4. Februar 2017

Medienpädagogin: Games fristen ein Schattendasein

Kinder lieben Videospiele – zum Ärger vieler Eltern, die sich Sorgen um den Game-Konsum ihrer Sprösslinge machen. Tatsächlich gamen fast 80 Prozent der 12- bis 13-jährigen Primarschüler mindestens einmal pro Woche, ein Viertel sogar jeden Tag. Das zeigt eine Studie der Zürcher Fachhochschule ZHAW aus dem Jahr 2015. Die Spiele hätten zu Unrecht einen schlechten Ruf, sagt Judith Mathez, Medienpädagogin an der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Windisch. Denn mit Videospielen liesse sich eigentlich sehr produktiv lernen. «Dennoch fristen Games in Schweizer Schulen ein Schattendasein.»
Sind Games im Unterricht sinnvoll? Bild: Microsoft
Weshalb Games in die Schule gehören, Luzerner Zeitung, 3.2. von Michael Baumann


Dass Kinder mit Games spielend leicht lernen, belegt eine Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität Vanderbilt in den USA. Sie analysierten insgesamt 57 publizierte Forschungsarbeiten zum Nutzen von Videospielen im Unterricht. Die Daten von fast 7000 unter 16-jährigen Kindern zeigten, dass Gelerntes mit Hilfe von Computerspielen oft besser hängen bleibt als mit traditionellen Unterrichtsmethoden wie etwa Arbeitsblättern. Einige der untersuchten Studien zeigen den Nutzen der Games in Sprachen, andere in naturwissenschaftlichen Fächern.

Motiviert dank Games

Zum Beispiel verbesserten sich die Ergebnisse von amerikanischen Achtklässlern in Algebra deutlich, wenn sie mit einem speziellen Lernspiel üben konnten. Das geht aus einer Studie der Universität Florida aus dem Jahr 2012 hervor. Die Wissenschaftler verglichen darin die Testergebnisse von 437 Kindern, die während 18 Wochen entweder mit oder ohne Computerspiel mathematische Gleichungen büffeln mussten. Neben den besseren Noten gab es einen weiteren auffälligen Unterschied: Während die Motivation der analog lernenden Schüler sank, nahm sie bei den Game-Schülern zu.

Dafür sorgt beispielsweise der Schwierigkeitsgrad, der während des ganzen Spiels stets herausfordernd, aber nicht unrealistisch hoch ist. «Dadurch bleiben die Kinder stundenlang motiviert», sagt Mathez. Das sei im klassischen Unterricht schlicht unmöglich. Zudem gebe es da immer Schüler, die entweder unter- oder überfordert seien – bei den heutigen Klassengrössen von manchmal über 25 Kindern sei das unvermeidbar.

Aus Fehlern lernen

Auch die Art, wie mit Fehlern umgegangen wird, ist in Games fundamental anders als im Klassenzimmer: Der Spieler kann unendlich oft scheitern. Er probiert einfach noch mal, noch mal, noch mal – bis er es schafft. Das ist im herkömmlichen Unterricht anders. Meist gibt es am Ende eines gelernten Themas genau eine Chance, sein Können zu zeigen, und zwar an einer Prüfung – danach ist «game over».

Die Erkenntnisse der Wissenschaft in die Tat umgesetzt hat eine öffentliche Schule in New York. Seit ihrer Gründung im Jahr versucht sie, Kinder durch Spiele zu motivieren. Der gesamte Unterricht der «Quest to Learn» genannten Bildungsstätte ist nach Prinzipien des Game-Designs strukturiert. So sollen die Kinder vor allem mit analogen und digitalen ­Spielen, die häufig extra für den Unterricht entworfen wurden, den Lernstoff selbst entdecken, anstatt ihn an der Wandtafel ­serviert zu bekommen. Sie erhalten häppchenweise Aufgaben, die es zu lösen gilt. Die über 400 Kinder in der sechsten bis zwölften Klasse sollen dadurch zu ­echten Problemlösern werden, anstatt Dinge auswendig zu lernen, so das Credo der Schule. Das scheint zu funktionieren: Die Schüler haben drei Jahre in Folge den städtischen Mathematikwettbewerb gewonnen und schneiden rund 50 Prozent besser in Sprachtests ab als der Durchschnitt der über 300 New Yorker Schulen.
Weshalb also sind Computerspiele bei uns fast gar nicht in Klassenzimmern anzutreffen? Einerseits mangle es an Ressourcen, sagt Medienpädagogin Mathez: «Games brauchen viel Zeit, die in Schulen nicht ohne weiteres zur Verfügung steht.» Zudem können viele Lehrer nichts mit den Games anfangen, weil sie selbst keine spielen. ­Mathez bietet einen Workshop für Lehrer mit ihren Klassen an. Die Kinder dürfen dann in Vorträgen ihre Lieblingsspiele vorstellen. «Für die Lehrer ist das oft ein riesiges Aha-Erlebnis», sagt Mathez. Plötzlich sind die Schüler hoch motiviert, bereiten sich vor und treten selbstsicher auf.

Erfahren, was Schüler beschäftigt

Zumindest in einzelnen Schweizer Klassenzimmer haben Computerspiele schon Einzug gehalten, zum Beispiel beim Oberstufenlehrer Pirmin Stadler in der Gemeinde Gurtnellen im Kanton Uri. Er spielt mit seinen Schülern ab und zu das populäre Game «Minecraft», bei dem ähnlich wie mit Lego beliebige Dinge aus Klötzchen gebaut werden können. Die Schüler sollen etwa während 20 Minuten zu zweit einen Wochenrückblick im Spiel gestalten. Dazu müssen sie sich absprechen und planen. «Das zeigt mir manchmal besser als ein Test, was die Kinder an einem Thema wirklich verstanden haben», sagt Stadler.
Dass die Kinder dank Games besser lernen können, ist für ihn aber nicht das Wichtigste. «Plötzlich erfahre ich etwas über die Lebenswelt der Kinder», sagt Stadler. Das gebe ihm einen anderen Zugang zu seinen Schülern. Wenn diese auch in der Schule Games spielen können, seien sie zum Beispiel eher bereit, über ihren Medienkonsum zu Hause oder über negative Erlebnisse zu sprechen, etwa Belästigungen durch andere Spieler im Internet. «Games sind Teil der Jugendkultur», sagt Stadler. «Daher gehö­ren sie für mich auch ins Klassenzimmer.»


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