausgrenzung,
Hohn und Spott, mangelnde Förderung und eine unlösbare Überforderung der Lehrer
machen die Schule für
viele Betroffene zur Hölle. Solche frühen Stigmatisierungen wirken gerade bei
Kindern mit Lernbehinderung (die größte Gruppe unter den förderbedürftigen
Schülern) wie ein langsames Gift, das sich erst später in einem gestörten
Selbstwertgefühl widerspiegelt. Überforderte Lehrer sind dagegen machtlos. Sie
sollen nicht nur schwache und leistungsstarke Schüler, Kinder mit den
unterschiedlichsten Behinderungen, sondern jetzt auch noch Flüchtlingskinder in
geeigneter Weise fördern.
Anfällig für frühen Drogenmissbrauch
Die Kultusministerien reden im Pädagogenjargon von zieldifferenter
Förderung, mehreren Niveaustufen und meinen, das Dilemma lasse sich durch Aus-
und Weiterbildung der Lehrer lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Wie so oft
delegieren sie die Verantwortung an die Lehrer. Wer als Regelschullehrer an
einem Wochenende sonderpädagogisch fortgebildet wird, kann nie so zielgenau
fördern wie ein qualifizierter Förderlehrer. Der eilt nun in vielen
Bundesländern beratend von Schule zu Schule und leidet an der Unzulänglichkeit
seiner viel zu kurzen Einsätze. In Berlin sind nur 39 Prozent der Stellen auch
wirklich mit Fachkräften besetzt.
An dieser Entprofessionalisierung der unterrichtenden Lehrer wird die
Inklusion noch scheitern. Körperbehinderte Schüler zu integrieren gehört noch
zu den leichteren Übungen. Doch die Gruppe derer, die am meisten Aufmerksamkeit
braucht, wird immer größer. Das sind Kinder mit emotional-sozialer
Entwicklungsstörung, die man früher als schwer erziehbar bezeichnet hätte.
Zwischen 2005 und 2015 ist diese Gruppe um 86 Prozent auf 85.500 gewachsen. Jeder
Zweite davon besucht eine Regelschule. Im Schulalltag sind es häufig
diejenigen, die plötzlich aggressiv werden, „ausrasten“ und weder vom
Schulbegleiter noch vom Lehrer zu bändigen sind. Aus lauter Angst, Kinder zu
etikettieren und dadurch zu diskriminieren, werden solche Störungen häufig
nicht einmal mehr personenbezogen erhoben – und damit unter den Teppich
gekehrt.
Das schadet dem Unterricht, aber am meisten den betroffenen Schülern
selbst. Der Berliner Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck hat in einer Expertise
davor gewarnt, die Verfassung dieser Kinder zu bagatellisieren. Die meisten
seien bindungsgestört und „stark beeinträchtigt“. Viele von ihnen seien
anfällig für frühen Drogenmissbrauch und schwänzten ganz einfach die Schule.
Allein durch stärkere Toleranz und gutgemeinte Integration lassen sich die
Probleme dieser Kinder nicht lösen. Eine buntgemischte Klasse – womöglich noch
mit traumatisierten Flüchtlingskindern – kann diesen Schülern nicht die
sicheren Rückzugsräume bieten, die sie brauchen, um ihre Störung zu überwinden.
Die richtige Messlatte
Obwohl die Förderlehrer dafür dringend gebraucht würden, lässt sich der
Förderschwerpunkt „emotional-soziale Entwicklung“ wegen der fortgeschrittenen
Reformitis des Lehrerstudiums kaum noch studieren. Einer zunehmend heterogenen
Schülerschaft steht deshalb eine immer stärker entprofessionalisierte
Lehrerschaft gegenüber. Der pädagogische Großversuch der Inklusion, der auf
wachsende Ernüchterung bei den Praktikern gestoßen ist, kann auf diese Weise
nur scheitern. Was wohlgemeint daherkommt, widerspricht viel zu oft dem
Kindeswohl. Die fortschreitende Auflösung von Behinderungs- und
Förderkategorien führt zu einer fatalen Selbst- und Fremdtäuschung. Denn die
fehlende individuelle Diagnose endet genau bei jener Benachteiligung, die sie
eigentlich vermeiden will. Deshalb ist es nötig, genügend Förderschulen zu
erhalten und nur diejenigen Förderbedürftigen in die Regelschule zu
integrieren, die davon profitieren.
Ähnliches gilt für die vielen Flüchtlingskinder. Noch nie
alphabetisierte Kinder brauchen Zeit und werden nur in seltenen Fällen rasch
ein Gymnasium besuchen können. Anderen reicht ein Intensivkurs in Deutsch, und
sie reüssieren glänzend. Unterscheidung dient auch hier allein dem Kindeswohl.
Die Schulzeit muss sich an ihrem Ertrag für die jeweilige Bildungsbiographie
messen lassen und nicht an den Ideologien bestimmter Ministerien oder
Inklusionstheoretiker.
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