5. Februar 2017

Sich einfügen will gelernt sein

Leonie kann nicht warten, bis sie an der Reihe ist. Statt aufzustrecken, springt die Fünfjährige auf und ruft die Antwort laut heraus. «Moment», sagt die Kindergärtnerin an einer Schule in der Stadt Bern, «bleib an deinem Platz und warte, bis du dran bist.» Jetzt steht Max auf und rennt herum. Sein Sitznachbar Felix hört schon länger nicht mehr zu. Er starrt sehnsüchtig zur Bauecke hin­über. Als die Kinder später seinen Anweisungen zum Bau einer Hütte nicht folgen, wird er wütend und schlägt zu.
Lernen mit Frustrationen umzugehen, Bild: Getty Images
Eltern, lasst eure Kinder in Ruhe! Berner Zeitung, 4.2. von Mirjam Comtesse

Immer wieder stören einzelne Kinder so den Kindergarten­betrieb. Sie haben Mühe, ihre ­Bedürfnisse aufzuschieben und Hindernisse zu bewältigen. ­Mangelnde Frustrationstoleranz ­nennen dies Experten. Laut der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm gehört solches Verhalten zwar zum normalen Entwicklungsprozess im Kleinkindalter.

Doch sie konstatiert, dass der Anteil derjenigen zunimmt, die ihre Gefühle kaum regulieren können. Das habe fatale Folgen, schreibt sie in ihrem gerade erschienenen Dossier «Ich will – und zwar jetzt!»: «Schul-, Berufs- und Lebenserfolg hängen nicht primär von einem hohen Intelligenzquotienten und vielen Förderkursen ab, sondern ebenso vom Ausmass der emotionalen und sozialen Kompetenz.»

Kindergärten unter Druck
Stamm stützt sich bei ihrer Bestandesaufnahme auf Umfragen bei Kindergärtnerinnen und Kita-Angestellten: «Sie sehen ­immer häufiger Kinder, die darauf angewiesen sind, dass sie im Mittelpunkt stehen.» Das bedeutet beispielsweise, dass ein Kind nicht damit umgehen kann, wenn es sich seine Lieblingsgeschichte wünscht und die Betreuerin zuerst ein Buch vorliest, das ein anderes Kind ausgewählt hat.

Brigitte Fleuti, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ), bestätigt die Beobachtung: «Wir haben mehr Kinder, die sofort ihrem Impuls nachgeben und denen es schwerfällt, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht.» Die Folge sei, dass man mehr Schulassistenten benötige. Die zusätzliche Betreuungsarbeit gehe dabei oft auf Kosten der Unterrichtszeit.

Allerdings ist diese Entwicklung ein Stück weit erklärbar. Kinder besuchen heutzutage teilweise den Kindergarten, sobald sie gerade erst vier Jahre alt geworden sind. Kein Wunder, sind einige noch sehr in ihrer kleinkindlichen Egozentrik verhaftet.

Lehrlinge hätten weniger Biss
Doch nur am früheren Beginn der obligatorischen Schulzeit können die Klagen über die mangelnde Frustrationstoleranz nicht ­liegen. Auch in der Schule fallen offenbar mehr Kinder auf, die ­relativ schnell aufgeben, wenn ­etwas nicht klappt. Franziska ­Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), meint, die Zunahme sei zwar nicht frappant, aber unter den Lehrern ein Thema.

«Problematisch wird die Situation wegen der Abbaumassnahmen in vielen Kantonen: Bei grossen Klassen wird es schwierig, wenn einzelne Kinder mehr Motivation vom Lehrer brauchen.» Betroffen sind einmal mehr häufiger Knaben als Mädchen. Das dürfte aber auch daran liegen, dass Buben ihre Emotionen eher durch Gerangel und Lautwerden zum Ausdruck bringen, was deutlicher hervorsticht.

Beim geringen Durchhalte­willen handelt sich nicht nur um ein Kinderproblem, das sich auswächst. Auch in Lehrbetrieben äussert er sich. Konditor Urs Köppel, der zum Lehrmeister des Jahres 2016 gewählt wurde und schon über 90 Auszubildende begleitet hat, sagt: «Vor zehn Jahren konnte ich den Lehrlingen mehr Verantwortung übergeben. Heute haben sie weniger Biss, etwas durchzuziehen. Ich muss vielen nachlaufen und kontrollieren, ob sie wirklich erledigt haben, was ich ihnen aufgetragen hatte.»

Kinder lernen von Kindern
Antworten auf die Frage, woher dieses Phänomen kommt, gibt es verschiedene. Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm sieht das Grundproblem im falschen Fokus vieler Eltern: «In den letzten zehn Jahren wurde immer wieder betont, wie wichtig die intellektuelle Förderung ist», sagt sie. «Dabei geriet die emotionale Entwicklung ins Hintertreffen.»

Die Lösung sei aber nicht, dass die Eltern ihre Schützlinge nun für Förderkurse in emotionaler Intelligenz anmeldeten: «Meine Botschaft ist, dass Mütter und Väter lockerer werden und das Kind mehr Kind sein lassen sollten, so kann man die emotionale Kompetenz am besten fördern.»

Ähnlich sieht dies der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl: Kinder sollten mehr Freiräume haben. «Früher wurden Kinder oft von anderen Kindern erzogen. Sie spielten auf der Strasse und mussten damit umgehen, dass ein anderer ihnen vielleicht ihr Spielzeug wegnahm.»

Heute intervenieren in einer solchen ­Situation sofort die Betreuer oder Eltern. Viele Mütter und Väter begleiten ihre Mädchen und Buben auch in den Kindergarten oder die Schule – und nehmen ­ihnen damit eine weitere Möglichkeit, den Umgang mit Gleichaltrigen ohne Beistand zu üben.

Eltern oft ausgelaugt
Dass Kinder oft mehr um Erwachsene herum seien als um Kinder, findet auch Franziska Peterhans vom Lehrerdachverband problematisch. «Früher hatten die Familien mehr Kinder. Diese mussten vieles selber ausprobieren, weil niemand sofort Zeit hatte, ihnen zu helfen.» So hätten Buben und Mädchen gelernt, ­erfinderisch zu sein, nicht so schnell aufzugeben – oder dann auf Hilfe zu warten. Das Resultat: Kinder hätten betreffend Sozialverhalten vieles bereits mitgebracht, was sie heute in der Schule erst lernen müssten.
Dass mit iPad und Co. stets ­Geräte zur Verfügung stehen, um bei Frust abzulenken, trägt natürlich ebenfalls dazu bei, dass das Durchhaltevermögen weniger trainiert wird. Viele Eltern leben ihrem Nachwuchs diese Problemlösungsstrategie gleich selber vor. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht eindeutig.

Einige Experten vertreten sogar die Meinung, dass Spiele am Computer helfen können, den Umgang mit Misserfolg zu üben: «Es gibt Studien, die zeigen, dass Games, bei denen man durch Versuch und Irrtum weiterkommt, einen positiven Lerneffekt haben», sagt der Medienpsychologe Daniel Süss. Denn die Gamer merken, dass sie vielleicht doch noch das nächste Level erreichen, wenn sie sich nicht entmutigen lassen und neue Strategien ausprobieren.

Der Kindergärtnerin Brigitte Fleuti fällt zudem auf: «Viele ­Eltern möchten ihren Kindern möglichst viel Gutes tun und Konflikte vermeiden.» Die Gefahr bestehe, dass der Nachwuchs zu kleinen Königinnen und Kö­nigen heranreife. Das liege auch daran, dass ihre Eltern im harten Alltag zwischen Powerjob und Familie oft ausgelaugt seien: «Dann wollen sie nur noch ihren Frieden haben, und wenn das Kind unbedingt eine Glace möchte, bekommt es halt eine, damit Ruhe ist.»

Frust muss man aushalten
Es ist nicht möglich, die Zeit zurückzudrehen. Aber was können Eltern tun, um die Frustrationstoleranz zu fördern? Sie sind es schliesslich, welche die Grund­lagen legen, die der Kindergarten und die Schule dann weiterent­wickeln. Margrit Stamm meint: «Die Kita ist eine hervorragende Trainingsinsel für emotionale Kompetenz.» Hier üben die Kinder, sich in einer Gruppe mehr oder weniger Gleichaltriger zu behaupten – und auch einmal nachzugeben.

Für zu Hause rät die Erziehungswissenschaftlerin zu ein paar Regeln. Tipp Nummer eins: Ämtli. Die Eltern müssen dann aber auch dafür sorgen, dass die Buben und Mädchen tatsächlich regelmässig den Tisch decken oder die Katze füttern. Ein weiterer Tipp ist, den Sohn oder die Tochter beim Spielen mal ver­lieren zu lassen. Schliesslich – Tipp Nummer drei – sollen Eltern ihr Kind nicht dauernd ­loben. Denn nicht Lob stärkt das Selbstbewusstsein, sondern lediglich die Erfahrung, dass man schwierige Situationen aus eigener Kraft meistern kann.

Wer kämpft, wird belohnt
Mit den Lernschritten der Mädchen und Buben sind auch solche der Eltern verbunden. Sie müssen den Frust ihrer Kinder aushalten. Das gilt zum Beispiel, wenn der Junge ins Fussballtraining geht und während eines Matchs auf der Ersatzbank sitzen muss. «Die Väter wehren sich oft und kritisieren den Trainer, weil er ihr Kind nicht spielen lässt», sagt Stamm.

Es gehöre jedoch zu den herausforderndsten Aufgaben von Eltern, solche Enttäuschungen gemeinsam mit ihren Kindern durchzustehen. Denn wenn der Sohn sich im Training verbessert und das nächste Mal doch auf­gestellt wird, hat er eine entscheidende Lektion gelernt: Einsatz lohnt sich.

Erwachsene sind das Problem
Vielleicht sind es vor allem die Erwachsenen, die ihre Haltung ändern müssen. Der Jugendpsychologe Guggenbühl jedenfalls findet das Lamentieren über das fehlende Durchhaltevermögen der jungen Generation verfehlt.

Er spricht von einem «Herrscherbegriff»: Wer dem anderen mangelnde Frustrationstoleranz vorwerfe, der weise das Problem von sich und delegiere es an den Schwächeren. Das Problem sei, so der Psychologe, dass in unserer Gesellschaft die Älteren die Normen definierten: «Dabei besteht die Gefahr, dass sie vergessen, was Kinder und Jugendliche sind: wild, laut, unangepasst.»

Guggenbühl meint denn auch, gesunken sei vor allem die ­Frustrationstoleranz gegenüber Kindern und Jugendlichen. «Das sieht man zum Beispiel in ­Schulen, wo die Lehrer schon bei kleinen Vergehen drastisch reagieren.» Und er betont: «Früher getrauten sich die Kinder einfach weniger, ihre Gefühle zu zeigen.» Kaum jemand wünscht sich wohl ein Zurück in die Zeiten, als Kinder lediglich schweigende Befehlsempfänger waren.

Akt der Rebellion
Auch der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der den Bestseller «Kinder verstehen» geschrieben hat, sieht den Fehler vor allem in der Einstellung der Erwachsenen. Die Reaktion der Kinder, die schnell aufgeben, betrachtet er als Akt der Rebellion: «Mädchen und Buben verbringen grosse Teile der Kindheit mit Aufgaben, die die klugen Erwachsenen für sie ersonnen haben, und nicht sie selbst.»

Dabei würden die meisten Kinder nach wie vor «mit grosser Frustrationstoleranz und blau gefrorenen Lippen einen Bach aufstauen», wenn sie Gelegenheit dazu hätten. Er meint: «Klagen kann man schon, aber wir sollten auch fragen, ob die Kinder nicht das Recht dazu haben, wenn sie in einer fremdgesteuerten Welt irgendwann die Segel streichen.»
Fehlende Frustrationstoleranz ist also ein Begriff, der für vieles stehen kann: Kinder, die Mühe haben, wenn sie nicht an erster Stelle kommen, junge Menschen, die sich durch Minimalismus von ihren Eltern distanzieren wollen – und Erwachsene, die einfach ­ihre eigenen Schwächen als Lehrer, Ausbildner oder Eltern überspielen. 


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