Als der
Thurgau letztes Jahr ankündigte, den Französischunterricht auf die
Sekundarstufe zu verschieben, hagelte es Proteste. Seine Regierung lasse den
Sprachenstreit eskalieren, hiess es beidseits des Röstigrabens ziemlich
unisono. Die Übung wurde vertagt, der neue Lehrplan lässt vorläufig alles beim
Alten, die Sprachenfrage ist auf den Marsch durch die parlamentarischen
Instanzen verwiesen worden.
Früher bleibt besser, NZZ, 26.4. Kommentar von Walter Bernet
Was
geschieht erst, wenn die Stimmberechtigten des grossen Kantons Zürich am 21.
Mai wie die Thurgauer Regierung entscheiden? Und die Luzerner im September
folgen? Es braucht wenig Vorstellungsvermögen, um sich das auszumalen. Die
Zürcher Regierung hat deshalb angekündigt, im Falle eines Erfolges der
Initiative «Mehr Qualität – eine Fremdsprache weniger in der Primarschule» das
Englische auf die Sekundarstufe zu verschieben und mit Französisch zu beginnen.
So will sie den Sprachenfrieden erhalten – wohlwissend, dass sie damit
gründlich an den Präferenzen von Eltern, Kindern und Lehrern vorbeizielt.
Französisch macht den Zürchern – und nicht nur ihnen – Mühe.
In der
mehrsprachigen Schweiz ist das Erlernen von Fremdsprachen ein zentrales Thema
der Volksschulen. Von den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an setzte
sich der Unterricht in einer zweiten Landessprache ab der Primarschule fast in
allen Kantonen durch. Obligatorischer Englischunterricht auf der Oberstufe kam
später dazu. Schon vor dem Millenniumswechsel wuchs in einigen Kantonen der
Druck, diesen Unterricht in die Primarschule vorzuverlegen. Gestützt wurde die
Forderung durch Erkenntnisse der damaligen Sprachlernforschung und durch die
Entwicklung des Englischen zur Lingua franca der Wirtschaft und der
Wissenschaft.
Zu den
Vorreitern gehörte der Kanton Zürich, der unter Erziehungsdirektor Ernst
Buschor unter lautem Protest aus der Westschweiz Frühenglisch einführte. Es
gelang den schweizerischen Erziehungsdirektoren 2004, mit einer gemeinsamen
Sprachenstrategie den Streit beizulegen. Man einigte sich auf zwei
Fremdsprachen in der Primarschule und eine regionale Koordination der
Einstiegssprache. Ziel war es, das Lernen aller Sprachen zu verbessern, das
Potenzial der Mehrsprachigkeit und des frühen Sprachenlernens besser zu nutzen
und sich damit im europäischen Vergleich auszuzeichnen. Kritik daran gab es
sofort. Die Lehrerschaft machte ihre Unterstützung von genügend Weiterbildung,
geeigneten Lehrmitteln und ausreichenden Ressourcen, zum Beispiel für
Halbklassenunterricht, abhängig. Aber alle fünf Volksinitiativen gegen diese
Neuerungen scheiterten 2006 und 2007. Inzwischen ist die Umsetzung des
Konzepts, nach dem Fremdsprachen spätestens in der dritten und in der fünften
Klasse eingeführt werden, in 22 Kantonen umgesetzt.
Ausgeblendete
Lebenswelt
Und jetzt
soll Zürich jenen Kräften Vorschub leisten, die diesen Zug zur Umkehr zwingen
wollen. Gewiss ist heute eine starke Ernüchterung angesichts der übertriebenen
Erwartungen von damals festzustellen. Korrekturen sind angebracht und ins Auge
gefasst. Den Initianten der erwähnten neuen Volksinitiativen geht dieser Befund
aber viel zu wenig weit. Für sie ist der Fremdsprachenunterricht nach dem
Modell der Erziehungsdirektoren ein gescheitertes Experiment, das es
schleunigst abzubrechen gelte. Zentrale Argumente sind die Überforderung vieler
Kinder und die mangelhafte Effizienz des frühen Fremdsprachenunterrichts. In
Französisch, so die Initianten aus der Lehrerschaft, erreichen zu viele Kinder
die Lernziele nicht. Und Englisch lernten die Schüler auf der Oberstufe so viel
schneller als in der Primarschule, dass man auf den frühen Unterricht ohne
weiteres verzichten könne. Die in der Mittelstufe gewonnenen Stunden wollen sie
für besseres Deutsch, für Mathematik und Informatik einsetzen. Was dafür in der
Sekundarstufe gestrichen würde, bleibt offen. Während sich im Kanton Zürich die
Lehrerverbände 2006 gegen die damalige Fremdspracheninitiative ausgesprochen
hatten, weil man noch nicht über genügend Erfahrung verfüge, wird die Kampagne
nun von ebendiesen Verbänden angeführt. Die Politiker bleiben im Hintergrund.
Dahinter steht die Erwartung, dass die Meinung der Praktiker von den
Stimmbürgern eher erhört wird als jene einer Minderheit von Politikern, die
seit langem vergeblich gegen alle möglichen Reformen im Schulbereich ankämpfen.
Der Seitenwechsel vieler Lehrkräfte hat einen Grund: Sie haben die Hoffnung auf
wirksame Verbesserungen der Rahmenbedingungen für den Fremdsprachenunterricht
verloren, weil die Politik in Zeiten der Sparzwänge dafür keine Mittel
aufwenden will.
Das ist
ernst zu nehmen. Dahinter steht aber eine sehr schulbezogene, an
Leistungsmessungen und Stundentafel-Arithmetik orientierte Optik. Ausgeblendet
ist die Lebenswelt der Schüler, die schon im Primarschulalter voller Bezüge zum
Fremdsprachenunterricht ist. Unterschlagen werden über die reine Sprachkompetenz
hinausgehende Unterrichtsziele wie die Begegnung mit den Eigenheiten und der
Kultur anderer Landesgegenden. Unberücksichtigt bleibt, dass mancher Lehrling
in der Berufsausbildung in den Fremdsprachen keine oder nur eine mangelhafte
weitere Förderung erfährt. Nicht umsonst setzt sich der Zürcher – nicht aber
der Luzerner – Gewerbeverband entschieden für zwei Fremdsprachen in der
Primarschule ein. Ausgerechnet die sonst gegenüber der fragwürdigen «Vermessung
der Bildung» skeptischen Lehrerverbände fechten jetzt für ihr
Anliegen mit dem Killerargument früherer Reform-Turbos: der Effizienz.
Erfolgreiches
Frühenglisch
Zu diesem
Zweck werden Zahlen aus neuen Aargauer und Zentralschweizer Studien ins Feld
geführt, die in der Tat belegen, dass der Fremdsprachenunterricht der
Volksschule bezüglich Lernerfolg Luft nach oben hat. Das gilt aber vor allem
für den Französischunterricht. Fasst man die Ergebnisse so knapp wie möglich
zusammen, lauten sie: Erstens: Je mehr Lektionen insgesamt, desto grösser die
erworbene Sprachkompetenz. Zweitens: Auf der Sekundarstufe machen Schülerinnen
und Schüler schneller Fortschritte, allerdings vor allem die besseren.
Drittens: Während der Lernerfolg in Englisch ungefähr jenem in andern Fächern
wie Deutsch oder Mathematik entspricht, haben die Kinder und Jugendlichen mit
Französisch mehr Mühe. Nicht nur der Lernerfolg, auch die Motivation der
Schüler (und Lehrer) ist in Englisch deutlich höher.
Die
Ergebnisse belegen zwar durchaus, dass gute Schüler die Fremdsprachen-Lernziele
der Volksschule mit weniger Aufwand erreichen können, wenn der Unterricht erst
auf der Oberstufe beginnt. Der frühe Beginn lohnt sich aber für jene Schüler,
die in der Lehre keine weitere sprachliche Förderung mehr geniessen. Falsch ist
die oft zu hörende Aussage, dass die Schüler, die erst in der Sekundarschule
mit Englisch begännen, ihren Rückstand gegenüber ihren Kollegen mit
Frühenglisch nach einem halben Jahr aufgeholt hätten. Die Aargauer Studie
schätzt, dass dafür nach Abschluss der Volksschule weiterführender
Englischunterricht während eines Zeitraums von einem halben bis zu einem ganzen
Jahr nötig wäre.
Der
Vergleich von Aufwand und Ertrag ist mit so vielen Unwägbarkeiten behaftet,
dass er als schlagendes Argument für die Verlegung einer Fremdsprache in die
Sekundarschule untauglich ist. Vollends zur Makulatur würde er, wenn das in
Zürich ungeliebte Französisch zur Erstsprache erklärt würde. Mit gleichem Recht
könnte man aus den Studien die Forderung ableiten, in der Volksschule ganz auf
den obligatorischen Französischunterricht zu verzichten, weil – anders als in
Englisch – ein ansehnlicher Teil der Schüler das angestrebte Niveau nicht
erreicht. Das aber will nicht einmal der Kanton Thurgau. Es ist offensichtlich,
dass schulisches Sprachenlernen seine Grenzen hat. Das gilt ja auch für das
Gymnasium. Kein Fremdsprachenunterricht ersetzt einen Sprachaufenthalt.
Trotzdem kommt niemand auf die Idee, ganz auf ihn zu verzichten.
Wo die
pädagogische Evidenz fehlt, muss nach anderen Kriterien entschieden werden. Der
Unwille der Lehrkräfte gehört nicht dazu. Hingegen ist der sprachpolitische
Frieden in einem Land, dessen Wille zur Einheit auf seiner kulturellen Vielfalt
und seiner Mehrsprachigkeit fusst, von erheblicher Bedeutung. Es wäre beileibe
nicht klug, wenn im Mai ausgerechnet der Kanton Zürich, der seinerzeit mit
seinem Vorpreschen beim Frühenglisch den Sprachenstreit ausgelöst hat, den
gefundenen Kompromiss und in letzter Konsequenz wohl auch das 2008 vom Volk
genehmigte Harmos-Konkordat auseinanderbrechen liesse. Millionen
sind seither in den frühen Sprachunterricht geflossen, die
Fremdsprachendidaktik hat aus den Erfahrungen – auch jenen der Lehrkräfte –
gelernt. So steht das umsichtig erarbeitete neue Französischlehrmittel «Dis
donc!» in mehreren Kantonen vor der Einführung. Ein Abbruch der Übung zum
jetzigen Zeitpunkt wäre nicht das Ende eines gescheiterten Experiments, sondern
die Ursache eines Scherbenhaufens.
LESERBRIEF an die NZZ:
AntwortenLöschenHarmonisierung der Ziele, nicht Gleichschaltung
Die Stimmbürger haben dem Bund nur das Recht eingeräumt, gemeinsame Ziele festzulegen. Wie die Ziele erreicht werden, ist immer noch Sache der Kantone. Es ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass die Fremdsprachen in der Oberstufe effizienter gelernt werden können und dass für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb zuerst die Muttersprache beherrscht werden muss. Letzteres ist nur möglich, wenn es in der Primarstufe genügend Stunden für den Deutschunterricht gibt, was heute leider in den meisten Kantonen nicht mehr der Fall ist. Der Bund hat vom Volk nur die
Kompetenz zur Harmonisierung und nicht zur Gleichschaltung erhalten, wie er das nun auch mit dem Lehrplan 21 am Volk vorbei anstrebt. Wem man bei der Schule sparen will, muss man hier ansetzen: Mit den Frühfremdsprachen werden Millionen von Steuergelder in den Sand gesetzt, weil es keinen Langzeiteffekt gibt.