26. Februar 2017

PISA-Test-Design benachteiligt Buben beim Lesen

Bei allen grossen Schulleistungsstudien schneiden Buben im Lesen schlechter ab als Mädchen. Der Kompetenzunterschied zwischen den Geschlechtern zeigt sich bereits im Alter von zehn Jahren, und bei Fünfzehnjährigen kann er sogar bis zu einem Jahr betragen. Doch dann ändert sich das wieder, und bei Tests mit älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen verschwindet die geschlechtsspezifische Differenz fast ganz.
Buben lesen anders, NZZaS, 26.2. von Regula Freuler

Oddny Judith Solheim und Kjersti Lundetræ von der Universität Stavanger in Norwegen wollten herausfinden, weshalb das so ist. Sie verglichen die Ergebnisse der Schulleistungstests Pirls für 10-Jährige und Pisa für 15-Jährige mit dem PIAAC-Test für 16- bis 24-Jährige («Assessment in Education», online). In diesen Tests wird geprüft, ob die Probanden geschriebene Texte verstehen und nutzen können. Pisa und PIAAC sollen auch prüfen, ob das Gelesene reflektiert und bewertet werden kann.

«Es geht nicht um die Frage, welches Geschlecht besser lesen kann», sagt Oddny Solheim, «sondern warum der Unterschied in einem gewissen Alter so gross ist». Ihrer Meinung nach hängt es mit dem Test-Design zusammen, also der Art und Weise der Aufgabenstellung.

So kommt es auf Textsorte und Textform an. «Mädchen punkten mehr als Buben bei fiktionalen Texten. Ebenso sind Mädchen im Vorteil, wenn es sich um lange Texte handelt.» Im PIAAC-Test, wo die Männer besser abschneiden als bei Pirls und Pisa, ist das Verhältnis von langen zu kürzeren Texten beziehungsweise fiktionalen zu faktenbasierten Texten viel ausgewogener.

Ebenso haben Buben mehr Schwierigkeiten mit sogenannten Constructed-Response-Aufgaben, also mit offenen Fragen, bei denen man die Antworten selbst formulieren muss. Leichter fällt ihnen das Multiple-Choice-Verfahren, bei dem sie vorgegebene Antworten ankreuzen können. Solheim und Lundetræ stellten fest, dass sowohl im Pirls- als auch im Pisa-Test etwa bei der Hälfte der Fragen die Antwort selbst formuliert werden muss und in über zwei Dritteln dieser Aufgaben längere schriftliche Antworten verlangt sind. Weil solche Aufgaben mit bis zu dreimal mehr Punkten belohnt werden als Multiple-Choice-Aufgaben, fallen Buben besonders hinter den schreibkompetenteren Mädchen zurück: «Buben haben nicht nur mehr Schwierigkeiten mit offenen Fragen», sagt Solheim, «sie neigen auch dazu, diese auszulassen.»

Dass Buben schwierige Aufgaben eher einmal umgehen, offenbart sich auch bei ihrem Leseverhalten. Gemäss zwei englischen Studien, bei denen Daten von 850 000 Schülerinnen und Schülern ausgewertet wurden, lesen Buben nicht nur weniger sorgfältig als Mädchen, sie überspringen auch häufiger Seiten («Reading Psychology», online). Ausserdem wählen sie lieber Bücher, die sie unter- statt überfordern. Zwar entschieden sich die Buben bei den Tests viel häufiger für nichtfiktionale Texte als die Mädchen, also jener Textsorte, die ihnen leichter zu verstehen fällt. Aber selbst dort schnitten sie schlechter ab als die Mädchen.

Für das abweichende Leseverhalten von Buben und Mädchen gibt es verschiedene Begründungsversuche. So werden kognitive Unterschiede wie das grössere Vokabular bei Mädchen ins Feld geführt. Doch ab einem Alter von ungefähr fünf, sechs Jahren haben die Buben den Vorsprung wettgemacht. Als eine weitere Begründung wird die sogenannte Feminisierung der Schulen mit vorwiegend weiblichen Lehrkräften herangezogen. Studien zeigen allerdings, dass weniger die Schulen als die allgemeinen sozialen und kulturellen Umstände die Lesemotivation und damit die Leseleistung beeinflussen. Dasselbe gilt für die Kritik an neuen didaktischen Methoden, die Mädchen angeblich besser liegen als Buben.
Eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Leseleistung sehen Solheim und Lundetræ jedoch im Umstand, dass sowohl im Pirls- wie auch im Pisa-Test Lesehäufigkeit und -motivation eng mit der Leseleistung verbunden wird. Und bei der Motivation hapert es bei den Buben häufiger. «Buben lassen sich schwerer motivieren, um in Lesetests ihr Bestes zu geben. Es ist für sie viel wichtiger als für Mädchen, sich mit dem Inhalt identifizieren oder einen persönlichen Bezug herstellen zu können.» Ist beispielsweise die Hauptfigur des zu interpretierenden Textes ein Mädchen, schneiden Buben deutlich schlechter ab als bei Texten mit männlichen Protagonisten.

Warum Mädchen mit fiktionalen Texten besser umgehen können als Buben, haben die norwegischen Forscherinnen noch nicht untersucht. «Möglicherweise liegt es daran, dass Mädchen generell mehr lesen als Buben. Sie haben auch viel mehr Vorbilder: Frauen lesen mehr Bücher als Männer.»

Aus demselben Grund dürfte es Mädchen auch leichterfallen, an längeren Texten dranzubleiben. An einem körperlichen oder kognitiven Defizit der Buben liege es jedenfalls nicht, sagt Solheim. «Sie haben kein Konzentrationsproblem. Das sieht man an der Ausdauer, die sie in anderen intellektuellen Fächern wie Mathematik beweisen.»

Bedeutet das nun, dass man das Test-Design der Pirls- und der Pisa-Studien ändern sollte? «Nicht unbedingt», sagt Oddny Solheim, «zuerst sollte man untersuchen, ob jene Lesekompetenz, die in diesen Tests gefragt ist, für das spätere Leben wichtig sind oder nicht.» Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob Männer einen Nachteil daraus ziehen: Auf dem Arbeitsmarkt besetzen sie nach wie vor die Mehrheit der Spitzenpositionen.


1 Kommentar:

  1. In der gleichen NZZ heisst es an anderer Stelle: "Die Studie kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die Pisa-Tests von den Schweizer Zuständigen scharf kritisiert werden. Die kantonalen Erziehungsdirektoren bemängeln die neue Erhebungsmethode am Computer. Einmal übersprungene Fragen können nicht mehr beantwortet werden".

    Den "Schweizer Zuständigen" kommt diese Studie gerade gerecht. Sie suchen seit längerer Zeit Gründe, damit sie bei Pisa 2018 nicht mehr mitmachen müssen. Dabei spielen die Resultate dieser Studie keine Rolle beim Ländervergleich, weil ja alle Länder die gleichen Testvoraussetzungen haben. Was die Schweizer Zuständigen und Medien gerne verschleiern, ist die Tatsache, dass sich die Schweiz seit Pisa 2012 in allen Fächern ständig verschlechtert. Warum ist das so? Der IQB-Ländervergleich in Deutschland zeigt, dass diejenigen Bundesländer mit den meisten Reformen auf dem "absteigenden Ast" sind, wie der ehemalige Spitzenreiter Baden-Württemberg mit seiner "Gemeinschaftsschule". In der Schweiz wird seit Jahrzehnten reformiert. Seit 1990 wird in immer mehr Schulstuben der "Wochenplan" mit dem "selbstgesteuerten Lernen" eingeführt. Das "selbstgesteuerte Lernen" ist die "Unterricht"sebene der "Kompetenzorientierung" beim Lehrplan 21 und soll den gemeinsamen Klassenunterricht völlig verdrängen. Die Schweizer Zuständigen befürchten offenbar, dass sich dieser Paradigmawechsel bei Pisa 2018 noch schlimmer auswirken wird und versuchen nun alles, dass "nicht alle Welt sehen" soll, wie das bewährte Schweizer Bildungswesen an die Wand gefahren wird. Ist das bewährte Bildungsporzellan einmal zerschlagen, sinkt die Qualität der Volksschule unwiderruflich auf billiges Plastikniveau

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