Der Lehrplan 21
ist für ihn eine Fehlkonstruktion – und das, obwohl Geiger seit 20 Jahren an
einem Basler Gymnasium unterrichtet, wo der neue Lehrplan gar nicht gilt. Der
Einfluss sei trotzdem da.
Herr Geiger, Sie sind seit über 20 Jahren Gymnasiallehrer.
Geht mit der Zeit der Elan verloren?
Nein. Je älter
man wird, umso vielfältiger unterrichtet man. Man hat eine natürliche
Autorität, ein gelasseneres Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern, man
weiss mehr. Man wird mit dem Alter eigentlich nur besser.
Wie haben Sie die Veränderungen im Bildungsbereich in den
letzten 20 Jahren erlebt?
Der Unterricht
hat sich nicht gross verändert. Trotz allen Reformen ist der Spielraum, den man
als Lehrer hat, sehr gross. Die bildungspolitischen Reformen greifen noch nicht
total in den Unterricht ein, aber der Gestaltungsspielraum wird spürbar enger.
Wo machen sich die Reformen denn bemerkbar?
In den äusseren
Rahmenbedingungen. In der Zunahme von Verordnungen von oben nach unten. In der
Abnahme von demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Man hat mehr Bürokratie-Aufwand.
Viele Reformen, die man mit guten Begründungen von oben befahl, hatten keinen
besonders guten Effekt auf unseren Schulalltag.
Zum
Beispiel?
Man will, dass
Lehrpersonen mehr im Team arbeiten. Das Problem dabei: Wenn du Teamarbeit
erzwingst, ist es keine gute Teamarbeit mehr. Man hat zum Beispiel gesagt, man
soll gemeinsame Prüfungen machen. Jedes Fach muss mindestens alle drei Jahre
nachweisen, dass man gemeinsam prüft. Das ist gut gemeint. Es tut jedem Lehrer
gut, wenn er mal mit jemandem zusammen einen Theaterbesuch macht und danach
eine gemeinsame Fragestellung erarbeitet. Daraus wird aber eine bürokratische
Massnahme.
Wie war das früher?
Wenn
Lehrpersonen vor 20 Jahren eine Initiative ergriffen, etwas ausprobieren
wollten, dann war der Spielraum gross. Heute kommt von oben herab die
Verordnung, was man alles muss und darf. Die schlimmste Bevormundung ist die
Überarbeitung der Lehrpläne. Den Lehrplan 21 haben etwa 200 Leute, hermetisch
abgeschlossen von der Aussenwelt, während mehrerer Jahre erarbeitet.
Der Lehrplan 21 wurde über elf Jahre hinweg entwickelt,
mehrmals überarbeitet, auch aufgrund von Fachhearings mit Leuten aus der
Praxis.
Aber es war ein
Zirkel von etwa 200 Leuten, der mit uns Lehrpersonen wenig zu tun hatte.
Sie hätten sich auch einbringen können.
Das war nicht
vorgesehen. Mir wurde gesagt, dass die Implementierung des Kompetenzbegriffes
nicht zur Debatte stand und als gesetzt galt.
Was ist denn das Problem am Lehrplan 21?
Als der neue
Lehrplan fertig war, mussten wir auch am Gymnasium die Lehrpläne ändern. Man
gab uns eine Vokabularliste mit Verben, die wir in den neuen Lehrplänen
verwenden mussten. Wenn du als gut ausgebildeter Akademiker solche Listen
bekommst, dann fragst du dich schon, was das soll.
Verstehen Sie die Forderung, dass die Lehrpläne einheitlich
sein sollten?
Nein, das
verstehe ich nicht.
Warum nicht?
Das Ziel der
nationalen Abstimmung zum Harmos-Konkordat war, dass die Stundentafeln und die
Abfolge der Fremdsprachen einheitlich geregelt werden. Das sind die grössten
Hemmnisse, wenn Familien den Kanton wechseln wollen. Beides hat man bis heute
nicht zustande gebracht. Aber man hat den Lehrplan 21 formuliert, der im
Harmos-Konkordat gar nicht vorgesehen war. Das war eine reine Interpretation
der Vorlage.
Der
neue Lehrplan schafft einen Rahmen, konkretisiert die Lerninhalte mit
sogenannten Kompetenzen. Was ist daran so schlimm?
Kompetenzorientierung
ist nichts Neues. Wir unterrichten längst nicht mehr nach dem Schema Nürnberger-Trichter – also nur Auswendiglernen und fertig. Wir vermitteln den
Schülerinnen und Schülern seit Jahren Kompetenzen, Fertigkeiten, Fähigkeiten,
Fachwissen und Haltungen. Was ist also das Neue am Lehrplan 21? Das Neue ist
die Ausformulierung der Kompetenzen. Diese führt dazu, dass die
Überprüfungsmaschinerie zunehmen wird. Denn die Kompetenzen müssen ja überprüft
werden. Im Prinzip gibt es zwei gegenläufige Entwicklungen: Wissen muss
individueller werden, es geht um die Vermittlung von Kompetenzen und
Fertigkeiten. Auf der anderen Seite gibt es eine zunehmende Tendenz,
standardisierte Tests durchzuführen.
Das Problem sind also nicht die Kompetenzen an sich,
sondern die zusätzlichen Tests, mit denen sie geprüft werden sollen. Sind das
Wissen und die Fertigkeiten, die Sie als sinnvoll erachten, überhaupt messbar?
Das Wissen und
die Fertigkeiten sind nicht fix. Das muss man als Lehrer immer wieder neu
verhandeln.
Wie meinen Sie das genau?
Man muss
aushandeln, an welchen Dingen man nicht vorbeikommt. Zum Beispiel an der
Französischen Revolution. Ich halte es für falsch, wenn man diese auslässt.
Sie fordern einen Kanon: Das müssen Schülerinnen und
Schüler wissen – und das nicht.
Nicht
unbedingt. Es braucht einige kanonisierte Pfeiler und darum herum viel Freiheit
zur weiteren Veranschaulichung.
Das ist genau das, was der Lehrplan 21 bietet.
Ja. Aber dafür
hätte es den Lehrplan nicht gebraucht. Das hatten wir schon vorher. Das
Problematische ist die hohe Ausdifferenzierung von Einzelkompetenzen. Damit
kann man diesen Lehrplan nicht handhaben. Ein Lehrplan muss einfach sein. Ich
zeige ihn meinen Schülerinnen und Schülern an jedem Semesteranfang: Das wird
von mir erwartet und ich setze es so und so um. Wenn du den Lehrplan 21 als
Ganzes anschaust, kriegst du eine halbe Depression, weil du denkst, du bist der
grösste Idiot. Eine solche Komplexität in einer derart abstrakt formulierten
Sprache – das sollst du noch im Griff haben? Keine Chance, hast du das Gefühl.
Dazu kommt, man macht einen Riesenaufwand und sagt den Lehrpersonen danach: Ach
Gott, ihr schaut so genau auf diesen Lehrplan – tut doch nicht so genau. Das
ist bildungspolitisch nicht in Ordnung. Ich nehme den Lehrplan ernst.
Der Lehrplan lässt auch einige Freiheiten.
Weil man
Bildung gerecht machen wollte, hat man damit angefangen, Monokultur zu
betreiben. Damit wird die Vielfalt zerstört, die eigentlich zur Bildung gehört.
Wenn die Lehrplan-Freiheit grösser wäre, wäre auch die Qualität der Bildung
höher. In der Biologie hat man schon seit geraumer Zeit gemerkt, dass nur
Biodiversität nachhaltig ist!
Was
halten Sie davon, dass mit dem neuen Lehrplan de facto eine Lektion Geschichte
wegfällt?
Es wird immer
wieder betont, wie wichtig politische Bildung und Ökologie seien – und
jetzt streicht man die Fächer Geschichte und Geografie zusammen. Geht es
eigentlich noch? Es ist gestört, dass man das macht.
Viele Lehrplan-Kritiker kommen aus der rechten Ecke – Sie
nicht.
Das stimmt. Ich
bin zum Beispiel Mitglied bei Denknetz , ein Thinktank aus dem linken
Spektrum. Innerhalb der Linken gibt es fast keine Diskussion über den Lehrplan
21 – dabei ist die Basis der linken Parteien in dieser Frage erstaunlich
heterogen.
Neuerdings gibt es einen Ableger
des Komitees «Starke Schule» in Basel-Stadt : Das müsste Ihnen
gefallen. Reformkritiker Jürg Wiedemann und sein Komitee schiessen gegen das
gleiche Ziel wie Sie.
Wiedemann und
ich kritisieren ähnliche Entwicklungen, aber wir haben unterschiedliche
Visionen. Wiedemann will eine Schule, wie sie in den 1960er-Jahren war. Er
meint, wenn es wieder so sei wie früher, dann sei alles gut. Das ist Quatsch.
Das Komitee kämpft gegen Sammelfächer. Ich auch. Ich meine aber: Es soll den
Lehrerinnen und Lehrern freistehen, so etwas zu probieren. Wenn man
Sammelfächer von oben verordnet, läuft man Gefahr, dass Lehrpersonen fachfremd
unterrichten müssen. Was passiert dann? Sie suchen Hilfe im Internet, in
Lehrbüchern. Der Unterricht wird dadurch banal.
Fächerkombinationen können den Unterricht auch bereichern.
Wenn du wenig
Wissen in einem Fach hast, kannst du nicht variieren – gerade wenn du auf
verschiedene soziale Gruppen eingehen willst. Als ich an der WBS lehrte, hatte
ich zwölf Nationen im Geschichtsunterricht. Beim Thema Revolution traf ich auf
die unterschiedlichsten Vorstellungen. Ich hatte einen Schüler aus dem Balkan
mit Bürgerkriegs-Erfahrung oder ein Tamilen-Mädchen, dessen Mutter mir verbat,
über Gewaltthemen zu sprechen. Da reicht es nicht, eine vorpräparierte
Schulstunde aus einem Lehrbuch zu kopieren.
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