29. April 2017

Thurgau vor wegweisendem Entscheid

In einem Punkt sind sich die meisten einig: Irgendetwas muss sich ändern. Der Französischunterricht auf der Primarstufe ist für die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer unbefriedigend. Sie sind frustriert. Aus diesem Grund lancierten einige Kantonsräte vor drei Jahren eine Motion zur Abschaffung des Französischunterrichts in der Primarschule. Urs Schrepfer und seine Kollegen waren selber etwas überrascht, dass der Grosse Rat ihnen folgte.
Mit oder ohne Frühfranzösisch wird es schwierig, Thurgauer Zeitung, 29.4. von David Angst

Mit der Motion brachte das Kantonsparlament den Thurgau in eine verzwickte Lage. Er wird in der letzten «NZZ am Sonntag» als unbeugsames Dorf widerspenstiger Gallier dargestellt, eine Rolle, die ihm eigentlich nicht liegt. Der Vergleich mit Asterix und Obelix passt eher zu den Inner­rhödlern. Diese sträuben sich ja seit eh und je gegen das Frühfranzösisch, ohne dass jemand mit der Wimper zuckte. Beim Thurgau wird gleich eine Drohkulisse aufgebaut, und die verfehlt ihre Wirkung nicht.

Nun muss, bzw. darf der Grosse Rat am kommenden Mittwoch noch einmal über den Fremdsprachenunterricht abstimmen. Das ist eine Chance, in aller Ruhe darüber nachzudenken, was für den Thurgau das Beste ist. Leider gibt gemäss DEK die Wissenschaft keine eindeutigen Anhaltspunkte. Es müssen deshalb andere Kriterien berücksichtigt werden.

Von den verschiedenen Modellen, die zur Debatte stehen, sind grundsätzlich alle umsetzbar, aber keines ist einfach. Der Grosse Rat kann die Vorlage ablehnen, sprich, seinen Entscheid von 2014 rückgängig machen und den Französischunterricht ab der fünften Klasse weiterführen. Ein Entscheid, der nur dann befriedigt, wenn das Erziehungsdepartement Lehrmittel, Methodik und die Lehrerausbildung unter die Lupe nimmt. Dasselbe gilt für eine Verschiebung des Unterrichts auf die sechste Klasse – den Kompromissvorschlag des Erziehungsdepartements. Die Frage ist, ob damit der Bund und die anderen Kantone zufrieden wären – sie haben sich ja explizit auf die fünfte Klasse geeinigt.

Der Thurgau kann aber auch seinen eigenen Weg gehen und den Französischunterricht ganz auf die Oberstufe verlagern. Dabei riskiert er aber, dass er in der Eidgenossenschaft als Eigenbrötler angesehen wird. Er müsste diesen Weg jedenfalls gut begründen. Es bedeutet auch, dass er unter Umständen (Zürich stimmt am 21. Mai ab) nur Innerrhoden als Partner hat. Das kann die Lehrmittelbeschaffung verteuern. Schüler, welche umziehen oder in einem Nachbarkanton zur Schule gehen, werden benachteiligt. Und es heisst auch, dass die Oberstufe durch den Fremdsprachenunterricht mehr belastet wird. Gerade sie, die ohnehin schon ein Kampfplatz unterschiedlichster Bildungsansprüche ist, weil hier die Weichen für die berufliche Zukunft gestellt werden müssen.

Wenn man Französisch zu 100 Prozent auf die Oberstufe verlagert, so muss man dort zwingend mehr Lektionen einplanen. Was nämlich auf jeden Fall verhindert werden muss, ist eine Degradierung des Französischunterrichts zum Nebenfach. In diesem Punkt sollten sich sämtliche bildungsfreundlichen Gruppierungen einig sein.

Dies aus zwei Gründen. Erstens ist die Art und Weise, wie die Schweiz mit ihrer Vielsprachigkeit umgeht, eines der zentralen identitätsstiftenden Merkmale unseres Landes. Der gelebte Föderalismus und der Zusammenhalt über die Sprachgrenzen hinweg sollte keine leere Floskel werden, sondern mit Überzeugung und Anstrengung gepflegt werden.

Der zweite Grund ist der wirtschaftliche Standortvorteil: Es gibt eine gefährliche Tendenz in der Deutschschweiz, nur noch Englisch als wichtige Fremdsprache anzusehen – und Französisch als mühsame folkloristische Verpflichtung, ja fast schon als Schikane. Diese Haltung ist falsch. Englisch kann heute jeder. Wer aber beherrscht noch zwei bis drei weitere westeuropäische Sprachen? Wohl nur wir Schweizer.

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