12. Februar 2017

Geschichtsunterricht braucht Zeit

Wann entdeckte Kolumbus Amerika? 1492. Das weiss jedes Kind, man lernt es schliesslich in der Schule. Und wann verübten serbische Schergen den Völkermord in Srebrenica? 1995. Das wissen die wenigsten Sekundarschüler. Im Unterschied zu den Abenteuern des genuesischen Seefahrers in kastilischen Diensten gehört das Massaker an den muslimischen Bosniern im ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz nicht zum obligatorischen Schulstoff.
Kurt Hofer in einem historischen Schulzimmer des Schulmuseums Bern, Bild: Tomas Wüthrich
Kolumbus ja - Holocaust nein, NZZaS, 12.2. von Lucienne Vaudan und René Donzé


Manche Klassen thematisieren nicht einmal den Holocaust. Zu brutal und traumatisierend könnte das für die Schüler sein, sagt eine Zürcher Lehrerin. Dabei hiess es doch nach 1945: «Nie wieder!» Die Nazidiktatur und ihre Millionen Opfer sollten niemals in Vergessenheit geraten, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Doch Nationalismus und Fremdenhass sind mittlerweile wieder salonfähig geworden. Die Erinnerungen an die beiden Weltkriege und an die autoritären Regime in Europa sind offenbar verblasst.

Tatsächlich ist der Wissensstand der Jungen in Sachen Geschichte zum Teil prekär. «Ich bin schon froh, wenn alle Studenten wissen, dass die Reformation vor der Französischen Revolution stattgefunden hat», sagt Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Der Zürcher SP-Kantonsrat und Gymnasiallehrer Markus Späth stellt fest: «Die Lernziele für die Sekundarschule sind derart vage, dass jeder Lehrer seine eigenen Schwerpunkte setzen kann und muss.» Das führe im Fach Geschichte zu Schwierigkeiten beim Wechsel der Schüler von der Sek ans Gymi. Besonders problematisch sei das geringe Wissen über die jüngere Geschichte, sagt Professor Hirschi: «Geschichte kann nur eine gesellschaftlich relevante Rolle spielen, wenn sie ein besseres Verständnis unserer Gegenwart ermöglicht.»

Was läuft falsch? Ein Besuch im Zürcher Schulhaus Neumünster bei der dritten Sekundarklasse von Lehrerin Isabella Caballero. Die 23 Schülerinnen und Schüler diskutieren gerade über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Für den Zweiten Weltkrieg und die Ereignisse danach bleiben gerade noch fünf Monate. Selbstverständlich werde sie auch den Holocaust behandeln, sagt Caballero. Falls ein Schüler die Bilder als zu heftig empfinde, dürfe er das Klassenzimmer verlassen. Das hat sie in sechs Jahren einmal erlebt. Sie hofft, mit ihrer Klasse bis Ende Schulzeit noch zum Fall der Berliner Mauer 1989 zu kommen. Ein ehrgeiziges Ziel. Der Vietnamkrieg, Srebrenica und die Terroranschläge von New York sind definitiv nicht mehr drin.

Das Dilemma mit der Vermittlung der Geschichte an unsere Jungen lässt sich grob gesagt in drei Aspekte gliedern: zu wenig Zeit, zu viel Stoff – und Grabenkämpfe zwischen Faktenfetischisten und Kompetenzgurus.

Im Vordergrund der jüngsten Klagen von Historikern und Geschichtslehrern steht der Abbau der Zeit für den Unterricht. Spätestens mit dem neuen Lehrplan 21, der nun in den Deutschschweizer Kantonen eingeführt wird, verschwindet die Geschichte definitiv aus den Stundentafeln und geht in der Oberstufe im neuen Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» auf. Geschichtsdidaktiker befürchten, dass der Geschichtsunterricht dadurch marginalisiert werde – auch deshalb, weil man durch die Zusammenfassung von Geografie und Geschichte den beiden Fächern keine fixen Stunden mehr zusichere. Das stimmt zwar, es ist aber keine neue Erfindung der Lehrplanmacher. Der Trend zu übergreifenden Fachbereichen hat schon viel früher eingesetzt. Bereits vor zehn Jahren haben nur noch 6 der 21 Deutschschweizer Kantone in den Stundentafeln Geschichte und Geografie separat aufgeführt.

Schleichender Abbau
Historisch betrachtet verliert das Fach schleichend, aber nicht dramatisch an Platz. Das zeigt eine Nationalfondsstudie, die im Frühling publiziert wird. Karin Manz hat dafür am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich die Entwicklung des Bereichs Realien seit 1830 erforscht. «Der Anteil der Realien an der gesamten Unterrichtszeit ist über die untersuchte Zeitdauer leicht rückläufig», sagt die ehemalige Sekundarschullehrerin. Unter Realien zusammengefasst sind Geschichte, Geografie, Naturkunde, Lebenskunde, Staatskunde, Berufskunde. Im Kanton Zürich beanspruchte dieser Bereich 1960 in der Oberstufe gut 19 Prozent der Unterrichtszeit, 2010 lag der Anteil bei 16 Prozent.

Im Lehrplan 21 wird wiederum mit einer leichten Reduktion der Lektionenzahl gerechnet. Manz versteht die Kritik der Geschichtsdidaktiker als Ausdruck eines Verteilkampfes innerhalb dieses Konglomerats. «Es ist die Angst, von anderen Themen an die Wand gedrängt zu werden.» Tatsächlich steht die Geschichte als Teil eines Fachbereichs schon länger unter Druck. Je nach Schulhaus erscheint Geschichte zwar noch separat auf den Stundenplänen, anderenorts ist sie bereits verschwunden.

Christian Thörig unterrichtet eine erste Sekundarklasse im Zürcher Schulhaus Döltschi. Geschichte fällt bei ihm unter das Fach «Mensch und Umwelt», für das wöchentlich sechs Lektionen reserviert sind. Neben Geschichte muss der Lehrer in diese sechs Lektionen auch Geografie, Physik, Chemie, Biologie und Berufskunde packen. «Zusätzlich dazu rechne ich Zeit für aktuelle Fragen ein, wie vor kurzem die Wahlen in den USA», sagt Thörig. «Mit diesen sechs Lektionen kommt man nirgends hin, man muss sich wirklich einschränken.» Natürlich würde er mit den Schülern auch gerne über den Nahostkonflikt oder die jüngere Balkangeschichte sprechen, damit sie aktuelle Meldungen in den Medien besser verstehen. Dennoch fände er es wenig sinnvoll, in der ersten Sek schon mit dem 20. Jahrhundert in die Geschichte einzusteigen. 13-Jährige könne man mit den Entdeckungen der Seefahrer noch begeistern. Beginne man gleich mit der jüngsten Geschichte, gebe man die Trümpfe aus der Hand, mit denen man das Interesse der 15-jährigen Schüler in der dritten Sek wecken könne.

1600 Seiten Schulstoff
Das Problem der Lehrerschaft liegt neben dem Zeitmangel in der schieren Fülle an Stoff, aus dem sie auswählen können. Allein das heute im Kanton Zürich verwendete Standard-Lehrmittel «Durch Geschichte zur Gegenwart» für die Sekundarstufe umfasst vier Bände zu je fast 400 Seiten. Viele Oberstufen überspringen den ersten Band von der Zeit der Entdeckungen bis zur Französischen Revolution und beginnen mit der Industrialisierung und dem Imperialismus im 19. Jahrhundert. Band vier reicht zwar bis in die jüngste Vergangenheit mit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Irakkrieg, doch so weit schaffen es die wenigsten. Spätestens beim Zweiten Weltkrieg kommen viele in Zeitnot.

Genauso umfangreich wie die Materialien sind auch die Anforderungen, die an den Geschichtsunterricht gestellt werden. Und sie wachsen weiter. Im Lehrplan 21 lautet ein einziges Kompetenzziel: «Die Schüler können darlegen, warum das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet wird.» Als zwingende Themen werden aufgelistet: «Weltkriege, Faschismus, Kommunismus, Holocaust, Kalter Krieg, Unabhängigkeitsbewegung, Globalisierung, Bürgerkrieg, Terrorismus». Gymilehrer Markus Späth schüttelt den Kopf: «Alleine dafür brauche ich mit einer Gymiklasse eineinhalb Schuljahre.» Und das ist nur eine von 44 Kompetenzstufen zur Geschichte an der Oberstufe. Die Wunschliste der Lehrplanmacher können die Lehrer in den drei Sekundarschuljahren also nie und nimmer erfüllen.

Das war früher anders, sagt Forscherin Karin Manz. «Bis etwa 1970 gab es einen ziemlich stabilen Geschichtskanon, der von der politischen Schweizer Geschichte dominiert war», sagt sie. Damit wurde nicht nur Wissen gelehrt, vielmehr ging es auch um die Vermittlung von Werten und Einstellungen. So paukten etwa die Lehrer im Kanton Schwyz noch bis in die siebziger Jahren mit ihren Schülern als Geschichtslehrmittel ein Lesebuch durch. Jeder Bub und jedes Mädchen sollte damit einen identischen Blick auf die Vergangenheit erhalten. Das Fach Geschichte war lange in erster Linie ein Gesinnungsfach. Dorthin will kaum ein Historiker zurück. Solche Forderungen kommen höchstens vonseiten jener, die bemängeln, dass nicht mehr alle Schüler sämtliche Schlachten der Eidgenossen auswendig aufzählen können. Die Kritik dieser Faktenfetischisten am Zerfall des Wissens der jungen Schweizer wird oft verwechselt mit der Kritik der Experten am Bedeutungsverlust des Fachs Geschichte.

Dabei geht die neue Geschichtsdidaktik längst nicht mehr davon aus, dass die ganze Stofffülle in der Schule behandelt werden muss. «Es braucht kein komplettes Bild von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Solche Ideen sind unsinnig», sagt Béatrice Ziegler, Präsidentin der Deutschschweizer Gesellschaft für Geschichtsdidaktik. Natürlich brauche es ein gewisses Basiswissen, und natürlich brauche es Fakten und Informationen, um ein Thema zu verorten. Im Mittelpunkt des modernen Geschichtsunterrichts stehe aber das historische Denken. Zum Beispiel könne ein Lehrer mit seinen Schülern einen Mittelaltermarkt besuchen und dann mit ihnen diskutieren, wie viel dieser wirklich mit dem Mittelalter gemein habe. «Wir wollen die Schülerinnen und Schüler zu mündigen Menschen im Umgang mit Geschichte machen», sagt Ziegler.

Die Jungen müssten lernen, wie Geschichte gemacht werde und welche Werte und Interessen mit dem Erzählen von Geschichte verbunden seien. Das sei wichtig im Umgang mit Populismus – und viel wirksamer als reines Faktenwissen. «Aber dafür braucht es Zeit», sagt Ziegler. Und diese fehle eben zusehends.


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