In nur fünf Jahren ist Google zur dominanten Lieferantin von digitalen
Lehrmitteln in den USA geworden. Das Unternehmen verdrängt nicht nur Apple und
Microsoft, sondern spannt immer mehr auch Lehrer und Schulverwalter als
Promotoren in eigener Sache ein. Die kostenlosen Lehrmittel und supergünstigen
Chromebooks sprechen vor allem Schulen in prekären finanziellen Verhältnissen
an. Mehr als die Hälfte der Primar- und Sekundarschulen in den USA sind deshalb
bereits Kunden von Google. Doch auch im Ausland will der Werbekonzern nun die
Schulzimmer erobern. In der Schweiz ist die ETH Lausanne die erste grosse
Partnerin von Google.
Die Google-Invasion in den amerikanischen Schulen, Tages Anzeiger, 26.5. von Walter Niederberger
Hinter der Initiative «Google for Education» steht eine skeptische
Haltung zur traditionellen Primarschule. Immer mehr fragen sich Lehrer, was die
Schulen den Jungen vermitteln sollen. Sollen die Primarschulen weiterhin
spezifische Kenntnisse wie das Lösen mathematischer Aufgaben lehren? Oder
sollen sie eher allgemeine Tugenden wie die Teamarbeit und das Problemlösen als
solches fördern? Dieselben Fragen haben auch Google umgetrieben – wobei der
Internetkonzern zu einer eindeutigen Antwort gekommen ist. «Ich weiss nicht,
was meine Kinder mit einer quadratischen Gleichung anfangen sollen. Mir ist
unklar, warum sie so etwas noch lernen sollen, statt die Lösung mithilfe von
Google zu suchen», sagt Google-Ingenieur Jonathan Rochelle, der massgeblich an
der Entwicklung von Google-Docs-Software beteiligt war.
Apple und Microsoft überholt
Als Apple und Microsoft noch darauf konzentriert waren, ihre teuren
Laptops und für die Geschäftswelt gedachten Anwendungen an die Schulen zu
vermarkten, stellte Rochelle 2013 radikal um. Er stellte ein Team mit dem
Auftrag zusammen, digitale Hilfsmittel spezifisch für die Primarschulen zu
bauen. Zwar hatte Google schon 2006 in Arizona erste Applikationen für die
Schulen lanciert, doch nun ging es Rochelle darum, auch das Chromebook auf
breiter Front einzusetzen. Das Google-Notebook hatte zu diesem Zeitpunkt den
unrühmlichen Ruf eines nur limitiert einsetzbaren Billiggerätes erlangt, die
Verkäufe des Geräts stockten.
Das Chromebook hat anders als ein Laptop keine Harddisk, ist aber direkt
mit der Internetwolke verbunden, wo auch alle Applikationen und Dokumente
gespeichert werden. Für Schulen mit kleinem Budget erschien das minimalistische
Gerät gerade recht. Google entwickelte das Softwarepaket Classroom und suchte
2014 Freiwillige, die eine erste, noch grobe Version testen sollten. Mehr als
100'000 Lehrer aus der ganzen Welt machten mit, und ein halbes Jahr später
wurde das neue digitale Lehrmittel für den breiten Gebrauch freigegeben.
Der Erfolg seither übertraf die kühnsten Erwartungen. Letztes Jahr
machten Chromebooks bereits 58 Prozent aller an die US-Primarschulen verkauften
Laptops, Notebooks und Computer aus. Auch in Schweden ist das Chromebook gemäss
der Marktforschungsfirma Futuresource das am meisten verbreitete Gerät der
Studenten geworden. Und in Australien, Neuseeland sowie in abgelegenen Regionen
des Amazonas in Brasilien und Afrika habe Google ebenfalls bereits Einzug in
den Schulen gehalten, sagt Mediensprecherin Molly Morgan. Ihren Angaben zufolge
brauchen heute weltweit 20 Millionen Schüler ein Chromebook; und 70 Millionen
Schüler und Lehrer benützen die Google-Lehrmittel. Produziert werden die Geräte
von Samsung, Acer, Lenovo und anderen Herstellern in Asien. Sie sind deutlich
günstiger als die Laptops von Apple und Microsoft, die billigsten sind für
etwas mehr 170 Dollar zu haben.
Für Schulen mit Budgetproblemen ist das eine verlockende Offerte: Die
Chicago Public Schools etwa, mit 381'000 Schülern die drittgrösste
Schulgemeinde des Landes, schaffte rasch 143'000 Chromebooks für 33,5 Millionen
Dollar an. Und in Charlotte in North Carolina kauften die Primarschulen 154'000
Geräte. «Wer es in Chicago schafft, hat den Test bestanden», erklärte Bram
Bout, Chef der Google-Erziehungsabteilung, der «New York Times». Chicago
öffnete Google quasi den Zugang zu vielen anderen Schulen des Landes. Geholfen
hat in Chicago indessen auch ein Finanzskandal, in den die Direktorin des
Schulbezirks verwickelt war. Sie hatte mehr als 23 Millionen Dollar an zwei
Lehrmittelfirmen vergeben, ohne den Auftrag öffentlich auszuschreiben. Die
Direktorin bekannte sich der Korruption schuldig und wurde vor kurzem zu einer
Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt.
Chicago spielte aber in einer weiteren Hinsicht eine bahnbrechende
Rolle. Der Schule ging die Google-Offensive zu schnell. Sie beharrte auf
eigenen Testversuchen und fand auf diese Weise Fehler und Mängel heraus, die
Google anschliessend im System ausmerzen konnte. So ergänzte Google die
Classroom-Software mit einer Archivfunktion, da die Schulbehörde die E-Mails
aufbewahren und sich damit gegen potenzielle Klagen wegen
Einschüchterungsversuchen unter den Schülern absichern wollte.
Die Lehrer und Schulbehörden rückten damit auch in eine Rolle der
Promotoren von Google. Im Gegenzug machte Google sie zu digitalen Aufsehern der
Schüler. Das Team um Jonathan Rochelle wollte den Lehrern eine «Mission
Control» in die Hand geben, damit sie Hausaufgaben leicht zuteilen und
korrigieren können. Sie können für Prüfungen auch den Zugriff auf die Geräte
sperren. Dafür sollten sie mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Schüler
haben. Lehrer und Schüler kommunizieren über die Internetwolke. Auch können die
Schulen unerwünschte und ablenkende Applikationen unterbinden. «Für 98 Prozent
der Schüler reicht das», sagt Tracy Dabbs, die Technologie-Koordinatorin an
der Burlington-Edison-Primarschule, die sich in der Nähe von Seattle befindet.
Vorteile des US-Datenschutzes
Ohne den relativ lockeren Daten- und Persönlichkeitsschutz in den USA
hätte sich Google allerdings kaum so schnell durchgesetzt. Apple-Chef Steve
Jobs gewichtete seinerzeit den Datenschutz noch sehr hoch, bei Google wirft die
für die Einhaltung der Grundrechte kämpfende Nichtregierungsorganisation
Electronic Frontier Foundation in dieser Hinsicht kritische Fragen auf. Die
Stiftung reichte vor zwei Jahren eine Klage ein und warf Google vor, die
Personendaten der Schüler zu speichern und für Werbezwecke weiterzuverwenden.
Dieses Frühjahr publizierte die Stiftung eine weitere kritische Analyse. «Oft
ohne Zustimmung und Wissen der Studenten und deren Familien speichern einzelne
Programme automatisch Angaben zu den Schülern ab», so die Kritik. Google
widerspricht den Vorwürfen. «Wir verkaufen keinerlei Schülerdaten an
Drittparteien», erklärt Google-Sprecherin Molly Morgan. «Die G-Suite for
Education wird nicht durch Werbung finanziert. Sie wird mit einem speziellen
Vertrag versehen, der auch den europäischen Datenschutzgesetzen entspricht.»
EPFL sieht sich im Hintertreffen
In der Schweiz bietet Google bisher nur Workshops an. «Die Chromebooks
befinden sich in der frühen Aufbauphase», sagt Molly Morgan. Während in Holland
die Hälfte der Universitäten bereits die G-Suite braucht, ist in der Schweiz
erst die Eidgenössisch Technische Hochschule Lausanne (EPFL) auf den Google-Zug
aufgesprungen. «Wir sind eben bekannt dafür, dass wir den Austausch und das
Bearbeiten von Forschungsdaten über die Cloud fördern wollen. Andere
Hochschulen in der Schweiz sind in dieser Hinsicht konservativer», sagt Didier
Rey, Vizepräsident für Informatik an der EPFL. «Wir verwenden die G-Suite, weil
sie das beste Instrument ist, um Dokumente zwischen Forschern an verschiedenen
Standorten auszutauschen und zu bearbeiten.»
Doch das Terrain Schweiz ist nicht leicht zu bearbeiten. «Die
Datenschutzbestimmungen in der Schweiz sind sehr kompliziert», sagt Rey.
«Amerikanische Hochschulen sind sehr viel freier in der Verwendung und
Speicherung von Forschungsdaten in der Cloud als wir. Wir verlieren im
Konkurrenzkampf mit den US-Hochschulen zunehmend an Boden.» Nach Ansicht der
EPFL-Experten ist es wichtig, eine präzisere rechtliche Regelung in der Schweiz
zu finden. «Die Datenschutzbestimmungen sind für öffentliche Institutionen wie
die ETH Lausanne besonders lähmend», so Rey. «Das ist immer mehr ein Problem,
weil wir damit einen Konkurrenznachteil erleiden.»
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