27. Februar 2017

Verletzte Schüler in Turnunterricht integrieren

Verletzte oder kranke Schüler sollen in Basel ab sofort in den Turnunterricht integriert werden – dank dem Programm Activdispens.
Bewegen trotz Sportdispens, Basler Zeitung, 27.2. von Denise Dollinger


Wie schnell ist es passiert: Ein unglückliches Zusammenstossen beim Basketballspiel und die Rippe ist gequetscht. Oder aus Unachtsamkeit wurde die letzte Treppenstufe übersehen und nun ist der Fuss verstaucht. Verletzungen können jeden erwischen, egal ob jung oder alt. Kinder und Jugendliche werden in Verletzungs- oder Krankheitsphasen oft vollständig vom Schulsport freigestellt. Dies soll nun anders werden. Mit Activdispens wurde ein Konzept entwickelt, das verletzte Schüler mit einem Ersatzprogramm aktiv in den Turnunterricht integriert. Noch diesen Monat wird es im Kanton Basel-Stadt eingeführt.
«Es gibt ganz wenige Verletzungen, wo Bewegung wirklich verboten oder kontraproduktiv ist», sagt Guido ­Perrot, Leiter Therapien am Basler Uni­versitätsspital. Perrot ist Präsident der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining (SART). Gemeinsam mit den Projektverantwortlichen Claudia Diriwächter und Christoph Wechsler hat er, in Zusammenarbeit mit Ärzten, Wissenschaftlern und dem Schweizerischen Verband für Sport in der Schule (SVSS), das Projekt «Bewegen trotz Sportdispens» realisiert.

54 Übungen aus der Sportphysio
Die Relevanz von Schulsport und die damit verbundene Bewegung bei Kindern und Jugendlichen sei zentral, betont Perrot. «Unsere Gesellschaft wird immer mehr von Computer, Internet und anderen Medien beeinflusst und der Alltag hat sich in den letzten Jahren vermehrt hin zu passiver Haltung verändert. Die Wissenschaft zeigt, wie wichtig tägliche Bewegung ist und dass sie bei jungen Menschen möglichst wenig unterbunden werden soll.»

Es sei unsinnig, verletzte Schüler vom Sport­unterricht fernzuhalten, so Perrot. «Gerade in Krankheits- oder Verletzungsphasen ist der Schulsport und die damit verbundene Aktivität von grosser Wichtigkeit, da durch die Bewegung die Regeneration und Heilung positiv unterstützt wird», sagt Perrot. «Bewegung kann und darf nicht durch Rechenaufgaben ersetzt werden.» Auch wenn vielen Ärzten klar ist, dass eine vollständige Freistellung des Turnunterrichts nicht sinnvoll ist, hatten sie bis anhin keine ideale Lösung dafür, wie mit Sportdispensationen umzugehen ist. Verantwortung für den Patienten, damit dieser sich nicht wieder verletzt oder sich die Situation durch inkorrekte Bewegung verschlechtert, stand der Tatsache, dass aktive Bewegung wichtig ist, im Weg.

Durch Activdispens wird sich das nun ändern. Der Übungskatalog bietet eine Lösung, teildispensierte Schüler aktiv in den Schulsportunterricht zu integrieren. «Activdispens ersetzt die traditionelle ‹alles oder nichts› Turndispens-Praxis, gemäss derer auch Kinder mit leichten bis mittelschweren Problemen am Bewegungsapparat gleich zu hundert Prozent turn- oder sportbefreit wurden», sagt Carol Hasler. Der Chefarzt Orthopäde am Universitäts- Kinderspital beider Basel ist überzeugt, dass mit dem Übungsprogramm ein wichtiges Instrument geschaffen wurde. Und zwar nicht nur um der «grassierenden Bewegungsarmut» entgegenzuwirken. «Man darf nicht vergessen, dass Schulsport durch das ‹Dampf Ablassen› eine starke Ventilfunktion hat», sagt Hasler. Und fügt an: «Des Weiteren ergibt sich auf dem Sportplatz eine andere Dynamik und Hierarchie als im Klassenzimmer, was wiederum Einfluss auf die sozialen Aspekte hat.»

Das Turn-Ersatzprogramm mit insgesamt 54 Übungen wurde aus der Sportphysiotherapie heraus gebildet. Nebst Übungen für die unteren und oberen Extremitäten und den Rumpf gibt es ebenfalls spezifische Anleitungen bei Menstruationsbeschwerden, Rückenschmerzen, Kopfweh oder allgemeinem Unwohlsein. «Wichtig bei den einzelnen Übungen ist, dass sie einfach und ohne viel Instruktion durchgeführt werden können», sagt Guido Perrot. Die betroffenen Schüler sollen die Übungen selbständig im Unterricht machen können, sodass die Sportlehrpersonen sich weiterhin auf den Rest der Klasse konzentrieren können.

Instrument für Ärzte und Lehrer
Für die Praxis sieht das nun so aus, dass der behandelnde Arzt auf dem Dispensationsformular ankreuzen kann, welche sportliche Aktivitäten erlaubt sind. Zudem entscheidet er, welche Bewegungen aus dem aktivdispens-­Übungskatalog für den verletzten Schüler sinnvoll sind. «Activdispens ermöglicht erstmals ein differenziertes, individuell auf den Patienten zugeschnittenes Turnprogramm, welches zum Beispiel auch die häufig parallel dazu statt­findende physiotherapeutische Betreuung in idealer Weise komplementiert. Die Lehrperson erhält zudem mit ein­fachen Mitteln einen recht präzisen Handlungsrahmen», sagt Carol Hasler. Somit sei das entwickelte Übungsprogramm Ärzten, Sportlehrpersonen und auch den Kindern und Jugendlichen dienlich.

Nicht nur in Basel soll Activdispens in den Schulunterricht integriert werden. «Damit das Projekt gesamtschweizerisch verbreitet werden kann, entwickeln wir die Webseite auf Französisch, Italienisch, Rätoromanisch und Englisch», sagt Guido Perrot. Seit Donnerstag sind die Übungen als App verfügbar. Sämtliche Videos gibt es unter:

www.activdispens.ch

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