Gym-Lehrer Beat Wieland ist ein unbequemer Denker:
Er hält Schulen für geschützte Werkstätten und er hat sich oft über
konservative Kollegen geärgert, die sich über die Reformitis beklagen. Im
Interview führt Wieland aus, wie er sich die Schule der Zukunft vorstellt.
Beat Wieland: Pädagogische Fragen werden vernachlässigt, Bild: Martin Töngi
Gym-Lehrer: "Im Baselbiet hat man kaum den Mut für Experimente", Aargauer Zeitung, 7.2. von Hans-Martin Jermann
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Herr Wieland, Sie standen 35 Jahre non stop
Vollzeit im Dienste unserer Schulen. Wie hat sich der Lehrerberuf in den Jahren
verändert?
Beat Wieland: Die
wichtigste Veränderung für mich persönlich war, dass ich im Laufe der Jahre
immer weniger gelehrt und immer mehr begleitet und Lernende gecoacht habe. Ich
habe meine Funktion nicht mehr darin gesehen, vor der Klasse Schulstoff
abzuspulen, sondern darin, junge Menschen zu beobachten und zu betreuen.
Sie haben über sich gesprochen. Ist dieser Wandel
generell spürbar?
Es gibt einige Schulen, etwa in der Ostschweiz oder
in Basel, die nach diesem Modell arbeiten. Im Baselbiet gibt es die
Sekundarschule Pratteln mit dem Pilotprojekt Lernlandschaften. Das ist die
Zukunft unserer Schulen. Schülerinnen und Schüler sollen das lernen, was ihnen
noch fehlt. Dabei geht es auch darum, ihre Selbstständigkeit zu stärken. Damit
einher geht eine Abkehr vom Unterricht in isolierten Einzellektionen. Das
Internet unterstützt diesen Wandel, die klassische Wissensvermittlung verliert
an Bedeutung.
Ist das so? Ohne solide Allgemeinbildung wird sich
ein Schüler an der Uni nicht behaupten können.
Das ist eine Scheindiskussion. Lernende kommen
heute selber an das Wissen heran. Wichtig ist für sie, wenn sie einen Auftrag
zu erfüllen haben, dass sie sich die Frage stellen: Weiss ich bereits genug?
Und wo muss ich Hilfe holen, wenn ich nicht weiter weiss? So generieren sie das
fehlende Wissen. Aktiv und eigenverantwortlich. An unseren Schulen geschieht
leider oft das Gegenteil: Viele Schüler sind permanent unterfordert, sie setzen
sich anfangs Stunde hinter ihre Pulte und machen erst dann etwas, wenn sie dazu
aufgefordert werden. Dieser Standby-Modus ist schädlich. Die jungen Menschen
können intellektuell viel mehr, als was wir sie in unseren Schulen tun lassen.
Tatsache ist: Unis klagen darüber, dass viele
Gym-Absolventen schlecht ausgebildet sind.
Für gewisse Bereiche trifft dies zu. Unter anderem
soll das Niveau in der deutschen Sprache gesunken sein. Schwierigkeiten gebe es
beim Verstehen anspruchsvoller Texte. Dabei müssten alle Lernenden klar
definierte Minimal-Standards erreichen. Das heutige System fördert aber das
Gegenteil: Da kann eine Schülerin mit einer guten Note eine ungenügende Note im
Grammatik-Test kompensieren. Es ist also gewissermassen egal, dass sie in der
Grammatik den Anforderungen nicht genügt. Mit dieser unprofessionellen Praxis
sollten wir aufhören. Schüler müssen so lange aktiv sein, bis sie den
geforderten Standard erreichen.
Sollen Noten abgeschafft werden?
Nein, sie sind ein geniales Instrument, um Schülern
ein Feedback zu den Leistungen zu geben. Was abgeschafft gehört, ist dieses
hanebüchene Selektions-Verfahren, wie ich es eben angedeutet habe. Selektion
ist die Sache der kontinuierlichen und intensiven Beratung der Schülerinnen und
Schüler, wie sie schon ansatzweise in den Lerngesprächen zum Zuge kommen.
Sie gelten als Reformer. Sind Sie mit Ihren Ideen
oft angeeckt?
Schon. Wobei es in allen Unternehmen – und ich
verstehe die Schule als Unternehmen – die Early Movers gibt, die das Neue im
Blick haben und Veränderungen testen wollen. Diese Early Movers sind
naturgemäss in jeder Institution in der Minderheit. Wichtig ist aber, dass sie
nicht isoliert bleiben und gemeinsam ihren Beitrag zur Schulentwicklung leisten
können. Wobei ich kein Ideologe bin: Hat eine Neuerung Schwächen, dann bin ich
der erste, der dafür plädiert, nach etwas Besserem zu suchen.
Die Lehrer gelten als weltgewandte Zeitgenossen,
gleichzeitig sind die Schulen konservativ, Neuerungen haben es sehr schwer.
Weshalb?
Schulen sind geschützte Werkstätten. Menschen, die
risikofreudig und neugierig sind, werden sich vermutlich nicht in erster Linie
einen Arbeitsplatz an einer Schule suchen. Dies führt dazu, dass die Schulen
viele Menschen beschäftigen, die zumindest im Beruf auf Sicherheit aus sind.
Diese schaffen dann im Lehrerberuf ihr kleines Reich. Dies führt auch dazu,
dass viele Reformen an den Schulen kalt verdaut werden, wie das Fachleute
nennen. Man tut gegen oben so, als würde man die Reform umsetzen, unterwandert
diese im Alltag aber – was dann den nächsten Reformschritt provoziert. Ich habe
mich oft geärgert, in dieser Atmosphäre der permanenten Klage über die – aus
meiner Sicht vermeintliche – Reformitis zu arbeiten.
An der Schule treffen neugierige junge Menschen auf
verknöcherte, konservative Lehrer. Das ist fatal.
Das ist es in der Tat. Das Problem besteht auch
darin, dass der Altersunterschied zwischen einer Lehrperson und ihren Schülern
von Jahr zu Jahr zunimmt. Das kann bei Lehrpersonen zu einer resignativen
Haltung führen, zu einer Unlust, mit diesen jungen Menschen voller Power zu
arbeiten. Dabei gehören Lebenslust und Humor aus meiner Sicht zum Lehrberuf.
Was kann ein Lehrer gegen Unlust und Resignation
tun?
Ich habe versucht, in meinem Berufsleben Brüche
einzubauen, indem ich mich immer wieder für neue Stellen beworben habe. Bewirbt
man sich, steht man gleichsam auf die Waage und sieht, wie schwer man ist. Das
ist heilsam: Wird man im neuen Job genommen, hat man ein Erfolgserlebnis, wenn
nicht, lässt das die eigenen Defizite zum Vorschein kommen. Ich habe etwa in
Zehnjahresschritten den Arbeitsplatz gewechselt und war an verschiedenen Schulstufen
tätig. Ich bin klar der Meinung, dass es der Kanton als Arbeitgeber verhindern
sollte, dass die Lehrer «lebenslänglich» kriegen.
Die Kritik an der Reformitis ist gross, auch aus
der Lehrerschaft.
Diese Kritik ist für mich unverständlich. An den
Baselbieter Schulen gab es gewiss nicht zu viele Reformen – im Gegenteil. Im
Baselbiet hat man derzeit kaum den Mut, Experimente einzugehen, und man
verkennt, dass der Stillstand auch ein Experiment darstellt – ein sehr
gefährliches dazu. Ausgerechnet Schulen sollen nicht im Gleichschritt mit der
Gegenwart gehen? Pratteln sollte immer und überall sein!
Interessant ist, dass das Baselbieter Schulwesen
völlig verpolitisiert ist.
Das sehe ich auch so. Aber das ist nur möglich,
weil die Schulen und die darin Arbeitenden das Heft nicht in die Hand nehmen.
Viele Lehrpersonen stellen derzeit standespolitische Forderungen wie Löhne und
Arbeitsbedingungen in den Vordergrund. Demgegenüber werden pädagogische Fragen,
in denen die Lehrer die Experten sind, vernachlässigt. Der Kanton als
Eigentümer der Schulen sollte dezidiert vorgeben, welche Schule er will. Er
sollte die Ziele definieren. Wie diese Ziele zu erreichen sind, wissen wiederum
Schulen und Lehrpersonen am besten.
Es läuft genau umgekehrt: Der Landrat diskutiert
darüber, wie die Lehrer zu unterrichten haben.
Das ist ein Riesenfehler. Der Kanton stellt teure
Profis in Sachen Unterricht an, nutzt diese Ressourcen dann aber nicht. Kommt
hinzu, dass Lehrpersonen durch solche übergeordneten und teilweise
widersprüchlichen Interventionen seitens der Politik entmutigt werden, sich für
die pädagogische Entwicklung ihrer Schule zu engagieren.
Der abtretende Basler Erziehungsdirektor Christoph
Eymann hat oft auf die Schule als gesellschaftliche Klammer hingewiesen und so
das Schwimmunterricht-Obligatorium begründet. Ihre Meinung?
Ich lebe im Kleinbasel. Dort, wo man Integration
täglich lebt, werden diese Fragen pragmatisch gehandhabt. Wichtig ist vor
allem, dass die Schulen trittsicher sind. Sie müssen definieren: Welche Werte
sind für unsere Gesellschaft unverzichtbar? Wo haben wir Spielraum für
individuelle Lösungen? Darin sind viele Schulen unsicher und mutlos. Dabei gibt
es von unseren gesetzlichen Grundlagen her rote Linien, die nicht überschritten
werden dürfen.
Wann wird die Linie überschritten?
Etwa, wenn Gewalt ins Spiel kommt. Die Schulen
müssen verhindern, dass Kinder zu etwas genötigt werden. Passiert hier etwas,
müssen die Schulen zuerst selber handeln und, wenn dies nicht ausreicht, die
Polizei und allenfalls die Sozialbehörden einschalten. Ein anderes Beispiel ist
die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Sie sprechen die Therwiler Händedruck-Affäre an.
Ist es richtig, den Händedruck einzufordern?
Keine Frage. Die Therwiler Schulleitung hätte
meines Erachtens sofort den Händedruck durchsetzen müssen. Es war ein Fehler,
dass sich die Schule hier auf einen Vertrag mit den Jugendlichen eingelassen
hat. Ich bin zwar auch ein Anhänger der Vertragspädagogik. Diese funktioniert
etwa dann, wenn es darum geht, mit einem Schüler Lernziele zu vereinbaren. Sie
funktioniert aber nicht, wenn ein offensichtlich ideologisierter Schüler
versucht, unsere liberalen Grundwerte zu untergraben. Für mich sind
Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und demokratisch gefällte
Mehrheitsentscheide Eckpfeiler, von denen wir keinen Millimeter abrücken
dürfen.
Begrüssen Sie, dass Bildungsdirektorin Monica
Gschwind den Händedruck per Gesetz erzwingen will?
Nein. Das Gesetz halte ich für baren Unsinn.
Sämtliche Gesetze und Instrumente sind vorhanden, um den Händedruck an einer
Schule durchzusetzen. Offensichtlich fehlte den Verantwortlichen der Mut, auf
die vorhandenen Regeln und Gesetze zu bauen.
Beispiel aus Deutschland: Ein Lehrer wollte mit der
Klasse eine Synagoge besuchen, ein Schüler weigerte sich. Wie soll der Lehrer
reagieren?
Sicher ist es ein Alarmsignal, wenn es zu dieser
Situation kommt. Ich fände es falsch, einen Schüler zum Besuch zu zwingen. Aber
eine Auseinandersetzung wäre unabdingbar. Für den Lehrer und die Schule wäre es
wichtig zu erfahren, woher die Haltung des Schülers kommt. Ich habe vor Jahren
an der OS Dreirosen eine fast identische Erfahrung gemacht. Im Rahmen eines
Klassenprojekts haben wir uns Räume unter der Erde angeschaut, so auch die
Krypta einer Kirche. Ein muslimischer Schüler weigerte sich, die Krypta zu
besuchen, weil ihm der Imam seiner Moschee dies verboten habe.
Was haben Sie gemacht?
Ich habe das Gespräch gesucht und dem Imam
klargemacht, dass es nicht gut wäre und Schwierigkeiten geben würde, wenn der
Schüler den Besuch verweigert. Ich weiss nicht, wie weit ich gegangen wäre.
Jedenfalls hat der Imam eingelenkt. Der Schüler besuchte mit der Klasse die
Krypta.
Der "unbequeme Denker" Beat Wieland sieht sich selbst als "Early Mover", der das Neue im Blick hat und Veränderungen testen will. Noch Fragen?
AntwortenLöschenDie Sozialform des Klassenunterrichts (auch direkter Unterricht), in der alle Schüler miteinander unter Anleitung des Lehrers den Lernstoff erarbeiten, ist die einzige Schulreform, bei der die Leistungen auch der schwachen Schüler stark verbessert werden. Bei der weltweit grössten Studie „Project Follow Through“ mit über 100.000 teilnehmenden Schülern hat sich der Direkte Unterricht (University of Oregon) als Erster im Lesen, Rechnen, Rechtschreibung, Sprache, Grundfertigkeiten, schulisch kognitiven Fähigkeiten und positivem Selbstwertgefühl platziert und zeigte als einziges der 22 bewerteten Reformmodelle, überall positive Ergebnisse bei der Verbesserung von Grundwissen und –fertigkeiten, der kognitiven und Problemlösungsfähigkeiten sowie dem positiven Selbstwertgefühl für alle teilnehmenden Kinder. Der Klassenunterricht stellt hohe Anforderungen an die Lehrperson und wird heute zusätzlich durch die bewusst forcierte Heterogenität mittels Totalintegration, altersdurchmischtem Lernen usw. erschwert.
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