6. Mai 2017

Die Volksschule verdient ein besseres Sprachenkonzept

Das Konzept der sprachlichen Frühförderung steht auf wackeligem Grund.  Sechstklässler sollten sich am Ende der Primarschulzeit munter in Englisch und Französisch ausdrücken können. Dieses Ziel hielten namhafte Sprachdidaktiker für realistisch und lange Zeit wurde ihrer Botschaft gerne Glauben geschenkt. Unterdessen ist eine grosse Ernüchterung eingetreten. Eine von der Bildungsdirektorenkonferenz der Zentralschweiz durchgeführte Erhebung über die Resultate des frühen Fremdsprachenunterrichts in der Zentralschweiz ergab eine unerfreuliche Bilanz. Zwei Drittel der Schüler erreichen in der zweiten Fremdsprache (Frühfranzösisch) die elementaren Bildungsziele im Sprechen, Hörverstehen und Schreiben nicht. Einzig im Lesen schafft es die Hälfte der Schüler, die gestellten Anforderungen zu erfüllen.

Die Volksschule verdient ein besseres Sprachenkonzept, 6.5. von Hanspeter Amstutz
 
Rasches Aufholen auf der Oberstufe
Bei der ersten Fremdsprache , dem Englisch, kann immerhin festgehalten werden, dass die Lernmotivation und auch die Leistungen in Teilbereichen besser sind. Doch zum Jubeln besteht kein Grund, denn wie die viel zitierte Studie von Simone Pfenninger von der Universität Zürich zeigt, steht es um die Nachhaltigkeit des frühen Englischlernens  nicht allzu gut. Simone Pfenninger kommt zum Schluss, dass Gymnasiasten ohne Englischvorkenntnisse aus der Primarschule schon nach wenigen Monaten den Rückstand gegenüber ihren Mitschülern mit  Vorbildung aufgeholt haben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Erfolg des frühen Lernens völlig überschätzt wurde und Jugendliche mit analytischen Methoden in den  Niveauklassen der Oberstufe schneller lernen.

Missverständnisse rund um das frühe Sprachenlernen
Offensichtlich müssen einige Vorstellungen über erfolgreiches frühes Sprachenlernen korrigiert werden. Richtig ist, dass Kinder bis zum Alter von fünf Jahren tatsächlich die Fähigkeit haben, häufig gehörte Sprachen nebeneinander zu lernen. Wenn der Vater schweizerdeutsch spricht und die Mutter in der Regel spanisch, wird das Kind intuitiv mit beiden Sprachen vertraut. Doch schulisches Sprachenlernen mit begrenzter Lektionenzahl ist etwas ganz anderes. Die Phase des intuitiven Frühlernens ist längst vorbei, wenn die erste Fremdsprache auf der Unterstufe eingeführt wird.

Es bleibt das Argument mit dem spielerischen Lernen, das neben der gescheiterten immersiven Vermittlung von Realieninhalten als einer der Trümpfe der modernen Sprachendidaktik angepriesen wurde. Ein spielerischer Einstieg hilft sicher mit, eine Annäherung an den Klang der fremden Wörter zu erreichen und etwas Spass im Anfängerunterricht zu vermitteln. Doch diese Methode stösst bereits auf der Mittelstufe an seine Grenzen, wenn bei der Einführung der zweiten Fremdsprache in der fünften Klasse das spielerische Lernen entwicklungsbedingt durch einfache analytische Methoden abgelöst werden muss.

Unverständliches Abrücken des LCH von den  „Gelingensbedingungen“
Damit schulisches Fremdsprachenlernen effizient ist, müssen mindestens drei wichtige Voraussetzungen stimmen: Genug Lektionen für den täglichen Kontakt mit der Sprache,  Unterricht auf einem für möglichst alle Schüler erfolgversprechenden Level und gute sprachliche Kompetenzen der Lehrpersonen. Die ersten beiden Bedingungen kann die Primarschule mit ihrem breiten Stoffprogramm und der Heterogenität in den Klassen nicht bieten, nur die dritte wird mit riesigem Aufwand erreicht. Und dennoch will man unbedingt am Konzept festhalten, jedes Kind müsse bereits in der Primarschule zwei Fremdsprachen lernen.

Während Jahren hat der Schweizer Verband der Lehrerinnen und Lehrer (LCH) das Zweisprachenkonzept der Primarschule nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt unterstützt, dass die Rahmenbedingungen für den Fremdsprachenunterricht stark verbessert würden. Immer wieder wurde die Frist für Verbesserungen hinausgezögert und die Lehrerschaft zur nötigen Geduld ermahnt. Doch vor einem Jahr wurde die Forderung für gute „Gelingensbedingungen sang und klanglos begraben. Der LCH schwenkte voll auf die Linie des Mainstreams in der Bildungspolitik ein, ohne dass sich an den gravierenden Mängeln des Sprachenkonzepts etwas geändert hätte.

Deutsch lernen als grosse Herausforderung                                                                            Im bildungspolitischen Rummel um das Einstiegsalter beim Fremdsprachenunterricht stand die zentrale Aufgabe des Deutschlernens lange im Abseits. Erst die alarmierenden Pisa-Resultate bei den Schulabgängern im Fach Deutsch lenkte das öffentliche Interesse wieder auf den vergessenen Grundauftrag.
Die Primarlehrpersonen wiesen stets darauf hin, dass der Tanz auf drei Hochzeiten bei den Sprachen seinen Preis fordert. Wer zu vielen Zielen nachjagt, verzettelt sich. Richtig Deutsch lernen geht weit über das wichtige formale Üben und das Bearbeiten von Texten in den eigentlichen Deutschlektionen hinaus. So trägt der Unterricht in Mensch und Umwelt viel dazu bei, dass die Schüler ihren Wortschatz erweitern und Sprache richtig lustvoll erleben können. Doch haben nicht gerade Fächer wie Geschichte oder Naturkunde erheblich an Bedeutung eingebüsst? Dies geschah nicht aus Desinteresse, aber vielleicht weil den Lehrpersonen vor lauter schulischer Betriebsamkeit die Zeit für gründliche Vorbereitungen fehlte.

Keine Chancen für Halbklassenunterricht und genügend Lektionen                                                     Wenn die Ziele im frühen Fremdsprachenunterricht nicht erreicht werden, taucht rasch der Vorwurf auf, die Lehrpersonen seien unzureichend ausgebildet. Mit gutem Grund weisen sie das zurück. Die Investitionen ins Englisch in der Aus- und Weiterbildung sind beachtlich. Die allermeisten Lehrerinnen sind so gut qualifiziert, dass sie ihren Fremdsprachenunterricht situativ und lebendig gestalten können.
Ein überladenes Sprachenkonzept ist nicht mit Retouchen bei der Lektionenzahl oder mit einzelnen Dispensationen von überforderten Schülern zu retten. Der Vorschlag der Bildungsdirektion, Französisch auf der Mittelstufe um eine Lektion  zu erhöhen,  ist wenig überzeugend, da als Kompensation die Zahl der Französischlektionen auf der Oberstufe reduziert wird.
Zu einem effizienteren kommunikativen Fremdsprachenunterricht  gehört auch, dass einzelne Lektionen in den heterogenen Klassen der Mittelstufe in Halbklassenlektionen erteilt werden können. Doch statt diese Möglichkeit zu schaffen, wurde der Halbklassenunterricht aus finanziellen Gründen generell reduziert. Dabei wäre es enorm wichtig, in Gruppen mit Clubschulgrösse das Sprechen zu üben. Dass die grosse Mehrheit der Lehrpersonen der Mittelstufe mit den aktuellen Rahmenbedingungen für den Sprachenunterricht überhaupt nicht zufrieden ist, erstaunt deshalb nicht.

Überladener Auftrag der Mittelstufe                                                                                             Die Mittelstufe steht in verschiedener Hinsicht unter hohem Erwartungsdruck. Der Übertritt in die Sekundarschule oder ins Gymnasium verstärkt die Konzentration auf die kognitiven Fächer. Fremdsprachen sind zwar nicht direkt übertrittsrelevant, doch in der prognostischen Gesamtbewertung spielen sie eine grosse Rolle. Gewisse Standards in Französisch und Englisch müssen erreicht werden, wenn eine Schülerin oder ein Schüler einen guten Start auf der Oberstufe haben soll.
Mit dem allseits begrüssten Ausbau der MINT-Fächer wird der Platz in der Lektionentafel sehr knapp. Doch statt die zweite Fremdsprache auf die Sekundarschule zu verschieben, wird weiter so getan, als könne die Mittelstufe alle Bildungswünsche aufs Mal erfüllen.
Mit höherer Lektionendichte und der Konzentration auf eine Fremdsprache wird das Lernen effizienter und entspannter. Das für die meisten Frühlerner eher abträgliche Switchen zwischen den Sprachen entfällt und die Schüler können sich durch tägliche Übungssequenzen und Lerninputs mit der Sprache besser vertraut machen. Beim Lernen einer einzigen Fremdsprache ist die Chance wesentlich grösser, dass weniger Kinder völlig abgehängt werden, als wenn sie sich auf zwei Fremdsprachen einstellen müssen.

Zur ganzheitliche Bildung gehören auch die Naturwissenschaften                            Eine Konzentration der Bildung in der Primarschule auf Wesentliches bedeutet keine Verarmung des Unterrichts, indem nur noch Mathematik und Deutsch als wichtig erachtet werden. Fächer wie Geschichte, Naturkunde, Werken oder Zeichnen sollen den Kindern einen andern Zugang zu Bildungsinhalten ermöglichen. Um auch in diesen Bereichen einen lebendigen Unterricht bieten zu können, brauchen die Lehrpersonen die nötige pädagogische Musse. Dass bei den MINT-Fächern mit spannenden technischen und naturkundlichen Experimenten neue Schwerpunkte gesetzt werden sollen, ist zweifellos ein Gewinn. Aber ohne eine Entlastung durch ein vernünftigeres Sprachenkonzept droht der neue Auftrag an der Überfülle der Bildungsziele zu scheitern.

Effizientere Einführung der zweiten Fremdsprache auf der Oberstufe                     Der Bildungsauftrag der Primarschule ist neu zu überdenken.  Wir müssen uns entscheiden, was Priorität hat und was eher zum Wunschbedarf gehört. Da geplant ist,  für Informatik und Medienkunde ein zusätzliches Fach einzuführen, gilt es, die Weichen nun richtig zu stellen. Zielführend wäre es, das überladene Fuder beim frühen Fremdsprachenlernen zu kippen. Eine Fremdsprache auf der Primarschule genügt, die zweite kann auf der Oberstufe effizienter und erfolgreicher eingeführt werden. Damit wird Platz geschaffen für eine ausgewogene Lektionentafel der Mittelstufe und eine wieder stärker auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete Lehrerbildung.


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