28. Mai 2017

Google steht vor der Tür

In nur fünf Jahren ist Google zur dominanten Lieferantin von digitalen Lehrmitteln in den USA geworden. Das Unternehmen verdrängt nicht nur Apple und Microsoft, sondern spannt immer mehr auch Lehrer und Schulverwalter als Promotoren in eigener Sache ein. Die kostenlosen Lehrmittel und supergünstigen Chromebooks sprechen vor allem Schulen in prekären finanziellen Verhältnissen an. Mehr als die Hälfte der Primar- und Sekundarschulen in den USA sind deshalb bereits Kunden von Google. Doch auch im Ausland will der Werbekonzern nun die Schulzimmer erobern. In der Schweiz ist die ETH Lausanne die erste grosse Partnerin von Google.
Die Google-Invasion in den amerikanischen Schulen, Tages Anzeiger, 26.5. von Walter Niederberger


Hinter der Initiative «Google for Education» steht eine skeptische Haltung zur traditionellen Primarschule. Immer mehr fragen sich Lehrer, was die Schulen den Jungen vermitteln sollen. Sollen die Primarschulen weiterhin spezifische Kenntnisse wie das Lösen mathematischer Aufgaben lehren? Oder sollen sie eher allgemeine Tugenden wie die Teamarbeit und das Problemlösen als solches fördern? Dieselben Fragen haben auch Google umgetrieben – wobei der Internetkonzern zu einer eindeutigen Antwort gekommen ist. «Ich weiss nicht, was meine Kinder mit einer quadratischen Gleichung anfangen sollen. Mir ist unklar, warum sie so etwas noch lernen sollen, statt die Lösung mithilfe von Google zu suchen», sagt Google-Ingenieur Jonathan Rochelle, der massgeblich an der Entwicklung von Google-Docs-Software beteiligt war.

Apple und Microsoft überholt
Als Apple und Microsoft noch darauf konzentriert waren, ihre teuren Laptops und für die Geschäftswelt gedachten Anwendungen an die Schulen zu vermarkten, stellte Rochelle 2013 radikal um. Er stellte ein Team mit dem Auftrag zusammen, digitale Hilfsmittel spezifisch für die Primarschulen zu bauen. Zwar hatte Google schon 2006 in Arizona erste Applikationen für die Schulen lanciert, doch nun ging es Rochelle darum, auch das Chromebook auf breiter Front einzusetzen. Das Google-Notebook hatte zu diesem Zeitpunkt den unrühmlichen Ruf eines nur limitiert einsetzbaren Billiggerätes erlangt, die Verkäufe des Geräts stockten.

Das Chromebook hat anders als ein Laptop keine Harddisk, ist aber direkt mit der Internetwolke verbunden, wo auch alle Applikationen und Dokumente gespeichert werden. Für Schulen mit kleinem Budget erschien das minimalistische Gerät gerade recht. Google entwickelte das Softwarepaket Classroom und suchte 2014 Freiwillige, die eine erste, noch grobe Version testen sollten. Mehr als 100'000 Lehrer aus der ganzen Welt machten mit, und ein halbes Jahr später wurde das neue digitale Lehrmittel für den breiten Gebrauch freigegeben.

Der Erfolg seither übertraf die kühnsten Erwartungen. Letztes Jahr machten Chromebooks bereits 58 Prozent aller an die US-Primarschulen verkauften Laptops, Notebooks und Computer aus. Auch in Schweden ist das Chromebook gemäss der Marktforschungsfirma Futuresource das am meisten verbreitete Gerät der Studenten geworden. Und in Australien, Neuseeland sowie in abgelegenen Regionen des Amazonas in Brasilien und Afrika habe Google ebenfalls bereits Einzug in den Schulen gehalten, sagt Mediensprecherin Molly Morgan. Ihren Angaben zufolge brauchen heute weltweit 20 Millionen Schüler ein Chromebook; und 70 Millionen Schüler und Lehrer benützen die Google-Lehrmittel. Produziert werden die Geräte von Samsung, Acer, Lenovo und anderen Herstellern in Asien. Sie sind deutlich günstiger als die Laptops von Apple und Microsoft, die billigsten sind für etwas mehr 170 Dollar zu haben.

Für Schulen mit Budgetproblemen ist das eine verlockende Offerte: Die Chicago Public Schools etwa, mit 381'000 Schülern die drittgrösste Schulgemeinde des Landes, schaffte rasch 143'000 Chromebooks für 33,5 Millionen Dollar an. Und in Charlotte in North Carolina kauften die Primarschulen 154'000 Geräte. «Wer es in Chicago schafft, hat den Test bestanden», erklärte Bram Bout, Chef der Google-Erziehungsabteilung, der «New York Times». Chicago öffnete Google quasi den Zugang zu vielen anderen Schulen des Landes. Geholfen hat in Chicago indessen auch ein Finanzskandal, in den die Direktorin des Schulbezirks verwickelt war. Sie hatte mehr als 23 Millionen Dollar an zwei Lehrmittelfirmen vergeben, ohne den Auftrag öffentlich auszuschreiben. Die Direktorin bekannte sich der Korruption schuldig und wurde vor kurzem zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt.

Chicago spielte aber in einer weiteren Hinsicht eine bahnbrechende Rolle. Der Schule ging die Google-Offensive zu schnell. Sie beharrte auf eigenen Testversuchen und fand auf diese Weise Fehler und Mängel heraus, die Google anschliessend im System ausmerzen konnte. So ergänzte Google die Classroom-Software mit einer Archivfunktion, da die Schulbehörde die E-Mails aufbewahren und sich damit gegen potenzielle Klagen wegen Einschüchterungsversuchen unter den Schülern absichern wollte.

Die Lehrer und Schulbehörden rückten damit auch in eine Rolle der Promotoren von Google. Im Gegenzug machte Google sie zu digitalen Aufsehern der Schüler. Das Team um Jonathan Rochelle wollte den Lehrern eine «Mission Control» in die Hand geben, damit sie Hausaufgaben leicht zuteilen und korrigieren können. Sie können für Prüfungen auch den Zugriff auf die Geräte sperren. Dafür sollten sie mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Schüler haben. Lehrer und Schüler kommunizieren über die Internetwolke. Auch können die Schulen unerwünschte und ablenkende Applikationen unterbinden. «Für 98 Prozent der Schüler reicht das», sagt Tracy Dabbs, die Technologie-Ko­ordinatorin an der Burlington-Edison-­Primarschule, die sich in der Nähe von Seattle befindet.

Vorteile des US-Datenschutzes
Ohne den relativ lockeren Daten- und Persönlichkeitsschutz in den USA hätte sich Google allerdings kaum so schnell durchgesetzt. Apple-Chef Steve Jobs gewichtete seinerzeit den Datenschutz noch sehr hoch, bei Google wirft die für die Einhaltung der Grundrechte kämpfende Nichtregierungsorganisation Electronic Frontier Foundation in dieser Hinsicht kritische Fragen auf. Die Stiftung reichte vor zwei Jahren eine Klage ein und warf Google vor, die Personendaten der Schüler zu speichern und für Werbezwecke weiterzuverwenden. Dieses Frühjahr publizierte die Stiftung eine weitere kritische Analyse. «Oft ohne Zustimmung und Wissen der Studenten und deren Familien speichern einzelne Programme automatisch Angaben zu den Schülern ab», so die Kritik. Google widerspricht den Vorwürfen. «Wir verkaufen keinerlei Schülerdaten an Drittparteien», erklärt Google-Sprecherin Molly Morgan. «Die G-Suite for Education wird nicht durch Werbung finanziert. Sie wird mit einem speziellen Vertrag versehen, der auch den europäischen Datenschutz­gesetzen entspricht.»

EPFL sieht sich im Hintertreffen
In der Schweiz bietet Google bisher nur Workshops an. «Die Chromebooks befinden sich in der frühen Aufbauphase», sagt Molly Morgan. Während in Holland die Hälfte der Universitäten bereits die G-Suite braucht, ist in der Schweiz erst die Eidgenössisch Technische Hochschule Lausanne (EPFL) auf den Google-Zug aufgesprungen. «Wir sind eben bekannt dafür, dass wir den Austausch und das Bearbeiten von Forschungsdaten über die Cloud fördern wollen. Andere Hochschulen in der Schweiz sind in dieser Hinsicht konservativer», sagt Didier Rey, Vizepräsident für Informatik an der EPFL. «Wir verwenden die G-Suite, weil sie das beste Instrument ist, um Dokumente zwischen Forschern an verschiedenen Standorten auszutauschen und zu bearbeiten.»

Doch das Terrain Schweiz ist nicht leicht zu bearbeiten. «Die Datenschutzbestimmungen in der Schweiz sind sehr kompliziert», sagt Rey. «Amerikanische Hochschulen sind sehr viel freier in der Verwendung und Speicherung von Forschungsdaten in der Cloud als wir. Wir verlieren im Konkurrenzkampf mit den US-Hochschulen zunehmend an Boden.» Nach Ansicht der EPFL-Experten ist es wichtig, eine präzisere rechtliche Regelung in der Schweiz zu finden. «Die Datenschutzbestimmungen sind für öffentliche Institutionen wie die ETH Lausanne besonders lähmend», so Rey. «Das ist immer mehr ein Problem, weil wir damit einen Konkurrenznachteil erleiden.»


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