19. Februar 2017

Defizite von Passepartout-Klassen

«Die Schülerinnen und Schüler lernen Sprachen anhand von interessanten Sachtexten und nicht von künstlich konstruierten Standardsätzen und Dialogen. Im Vordergrund steht das Handeln und Kommunizieren: Die Schülerinnen und Schüler lernen so Wortschatz und Grammatik nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit spannenden Inhalten und Aktivitäten.»
"Moderner" Sprachunterricht gemäss Passepartout: Kinder am Computer übersetzen Texte, Bild: Adrian Streun
Führt "Passepartout" in eine Sackgasse? Bieler Tagblatt, 18.2. von Lotti Teuscher

Das ist ein Auszug aus der Beschreibung des Projekts Passepartout, in das auch Frühfranzösisch ab der dritten Klasse integriert ist. Eine, die diese Form des Unterrichts kritisiert, ist die Zürcher Linguistin Simone Pfenninger. Die neue Lehrmethode könne nur funktionieren, wenn die Fremdsprache etwa acht Lektionen pro Woche gelernt werde, ergänzt durch Immersionsunterricht: Gewisse Fächer werden in der Fremdsprache unterrichtet.

Im Projekt Passepartout ist indes beides nicht vorgesehen. Während der 3. und 4. Klasse werden pro Woche drei Lektionen Französisch unterrichtet, in der 5. und 6. zwei, danach wieder drei. Kurz: Die Anzahl Lektionen im Französischunterricht bleibt gleich, sie wird lediglich auf zwei Jahre mehr verteilt.

Ein «Sprachbad» statt eines «Sprachbädeli» wäre denn auch Erwin Sommer lieber gewesen, Vorsteher des Amts für Kindergarten und Volksschule an der kantonalen Erziehungsdirektion: «Aber dazu fehlen uns die Mittel.»

Ziel nicht erreicht
Passepartout hat im Jahr 2011 sechs Kantone gestartet, unter ihnen auch Bern – mit einem ambitionierten Ziel: Die Kantone wollten den Fremdsprachenunterricht an der Volksschule von Grund auf erneuern.

Dies scheint gelungen – wenn auch nicht im positiven Sinn: Jugendliche, die ins Gymnasium wechseln möchten, werden diesen Frühling zum ersten Mal in der Geschichte keine Grammatik-Französischprüfung absolvieren. Denn was sie nicht gelernt haben, kann auch nicht geprüft werden. Einer, der Passepartout von Beginn weg bekämpft hat, ist der ehemalige Bieler Stadtrat und Orpunder Oberstufenlehrer Alain Pichard: Im Oberstufenlehrmittel «Clin d’oeil» für Primar- und Sekundarschüler sei zwar ein wenig Grammatik enthalten. Doch, so Pichard: «Die Oberstufenschüler sollen sich die Grammatik selber erarbeiten. Dies, weil angenommen wird, dass Kinder dies können, wenn sie schwierige Texte übersetzen.»

Texte notabene, die laut Pichard so schwierig seien, dass auch Lehrer sie manchmal kaum übersetzen könnten: Es sind wissenschaftliche Texte oder solche, die in einer Tageszeitung stehen. Die Schüler sollen diese Texte mittels Computer übersetzen und sich dadurch die Grammatik selber erarbeiten. «Dies führt dazu, dass viele Schüler nicht einmal wissen, was ein Verb oder ein Nomen ist», sagt Pichard.

Ergänzungen vorgenommen
Dem widerspricht Erwin Sommer: Nachdem zahlreiche Lehrer protestiert hatten, sei das Lehrmittel nachgebessert worden: «Bemerken die Kritiker denn nicht, dass wir Änderungen vorgenommen haben?» Ergänzt wurde «Clin d’oeil» etwa durch Arbeitsblätter zu verschiedenen Grammatikthemen, durch eine Verbenliste oder eine Zusammenstellung zum Alltagswortschatz mit einer Übungssoftware.

Lehrer Pichard lässt dies nicht gelten. Für ihn sind die Nachbesserungen lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein: «Der Versuch der Autoren, in der Minigrammaire doch noch einen systematischen Konjugationsaufbau nachzuliefern, überzeugt nicht.» Dass die Passepartout-Promotoren den Schülern zumuten würden, komplizierte authentische Texte ohne solide Kenntnisse in der französischen Konjugation zu entschlüsseln, sei ein Widerspruch in sich selbst: «Wie sollen Schüler einen Text verstehen, wenn sie den Infinitiv einer Verbform wie zum Beispiel falloir von faudrait nicht einmal erahnen können?»

Gymnasiasten bevorzugt
Der eigentliche Skandal ist gemäss Pichard, dass Gymnasiasten die fehlenden Grammatikkenntnisse nachholen könnten – Primar- und Sekundarschüler hingegen nicht: «Damit wird die Spaltung zwischen Gymnasium sowie Primar- und Sekundarschule weiter vorangetrieben.»

Erwin Sommer von der kantonalen Erziehungsdirektion setzt die Akzente anders als Pichard – bei der Freude der Kinder an der neuen Sprache und ihrer Motivation, die durch Passepartout gefördert werde: «Am wichtigsten ist, dass die Kinder gern Französisch reden.» Sommer spricht von begeisterten Rückmeldungen bezüglich der Ausdrucksfähigkeit der Kinder.

Austausch mit Tavannes
Zudem unterstützt die Erziehungsdirektion den Sprachaustausch mit welschen Schulen mit Geld und Tipps. Kürzlich haben Primarschulen aus Safnern und Orpund Briefe ausgetauscht mit Schülern aus Tavannes. Danach waren die Seeländer Kinder einen Tag lang in Tavannes, haben Unterricht in der Gastgebersprache erhalten und an einer Dorfführung teilgenommen.


Alain Pichard erzählt seinerseits eine Anekdote: Der Vater eines Schülers fragte in einer Buchhandlung nach einem Lehrmittel, um seinem Kind französische Grammatik beizubringen. Der Buchhändler sagt: «Aha, Sie sind also auch ein Passepartout-Opfer? Natürlich haben wir ein Lehrmittel, denn danach werden wir häufig gefragt.» Wer von den beiden Kontrahenten am Ende richtig liegt, werden Evaluationen zeigen, die dieses Jahr, 2018 und 2020 stattfinden.

2 Kommentare:

  1. Zu Erwin Sommer: Die Tatsache, dass Französisch nicht während acht Stunden pro Woche unterrichtet werden kann, hat nichts mit fehlenden Mitteln zu tun. Grund dafür ist die Stundentafel, die dafür keinen Platz hat - nicht zuletzt, weil ja zwei Primarfremdsprachen unterrichtet werden.

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  2. Zu Erwin Sommer, Nr. 2: Die Freude und Motivation dürften relativ schnell schmelzen, wenn die Kinder nach vier Jahren immer noch nicht wissen, wie ein Verb konjugiert wird und folglich kaum einen Satz bilden können. Wie gross die Freude dann bei den abnehmenden Lehrkräften der Sekundarschule und der Gymnasien ist, können wir erahnen. Also: Toll gemacht, Herr Sommer! Es herrscht offiziell Friede, Freude, Eierkuchen im Kanton Bern.

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