Der Weg nach Sirnach führt an grünen Hügeln
vorbei durchs Murgtal im Hinterthurgau. Dort hinten im Dorf steht Urs Schrepfer
in seinem Büro neben dem Sekundarschulhaus. Mit seiner Hornbrille und dem
akkurat frisierten Haar wirkt er gar nicht wie ein Polterer.
Doch das, was er sagt,
bringt Politiker in der ganzen Schweiz in Wallung: «Unsere Primarschüler sollen
nur noch Englisch lernen.» Er sagt es mit einem Lächeln, aber mit verschränkten
Armen vor der Brust. Für Schrepfer, Schulpräsident, Schulleiter,
Sekundarschullehrer und SVP-Kantonsrat in Personalunion, ist diese Forderung
nicht verhandelbar.
Berset will die Deutschschweiz zum Primarfranzösisch zwingen, Bild: Ian David Marsden
Frühfranzösisch: Die unbeugsamen Thurgauer, NZZaS, 23.4. von Anja Burri
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Vor gut zehn Jahren
kämpfte er noch dafür, dass die Thurgauer Primarschüler Französisch und
Englisch lernen. Heute sei er ernüchtert. Zwei Fremdsprachen seien zu viel. Urs
Schrepfer weiss, dass seine Worte in der übrigen Schweiz und ganz besonders
beim Westschweizer Bundesrat und Kulturminister Alain Berset schlecht ankommen.
Doch das scheint ihn kaum zu beeindrucken. «Herr Berset soll am besten einmal
zu uns kommen und hier selber längere Zeit Französisch unterrichten», sagt er.
Der Bundesrat hat im
fernen Bern den Sprachenunterricht zur Frage des nationalen Zusammenhalts
ausgerufen. Es komme nicht infrage, dass die Primarschüler nur Englisch
lernten, sagt er immer wieder. In der viersprachigen Schweiz sei es wichtig,
dass man sich gegenseitig verstehe. Berset beruft sich auf die Bundesverfassung
und hat angekündigt, er wolle die Kantone im Notfall zum Frühfranzösisch
zwingen.
Die kantonalen Erziehungsdirektoren bringt
diese Drohkulisse in eine ungemütliche Lage. Sie wollen eine Einmischung
unbedingt verhindern. Denn die Bildung ist eine der letzten Bastionen der
kantonalen Hoheit. Provoziert der Thurgau den Bundesrat zu einem Eingreifen,
ist diese Unabhängigkeit dahin. Zudem könnte dies anderswo den Protest gegen
den mühsam ausgehandelten Sprachen-Kompromiss – dass die Primarschüler neben
einer zweiten Landessprache auch Englisch lernen – anheizen.
Beim Streit um den
Fremdsprachenunterricht geht es also nur noch am Rande um Pädagogik. Er ist zu
einer hochpolitischen Angelegenheit geworden. Und mittendrin steht ein Kanton,
der sonst selten im Rampenlicht ist. Der Thurgau. Der Kanton am nordöstlichen
Zipfel der Schweiz gibt sich unbeugsam.
Vor wenigen Tagen
bestätigte eine Parlamentskommission den Entscheid des Grossen Rats von 2014,
das Frühfranzösisch abzuschaffen. Das ist angesichts des drohenden politischen
Kollateralschadens bemerkenswert. Die Thurgauer Kinder sollen später, dafür
intensiver Französisch lernen. Am Ende, so glaubt man hier, könnten die Schüler
so gut Französisch wie anderswo. Die Rolle des frühen Französischunterrichts
für den nationalen Zusammenhalt sei überbewertet, heisst es im Bericht der
Kommission lapidar.
Die Hälfte ihrer
Mitglieder sind selber in der Bildung tätig – wie SVP-Mann Urs Schrepfer. Wenn
er markige Worte an die Adresse von Bundesrat Berset richtet, geniesst er die
Unterstützung eines grossen Teils der Lehrer.
In einer neuen Umfrage
des kantonalen Lehrerverbands haben sich 54 Prozent von über 900 Lehrerinnen
und Lehrern dafür ausgesprochen, auf der Primarschule nur noch eine
Fremdsprache zu unterrichten. Jeder dritte Lehrer, der selber Fünft- und
Sechstklässler in Französisch unterrichtet, gab an, die Schüler seien mit zwei
Fremdsprachen überfordert.
Englisch
ist beliebter
Wie konnten sich die
Fronten zwischen dem Thurgau und der nationalen Bildungspolitik nur derart
verhärten? Im Thurgau seien viele – das ist der erste Teil der Antwort – immun
gegen die staatspolitischen Appelle aus Bern und der Romandie. Pädagogische,
praktische Argumente zählen für sie mehr: Nur den welschen Mitbürgern zuliebe
eine Sprache früher lernen, das sei keine Option, sagt man hier, zweieinhalb
Zugstunden von der Romandie entfernt. Anders als das Französisch ist das
Englisch so etabliert, dass es politisch quasi unantastbar ist.
Die Wahrheit ist: Es ist
beliebter als die Landessprache Französisch. «Hier ist Englisch einfach
wichtiger», ist ein Satz, den viele Politiker und Lehrer mit einem
Schulterzucken dahersagen. Der Druck aus der übrigen Schweiz und die vielen
negativen Schlagzeilen haben diese Haltung bestärkt. «Warum macht man um uns ein
solches Theater, während andere Kantone in Ruhe gelassen werden?», fragen sich
viele. Tatsächlich lernen im nahen Appenzell Innerrhoden die Schüler schon
lange erst ab der siebten Klasse Französisch – unbehelligt von der politischen
Öffentlichkeit der Schweiz.
Für den zweiten Teil der
Antwort muss man die Schulzimmer besuchen. Lehrer Christian Fontanive steht in
seinem Schulhaus in Bischofszell vor zwölf Viert- und acht Fünftklässlern. Das
ist nichts Besonderes im Thurgau: Hier besuchen mehr als die Hälfte der
Primarschüler eine altersdurchmischte Klasse. Für den Fremdsprachenunterricht
sei dies eine Herausforderung, sagt Fontanive, ein Mann mit 42 Jahren
Berufserfahrung.
Die Unterschiede
zwischen den Kindern seien dadurch noch grösser. Für gut die Hälfte seiner
Schüler ist Deutsch zudem nicht die Muttersprache. «Oft hapert es am Deutschen.
Kommen dann noch zwei Fremdsprachen dazu, wird es schwierig.» Fontanive hat
sich selber organisiert. Für die Französisch-Lektionen tauscht er die halbe
Klasse mit einem Lehrerkollegen. So hat er nur Schüler vor sich, die alle
gleich lang Französisch lernen. «Die Französische Sprache gefällt mir sehr»,
sagt er. Doch mit den vorherrschenden Verhältnissen im Klassenzimmer seien drei
Sprachen – Deutsch, Englisch und Französisch – einfach zu viel.
Eine gute Viertelstunde
mit dem Bus entfernt, in Amriswil, unterrichtet Josef Brägger. Er ist ein
Vorzeige-Französischlehrer. Für seine Achtklässler organisiert er jeweils einen
Sprachaustausch mit einer Klasse aus dem Kanton Freiburg. Doch auch er sagt:
«So kann es nicht weitergehen mit dem Französischunterricht auf der
Volksschule.» Man habe viel zu hohe Erwartungen gehabt. In der Realität
brächten viele Schüler, die aus der Primar- zu ihm in die Sekundarschule kämen,
zu wenig Französischkenntnisse mit. Brägger ist nicht nur Lehrer, der
58-Jährige sitzt auch für die Grünen im Grossen Rat. Dort trägt er die
Verschiebung des Französischunterrichts auf die Sekundarstufe mit.
Die Skepsis gegenüber
Frühfranzösisch hat im Thurgau eine lange Geschichte. Zwar beteiligte sich der
Kanton bereits 1971 an Schulversuchen für die Einführung ab der fünften Klasse.
Vor allem die Lehrkräfte der Mittelstufe, also die Lehrer der betroffenen
Fünftklässler, zeigten sich schon damals skeptisch, wie es in der
Schulgeschichte des Kantons beschrieben ist. 1988 und 2006 kamen
Volksinitiativen zur Abstimmung, die den Fremdsprachenunterricht an der
Primarschule verhindern oder einschränken wollten. Beide scheiterten allerdings
am Stimmvolk.
Zu
wenig Zeit
Anne Varenne ist die
Präsidentin des Thurgauer Lehrerverbands. Der Unmut der Lehrerschaft sei seit
Jahren konstant, sagt die resolute Frau in ihrem Büro im Kantonshauptort
Frauenfeld und legt Zahlen auf den Tisch. Diese zeigen, weshalb der Frust hier
stärker ist als in anderen Kantonen.
Im Thurgau haben die
Primarschüler weniger Zeit für den Fremdsprachenunterricht als die Kinder im
benachbarten St. Gallen, Schaffhausen oder Zürich. Am Ende der sechsten Klasse
müssen sie in Englisch und Französisch die gleichen Lernziele erreichen – mit
insgesamt rund hundert Lektionen weniger. Das hat mit den grossen Unterschieden
der Stundentafeln zu tun: In jedem Kanton sind die Lektionen anders auf die
Fächer verteilt, nirgendwo sind die Schulwochen genau gleich lang. Diese Differenzen
auszugleichen, wäre sehr teuer.
Dennoch erhielt der
Französischunterricht in vielen Thurgauer Schulhäusern ein enormes Gewicht: Die
Note der Sechstklässler entschied vielerorts mit, in welche Sekundarstufe ein
Kind eingeteilt wurde. Das beliebte Englisch hingegen zählte kaum. Mittlerweile
ist Französisch in vielen Schulen kein Promotionsfach mehr.
Doch der Frust mit der
Sprache der Liebe ist geblieben. Wenn das Frühfranzösisch bleibe, sagen die
Lehrer, brauchten sie mehr Lektionen, um ihre Schüler zu unterrichten.
Bildungsdirektorin Monika Knill hat Verbesserungen in Aussicht gestellt. Unter
anderem sollen lernschwache Kinder vom Frühfranzösisch befreit werden. Der
Sprachfrieden ist nicht mehr gratis zu haben.
Es sei viel falsch
gelaufen bei der Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts, sagen auch
die, welche sich energisch für das Frühfranzösisch einsetzen. Sie hoffen, dass
das Parlament die Abschaffung des Frühfranzösisch in letzter Minute noch
abwendet. Am 3. Mai entscheidet der Grosse Rat endgültig. Das Votum dürfte
knapp ausfallen – doch die Wahrscheinlichkeit, dass der Thurgau stur bleibt,
ist intakt.
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