16. März 2017

Handschrift: Spiegel der Seele oder Auslaufmodell?

Die übliche Schreibbewegung ist heute der Tasten- oder Sensordruck. Er geht einher mit stereotyper Übertragung der angetippten Einzelzeichen auf den Monitor. Dabei handelt es sich um eine Geste, die keinerlei individuelle Prägung ermöglicht.
Dies war im Fall der mechanischen Schreibmaschine noch anders. Damals konnte das Tippen auf der Tastatur mit stärkerem oder schwächerem Fingerdruck bewerkstelligt werden und wirkte sich dadurch auf das Schriftbild aus: Die Lettern variierten in ihrer Schwärze und Scharfzeichnung, das Papier empfing unterschiedlich tiefe Einschläge. Ausser durch den Personalstil des Verfassers waren solche Typoskripte mithin auch durch physische − um nicht zu sagen: physikalische − Einwirkungen auf die Maschine als Dokumente einer individuellen Schreibweise beglaubigt.
Wandtafel einer Primarschulklasse im Jahr 2008, Bild: Christoph Ruckstuhl
Diese unverwechselbare persönliche Spur, NZZ, 16.3. von Felix Philipp Ingold

Weit mehr noch gilt dies für handschriftliche Texte, bei denen der Körpereinsatz unmittelbar auf den Schriftträger sich auswirkt beziehungsweise auf diesen einwirkt – mit individuellen Energieschüben, mit ständig wechselndem Druck und Rhythmus. Im Gegensatz zur elektronischen Texteingabe ist die Handschrift, nicht anders als das maschinelle Schreiben, stets auch Inschrift, ist gravierte Information. Ob mit dem Stichel auf der Tontafel oder mit dem Kugelschreiber auf dem Notizblock – die Schrift ist das, was sich einprägt, ist eine unverwechselbar persönliche Spur. Kein Wunder, wurde sie von der Graphologie einst als «Spiegel der Seele» aufgefasst und zur Deutung des menschlichen Charakters genutzt.
Doch viel stärker noch als Seele oder Charakter kommt in der Handschrift die körperliche Beschaffenheit und Befindlichkeit des Schreibers zum Ausdruck. Die Kulturtechnik des Schreibens ist nicht zuletzt eine hochentwickelte Körpertechnik – die Grösse und Gliederung der Hand, die Länge des Unterarms, die Haltung der Schulter, die Muskelspannung, die Atemweite, all dies beeinflusst die Schreibbewegung und bestimmt das Design der Schrift. Dies geschieht unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Nachricht, also – zum Beispiel − auch dann, wenn ein unverständlicher Fremdtext lediglich ab- oder nachgeschrieben wird; es geht demnach ausschliesslich um das Schriftbild und nicht um den Text als Bedeutungsträger.

Fehler als Stilmerkmale
Auf dem PC, auf dem Smartphone sind sinnliche Eindrücke, also «informative» Gravuren dieser Art, nicht mehr auszumachen. Die psychophysische Individualität des Schreibers bleibt verborgen. Seine Manier erschliesst sich am ehesten noch – auf niedrigster Schwundstufe − über die grammatischen und orthographischen Fehler, die er unbekümmert eintippt, wohlwissend, dass derartige Fehler weithin akzeptiert sind und anstandslos als «Stilmerkmale» elektronischer Kommunikation abgehakt werden. Dass die Handschrift demgegenüber jegliche Attraktivität eingebüsst hat, muss als Kulturverlust verbucht werden. Es bedeutet nicht weniger, als dass Selbstvergewisserung und Selbstausdruck vermittels Sprache und Schrift nach Jahrhunderten urplötzlich uninteressant geworden sind.

Der Brief und die Ansichtskarte als einst höchst beliebte und oft genutzte Medien handschriftlicher Kommunikation sind abgelöst worden von Instant-Messaging, SMS, Twitter oder E-Mail. Die Handschrift hat dadurch einen Ausnahmestatus gewonnen, sie ist von einer einstmals populären Alltagsgeste unversehens zu einem elitären Medium geworden. Nur in Ausnahmefällen kommt sie überhaupt noch zum Einsatz: als namentliche Unterschrift (bei Verträgen, Dekreten, Policen, Protokollen usw.), auf Prüfungsblättern, als Widmung in einem Buch oder zu einem Geschenk, allenfalls zur Übermittlung von Kondolenzen oder von Glückwünschen zu besondern Anlässen.

Die Handschrift jüngerer und junger Zeitgenossen, die mit PC und Handy aufgewachsen sind und ihre Schreibgewohnheiten entsprechend adaptiert haben, lässt in aller Regel kaum etwas von ihrer «Seele», ihrem «Charakter» erkennen – die Schrift wirkt zumeist unbedarft, unpersönlich, oft gar infantil; ein durchgehender beziehungsweise verbindender Zug fehlt ebenso wie das individuell gepflegte Detail (Schnörkel, Haken, Kürzel, Ligaturen).

Die Schriftzeichen werden vorzugsweise additiv aufgereiht, sei es vereinzelt oder in Silben, so dass das Wort, der Satz, der Abschnitt wie auch der Text insgesamt ihren skripturalen Zusammenhalt weitgehend verlieren. Die Dominanz des Buchstabens und damit der Geste des punktuellen Setzens (anstelle des integrativen Durchziehens) der Schrift ist sicherlich auf das gewohnte Tippen und Tasten bei der alltäglichen elektronischen Textverarbeitung zurückzuführen.

Das Schwinden des gestischen Schreibens als unwillkürliche, zwar vordergründige, dennoch deutungsbedürftige Kundgabe individueller menschlicher Eigenart wirkt sich auch auf der Sprachebene aus. Mit der linearen Dynamik der Handschrift und ihrer rhythmischen Ausprägung geht die Aufmerksamkeit (und das Interesse) für grammatische Fügungen und syntaktische Sequenzen verloren.

Die Mitteilung – falls sie denn überhaupt noch sprachlich verfasst wird − bleibt vorwiegend auf Hauptsätze, fragmentarische Wortverbindungen oder Einzelbegriffe beschränkt, Vor- und Nachzeitigkeit werden nicht mehr klar markiert, Subjekt und Objekt nicht mehr deutlich geschieden. Die zusammenhängende schriftliche Aussage wird abgelöst von Einzelwörtern mit Appellcharakter, aber auch von nichtsprachlichen Zeichen wie Icons und Emoticons.

Bild statt Schrift
Das Hinsehen wird das Nachlesen ersetzen. Dem Privatbrief oder dem postalischen Kartengruss zieht man eine kurzfristig erstellbare Skype-Verbindung vor. Statt Schrifttexten verschickt man per Handy Bildnachrichten (Videos mit Tonspur), die in Realzeit empfangen werden können. Das sind bereits alltäglich gewordene elektronische Verfahren, welche nicht nur die Handschrift, sondern die Schrift überhaupt als ein Auslaufmodell sprachlicher Kommunikation erscheinen lassen.

Angesichts der stetig zunehmenden Komplexität der Alltagswelt (und der Geisteswelt insgesamt) erweist sich die Geste des Schreibens als zu wenig differenziert, zu wenig effizient und überdies als zu langsam und zu aufwendig, als dass sie sich längerfristig gegenüber elektronischen Medien behaupten könnte, die mit multidimensionalen Modellen, Programmen, Codes und hochentwickelten bildgebenden Verfahren operieren. Das gilt naturgemäss umso mehr für die handschriftliche Texterstellung, die auf eine Vielzahl von materiellen Voraussetzungen angewiesen ist – auf eine Schreibfläche (Tisch, Brett), einen Schriftträger (Papier, Karton, Folie), ein Schreibwerkzeug (Feder, Kugelschreiber, Blei- oder Filzstift) sowie auf einen alphabetischen Zeichensatz.

Im Unterschied zum mündlichen Sprachgebrauch ist das Schreiben bekanntlich keine angeborene Disposition oder Fähigkeit: Es kann wohl, muss aber nicht notwendigerweise als Kulturtechnik erlernt werden. Noch heute gibt es weltweit rund 800 Millionen Analphabeten, die auch ohne Schreibkompetenz auskommen, obwohl sie dadurch in vielerlei Hinsicht benachteiligt sind. Doch stellt sich nun die Frage, ob in höher entwickelten Zivilisationen nicht vielleicht ein sekundärer Analphabetismus als ein gleichermassen neues und archaisches kulturelles Phänomen sich durchsetzen wird. Das gegenwärtige Verschwinden der Handschrift wäre dann ein untrügliches Anzeichen für das Verschwinden der alphabetischen Schrift schlechthin und deren Ablösung durch numerische Codes zur Programmierung technischer Bilder.

Felix Philipp Ingold arbeitet nach langjähriger Lehrtätigkeit als freier Autor in Romainmôtier (VD); zuletzt erschien von ihm der Prosaband «Direkte Rede» (Wien 2016).


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