12. März 2017

Was ist ein guter Lehrer?

Wenn John Hattie spricht, hat er oft die Hemdsärmel hochgekrempelt. Das passt zum Pädagogikprofessor der University of Melbourne. Nach 15 Jahren wissenschaftlicher Knochenarbeit hat er 2008 ein Buch veröffentlicht, das Lehrer, Politiker und Forscher gleichermassen in Aufregung versetzt hat. Hatties Werk «Lernprozesse sichtbar machen» macht ihn zu einem der einflussreichsten Bildungsexperten. Denn Hattie tat, was vor ihm noch nie jemand versucht hatte: Er analysierte Studien über insgesamt rund 80 Millionen Schüler. Seine Resultate sind Zündstoff. Guter Unterricht, sagt Hattie, hänge vor allem vom Können der Lehrerin oder des Lehrers ab. Was Kinder lernten, bestimme der Pädagoge. Die Debatten über die äusseren Strukturen von Schule und Unterricht hält er für überschätzt.
Mangelnde Aufstiegschancen sind für viele ein Grund für den Ausstieg aus dem Lehrerberuf, Bild: Rahel Nicole Eisenring
Die perfekte Lehrerin, NZZaS, 12.3. von Anja Burri

Politiker sehen dies anders. Die Diskussionen über Schulreformen ebben nicht ab: über den Lehrplan 21, die Anpassung der Schulstufen, die Anzahl der Fremdsprachen in der Primarschule oder die schulische Integration von lernschwachen Kindern. Aber um den Lehrer oder die Lehrerin geht es in diesen emotional geführten Debatten fast nie. Wahrscheinlich, weil es viel einfacher ist, über Lehrpläne, Klassengrössen oder andere pädagogische Massnahmen zu reden – diese lassen sich anpassen. Lehrer hingegen sind Menschen. Es funktioniert nicht, sie alle paar Jahre in ein neues Schema zu pressen.
«Bildungsreformen sind nur erfolgreich, wenn sie sich für den Lehrer lohnen», sagt Urs Moser. Als Leiter des Instituts für Bildungsevaluation der Universität Zürich ist er eine Art Kontrolleur der Schulen; er ist für die Durchführung der Pisa-Studie in der Schweiz mitverantwortlich. Es sei wichtig, die Lehrer in die Reformpläne einzubinden, sagt Moser. Höchste Zeit also, die Lehrerinnen ins Zentrum zu rücken und die Frage zu stellen: Was ist eigentlich ein richtig guter Lehrer? John Hattie hat davon eine genaue Vorstellung. Gespräche mit Forschern, Schulleitern, Verwaltungsvertretern und anderen Fachleuten zeigen: Sechs Fähigkeiten sind entscheidend.

1. Regie führen
Ein guter Lehrer arbeitet wie ein Regisseur. Er plant und dirigiert den Unterricht so, dass die Hauptdarsteller, also die Schüler, ihre Stärken entfalten können. Er leitet das Lernen in der Diskussion mit den Schülern an. Mit dieser Erkenntnis erteilt Forscher Hattie einigen Reformideen eine Abfuhr. Das Konzept des «offenen Unterrichts» zum Beispiel, bei dem die Schülerinnen und Schüler selber bestimmen, was sie wann, wo und mit wem lernen, bringt laut Hattie kaum Vorteile.

Sind Unterrichtsformen, bei denen jeder Schüler in seinem eigenen Tempo lernt, also kein Fortschritt? An den Schweizer Schulen haben sich Wochenpläne und Lernlandschaften etabliert, die das selbständige Lernen fördern sollen. Das sei nicht per se schlecht, aber es komme aufs Mass an, meinen Experten. «Lernlandschaften und Wochenpläne entlasten die Lehrer nicht davon, aktiv Schulstoff zu vermitteln», sagt Professor Urs Moser. Barbara Höhtker ist skeptisch. Sie bildet an der Pädagogischen Hochschule Zürich Primarlehrer für das Fach Mathematik aus. Höhtker trifft bei Schulbesuchen oft Lernlandschaften oder Wochenpläne an. «Die Organisation des Unterrichts in solche Planarbeit führt zu einem Abarbeiten von Arbeitsblättern und zu einer Vereinzelung des Lernens», sagt sie. Die Rolle der Pädagogen, die Kinder zu unterstützen und beim Lernen zu begleiten, komme dabei zu kurz. «Ein guter Lehrer macht spannenden, motivierenden und herausfordernden Unterricht und unterstützt die Kinder dabei, von- und miteinander zu lernen», sagt Höhtker.

2. Beziehung eingehen
Severus Snape, der Lehrer des Zauberlehrlings Harry Potter, ist ein Meister seines Fachs: Er unterrichtet die Herstellung von Zaubertränken. Trotzdem ist er verhasst, weil er bestimmte Schüler bevorzugt und andere schikaniert. Er würde in John Hatties Bewertung denkbar schlecht abschneiden. Die Beziehung zwischen dem Lehrer und dem Schüler gehört laut seiner Auswertung zu den wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Lernen. Wie gelingt das? Urs Gfeller ist Psychologe und leitet die Lehrerberatung an der Pädagogischen Hochschule Bern. Er benutzt das Bild des Goldgräbers: «Es geht darum, in jedem Kind etwas Goldenes zu sehen.» Sobald ein Kind merke, dass die Lehrperson auch seine Stärken kenne, könne es besser mit Kritik oder einer schlechten Note umgehen.

Je mehr Lehrpersonen eine Klasse unterrichten, desto anspruchsvoller wird es, eine starke Beziehung zu jedem Kind aufzubauen. Doch in der Schweiz sind Klassenzimmer, in denen nur ein Lehrer steht, zur Ausnahme geworden. Im Kanton Zürich stellten die Behörden fest, dass die grosse Anzahl Lehrer zu einer Belastung für Schüler und Lehrer geworden ist. Die Zunahme der Lehrpersonen pro Schulzimmer hat nicht nur mit der verbreiteten Teilzeitarbeit zu tun, sondern auch mit der Integration von lernschwachen Schülern, die von Heilpädagogen unterstützt werden. Seit 2013 läuft in Zürich ein Versuch, die Zahl der Lehrkräfte pro Klasse zu reduzieren. In ausgewählten Schulhäusern unterrichten derzeit höchstens zwei Lehrer pro Klasse. Bis Ende 2017 soll das Resultat vorliegen.

3. Den Kindern zuhören
Das Bild des begnadeten Redners vor der Wandtafel, der seine Schüler in den Bann zieht, ist überholt. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus John Hatties Arbeit ist: Ein guter Lehrer hält keine Monologe, er hört den Schülern vor allem zu. Hatties Ideallehrer ist einer, der seine Selbstzweifel pflegt. Dieser testet nicht nur regelmässig den Lernstand der Schüler mit kurzen Tests, er stellt sich selber der Bewertung der Kinder. Weil er weiss: Nur so kann er besser werden. «Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner Schüler», schreibt Hattie. Lehrerausbildnerin Barbara Höhtker sagt: «Nur wer weiss, was in den Köpfen der Kinder passiert, kann sicher sein, dass die Kinder etwas mitnehmen aus dem Unterricht.» Sie empfiehlt angehenden Pädagogen, regelmässig einen Blick auf die Arbeiten der Kinder zu werfen, im Unterricht zu beobachten und mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Nicht primär, um Fehler der Schüler zu korrigieren, sondern um zu sehen, ob und wie diese lernten.

4. Leidenschaft zeigen
John Hattie fordert von den Lehrpersonen Leidenschaft. Weder die Berufserfahrung noch der Arbeitsaufwand machten Lehrerinnen und Lehrer zu wahren Experten, sagt er. Es seien die leidenschaftlichen Menschen, die mit ihrer Begeisterung für das Lernen den grössten Einfluss auf die Schüler ausübten. Das allein reicht aber noch nicht. «Man muss die Kinder gern haben», sagt Lehrerberater Urs Gfeller. Nur wer an der intensiven Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen interessiert sei, halte auch schwierige Situationen aus. Gfellers Beratungsteam betreibt ein Online-Forum für Lehrpersonen. Dieses zeigt eindrücklich, wie anstrengend der Beruf sein kann.

Vor einigen Monaten wandte sich eine 27-jährige Oberstufenlehrerin an das Beratungsteam. Sie habe fünf Schüler, die sie kaum in den Griff bekomme, das Arbeitsklima leide. «Das Ganze zehrt extrem an meinen Kräften und Nerven», schrieb sie. Wer die Kinder nicht gern hat, hält solche Situationen kaum aus. Es gibt tatsächlich viele Lehrkräfte, die ihren Beruf aufgeben. Gemäss dem Bundesamt für Statistik steigen rund 20 Prozent der Lehrer spätestens vier Jahre nach dem Berufseinstieg wieder aus. «Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die den falschen Beruf gewählt haben», sagt Urs Gfeller. Ihnen fehle die pädagogische Überzeugung. Ein Motiv für den Ausstieg aus dem Beruf sind beispielsweise die mangelnden Aufstiegschancen. «Vorwärtskommen als Lehrer bedeutet eben nicht, die Karriereleiter hochzuklettern», sagt Gfeller. Eine gute Lehrperson sei nicht primär an solchen Möglichkeiten, sondern an einer «inneren Karriere» interessiert: Er habe eine Passion für Zwischenmenschliches.

5. Die Eltern verstehen
Im Umgang mit den Eltern brauchen gute Lehrer eine klare Linie. Gefragt ist eine Person, die informiert, aber auch Grenzen setzt. Viele Lehrkräfte kommunizierten zu wenig klar mit den Eltern, sagt Urs Gfeller. Diese merkten sofort, wenn ein Lehrer unsicher sei, und zweifelten dessen Fähigkeiten an. Doch Vertrauen sei zentral. Um dieses zu stärken, empfiehlt Gfeller Lehrern, den Eltern das eigene Berufsverständnis zu erklären: «Dies verstehe ich unter lehren und lernen. Von diesem Menschenbild gehe ich aus. So definiere ich unsere Zusammenarbeit. So gehen wir in Konfliktsituationen vor.»

Dass Vertrauen zwischen Eltern und Lehrern keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen auch Beispiele von ratsuchenden Pädagogen: «Eine Mutter findet, ich behandle ihren Sohn unfair», schreibt eine Lehrerin im Online-Beratungsforum der Pädagogischen Hochschule Bern. Die Frau behaupte, ihr Sohn sei jedes Mal niedergeschlagen nach dem Unterricht. Nun habe sie ihren Sohn sogar damit beauftragt, die Unterrichtsstunde mit dem Smartphone aufzunehmen. Eine andere Lehrerin schreibt: «Verschiedene Eltern mischen sich immer wieder in meinen Arbeitsbereich als Klassenlehrperson ein, indem sie meinen Erziehungs- oder Unterrichtsstil infrage stellen.» Auch sie sucht Rat. Und sie ist kein Einzelfall. Aus Sicht vieler Eltern reicht die Arbeit der Lehrer oft nicht aus. Bereits vor fünf Jahren besuchten laut einem Bericht der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung mehr als 34 Prozent der Acht- und Neuntklässler bezahlten Nachhilfeunterricht. Sind die Lehrer also schlechter geworden? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. «Die Eltern wollen ihrem Kind die bestmögliche Ausbildung ermöglichen und haben Angst, das Kind könnte scheitern», sagt Urs Gfeller. Schulleiter, Lehrer und Behörden bestätigen: Die Ansprüche der Eltern sind heute enorm.

6. Digitale Balance finden
Aus John Hatties Sicht brauchen gute Lehrer keine digitalen Hilfsmittel wie Online-Lernprogramme. In seiner Studie erkennt er keinen besonderen Nutzen im Web-basierten Lehren und Lernen. Doch die Digitalisierung lässt sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aufhalten. Sie hat längst in den Schulzimmern Einzug gehalten. Viele Schulen führen Tablets oder Laptops als Arbeitsgeräte für ihre Schüler ein. Gerade hat die Stadt Bern bekanntgegeben, alle Schüler mit solchen Geräten ausstatten zu wollen.
Diese Entwicklung beschäftigt auch Heinz Rhyn. Als Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich ist er für die Ausbildung der künftigen Lehrer zuständig. «Die Digitalisierung verändert den Lehrberuf», sagt er. Lernen sei nicht mehr nur in der Schule möglich. Lern-Apps und Programme sind bereits vielerorts Teil des Unterrichts. Rhyns Hochschule steht derzeit in Kontakt mit Softwareentwicklern, um sich an der Erarbeitung von Lernprogrammen zu beteiligen. Für den Rektor ist dies eine Gratwanderung: Er will den Anschluss an die technische Entwicklung nicht verpassen. «Doch das Lernen darf nicht allein von der Technik bestimmt werden.» Wie kann der gute Lehrer also die neuste Technik nutzen und gleichzeitig seinen Platz im Klassenzimmer behalten?

Christof Tschudi ist überzeugt, diese Balance gefunden zu haben. Er unterrichtet an der Projektschule Arth-Goldau (SZ). In seinem Deutschunterricht tippen die Sechstklässler auf Smartphones und Tablets Beiträge für den Klassenblog «Ein Tag im Leben von . . .». Der 36-jährige Lehrer Tschudi geht im Zimmer umher. Er weiss genau, welche Kinder nicht allein vorwärtskommen, und spricht sie an. Schülern, die ihre Geschichte bereits geschrieben haben, gibt er neue Aufträge: Sie lösen Mathe-Aufgaben – auf ihren Geräten. Die Projektschule Arth-Goldau ist ein Labor des digitalisierten Unterrichts. Tablets und Smartphones sind hier so normale Lernhilfsmittel wie Bleistift oder Gummi.

Ist es mit einem solchen Unterricht überhaupt möglich, ein guter Lehrer zu sein, zu den Schülern eine Beziehung aufzubauen, gemeinsam mit ihnen zu lernen und ihnen zuzuhören, wie es John Hattie postuliert? Tschudi sagt: «Dank dem Einsatz der Computer habe ich mehr Zeit, auf die einzelnen Kinder einzugehen.» Der Computer ist allerdings auch in Tschudis Schulzimmer kein Lehrerersatz: Die Hausaufgaben kontrolliert er selber. Und Prüfungen schreiben die Kinder nach wie vor auf Papier. Bei der Frage, ob er eines Tages durch einen Computer ersetzt werden könnte, schmunzelt Tschudi: «Sobald ich nicht präsent bin im Klassenzimmer, lässt die Konzentration der Schüler nach.» John Hattie dürfte sich durch diese Aussage bestätigt fühlen. Es kommt eben vor allem auf den Lehrer an.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen