Alle hatten sie, kaum
jemand mochte sie: die Hausaufgaben. Bis heute sind sie eines der emotionalsten
Themen in der Volksschule. Der bekannte Kinderarzt und Buchautor Remo Largo
befand schon vor Jahren, sie hätten keinen Nutzen, schikanierten Lehrer und
Kinder – und sollten daher abgeschafft werden. Im letzten Herbst brachte der
Deutschschweizer Schulleiterverband diese bildungspolitisch brisante Forderung
erneut auf. Als Begründung wurde angeführt: Hausaufgaben führten oft zu Streit
innerhalb der Familien. Zudem könnten sich Schüler, deren Eltern arbeiteten
oder aus bildungsfernen Schichten stammten, zu Hause an niemanden wenden und
seien so in ihrer Entwicklung gefährdet. Die Diskussion über Sinn und Unsinn
von Hausaufgaben kochte in den Medien schnell auf, kühlte aber auch rasch
wieder ab. Die zentralen Fragen sind geblieben: Welche Wirkung haben «Ufzgi»
wirklich, und wie könnte das Hausaufgabenmodell der Zukunft aussehen?
Ohne "Ufzgi" nach Hause, NZZ, 25.4. von Marc Tribelhorn
Mehr als ein «pädagogisches
Ritual»
Der Neuseeländer John
Hattie, einer der derzeit einflussreichsten und meistzitierten Bildungsforscher
der Welt, kommt nach der Auswertung unzähliger Studien zu einem durchzogenen
Fazit: Hausaufgaben brächten in der Unterstufe wenig, in höheren Klassen
förderten sie indes sehr wohl den Lernerfolg. Als reines «pädagogisches Ritual»
kann man sie daher kaum bezeichnen, wie dies Kritiker gerne tun. In einer
Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands wollte 2016 denn auch über
die Hälfte der befragten Mitglieder an den Hausaufgaben festhalten; nur 23
Prozent sprachen sich für eine komplette Abschaffung aus: Um den
Unterrichtsstoff einzuüben und sich selbständig zu organisieren, seien sie
weiterhin gerechtfertigt, so der Tenor. Nun hat der Dachverband Lehrerinnen und
Lehrer Schweiz (LCH) ein Positionspapier zur Thematik veröffentlicht. Von einer
Abschaffung will auch er nichts wissen, vielmehr fordert er eine betreute
Hausaufgabenzeit für Kinder und Jugendliche an den Schulen. Das schaffe
Chancengerechtigkeit, ist man beim LCH überzeugt: «Alle Schülerinnen und
Schüler haben vergleichbare Arbeitsbedingungen, sie erhalten wenn nötig
Unterstützung, und die Zeit zu Hause bleibt Freizeit.» Überdies entfielen
dadurch «viele Diskussionen mit Eltern».
Konkret wird den
Gemeinden und Schulen empfohlen, «mehrmals pro Woche niederschwellig
zugängliche freiwillige Hausaufgabenbetreuung kostenlos anzubieten». Die
Betreuung soll durch «fachlich und pädagogisch kompetente Personen»
gewährleistet sein. Der Entscheid über die Teilnahme liege in erster Linie bei
den Eltern bzw. den Schülerinnen und Schülern. Allerdings solle es auch möglich
sein, dass Lehrpersonen den Besuch anordneten, wenn der Schulerfolg eines
Kindes gefährdet sei.
Kein Zwang, sondern ein
Korrektiv
LCH-Präsident Beat W.
Zemp betont, dass es sich bei den vorgeschlagenen Massnahmen um keinen Zwang,
sondern um ein Korrektiv handle. «Wir wollen den Eltern, die ihre Kinder gerne
bei den Hausaufgaben betreuen und fördern möchten, nichts wegnehmen. Aber es
gibt auch Eltern, die aus unterschiedlichsten Gründen keine Unterstützung
bieten können, was deren Kinder benachteiligt. Hier sind die Schulen
gefordert.» Zemp ist zuversichtlich, dass sich solche Angebote rasch
durchsetzen werden. Die anfallenden Kosten für die betreute Hausaufgabenhilfe
seien überschaubar, da der Aufwand für die Lehrpersonen deutlich geringer sei
als für eine normale Unterrichtsstunde und daher auch tiefer verrechnet werden
könne. Und: «Es gibt schweizweit schon unzählige gute Beispiele.»
Tatsächlich bieten
bereits heute viele Schulen Hausaufgabenhilfen an, wie sie der Lehrerverband
jetzt flächendeckend propagiert. Häufig sind sie in Tagesstrukturen integriert,
was laut Zemp ohnehin das Hausaufgabenmodell der Zukunft sei. Dort aber liegt genau
die Crux. Gerade in konservativ-ländlichen Gegenden gelten solche Angebote als
erster Schritt in Richtung der politisch umstrittenen Ganztagesschulen. Während
in vielen europäischen Staaten die Kinder ganz selbstverständlich auch
ausserhalb der Unterrichtszeit in der Schule betreut werden, besteht in der
Schweiz diesbezüglich längst kein Konsens. Die «Staatskinder»-Rhetorik der SVP
verfängt noch immer. Dessen ist sich auch der LCH-Präsident bewusst: «Wir
streben ja kein Obligatorium an, sondern setzen uns für Wahlfreiheit ein – im
Sinne der Schülerinnen und Schüler.»
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