Hans Peter Klein ist ein Kritiker der Kompetenzorientierung. Im Interview mit dem deutschen UniReport schildert er seine Einschätzungen und blickt bezüglich der Entwicklung des Fachwissens pessimistisch in die Zukunft.
Verkümmert das selbständige Denken? UniReport, 3.2.
UniReport: Herr Prof. Klein, ab 2017 wird es
in den Fächern Mathematik und mit Einschränkung in Deutsch, Englisch und Französisch
eine Art von Zentralabitur geben – ist doch eigentlich eine gute Nachricht,
endlich werden die Abiturleistungen in den Bundesländern vergleichbar(er).
Hans
Peter Klein: Das Ganze ist nichts anderes als ein großer Bluff. Zwei Drittel
der Gesamtabiturnote entstammt den beiden letzten Jahren der
Qualifikationsphase und nur ein Drittel aus den Abiturprüfungen selbst. Die
schriftlichen Zentralabiturprüfungen machen davon wieder nur einen gewissen
Teil aus, da ja zusätzlich im Abitur noch Prüfungen in einem oder zwei
mündlichen Fächern zu absolvieren sind. In einem Testvorlauf von 2013 bis 2016
hatten sich sechs Bundesländer bereit erklärt, jeweils eine gemeinsame
Teilaufgabe von vielen weiteren Teilaufgaben in den oben genannten Fächern
(außer Französisch) ihren Schülern vorzulegen. Im Institut zur
Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde ein Aufgabenpool entwickelt,
in den die einzelnen Bundesländer ihre Vorschläge einreichen konnten, die dann
von einem Expertenteam begutachtet, bearbeitet oder modifiziert wurden. Jedes
Bundesland kann sich 2017 je nach seinem Gusto aus diesem Aufgabenpool
bedienen, auch an seinen eigenen modifizierten Vorschlägen. Bezüglich der
prozentualen Gewichtung muss man berücksichtigen, dass die Schüler drei
verschiedene Aufgabenfelder abdecken müssen und geschätzte 80% der möglichen Fächer
derzeit gar nicht im Aufgabenpool enthalten sind. Der Anteil an der Gesamtabiturnote
liegt nach unseren Berechnungen irgendwo zwischen 1% und 2%. Ein angefragtes
Ministerium bestätigte diese Einschätzung, der Anteil sei rudimentär. Es ginge
vielmehr um die normierende Wirkung der Pool-Aufgaben auf die einzelnen
Bundesländer und den Unterricht selbst. Das betrachte ich als den Supergau
schlechthin, denn jetzt werden Länder wie Mecklenburg-Vorpommern, die nach
unseren Analysen noch fachlich anspruchsvolle Zentralabituraufgaben mit vom
Schüler einzubringendem Fachwissen eingesetzt hatten, dazu gezwungen, das mehr
als fragwürdige PISA-Lesekompetenzkonzept der Psychometriker zu übernehmen, das
damit normativ in Kürze auch in den Unterricht einziehen wird, ob die Lehrer es
nun wollen oder nicht.
Sie beleuchten kritisch den Kompetenzbegriff,
sehen darin die Gefahr, dass die Fachinhalte den Status der Beliebigkeit
bekommen und das selbständige Denken verkümmert.
Selbstständiges
Denken war gestern, heute ist die Abarbeitung vorverdauter Information das Ziel
der neuen Homogenisierungsoffensive. Wir haben Zentralabiturarbeiten
analysiert, in denen anscheinend in den Ministerien nicht einmal mehr die
Kompetenz besteht, die fachliche Korrektheit der Aufgabenstellung zu
gewährleisten. Im Rahmen der Kompetenzorientierung spielt dies aber auch keine
Rolle mehr, da die Sache an sich nur noch die Bedeutung eines Vehikels
zugewiesen bekommt, an dem vermeintliche Schlüsselkompetenzen erworben werden
sollen. Bei der Aufgabe zur Pazifischen Auster in Hamburg von 2015 erhält der
Schüler in den Informationsmaterialien viele falsche Sachvorgaben. Es ist aber
völlig egal, ob die Pazifische Auster nun die Miesmuschel verdrängt hat oder
auch nicht, ob sie stabile Populationen in der Nordsee aufgebaut hat oder auch
nicht, ob die Schnecke Austerndrill aus dem asiatischen Raum zu deren
Bekämpfung eingesetzt werden könnte oder auch nicht uvm. (für Nicht-Biologen:
die Schnecke Austerndrill gibt es gar nicht und all das ist selbstverständlich
grober Unfug!). Es kommt eben nur auf die kompetenzorientierte Lösung an. Waren
früher Fachliteraturen die Grundlage für die Erstellung derartiger
Zentralabituraufgaben, sind es heute zunehmend teils dubiose Internetquellen,
teilweise von Reiseberichten von Urlaubern, die heute über ihren Aufenthalt in
einem Nationalpark in den USA berichten und morgen den Maledivenaufenthalt mit
ihrer Frau zum Besten geben. Alltagsorientierung heißt das dazugehörige
Konzept.
Dabei wird doch mit Kompetenz auch die
Fähigkeit bezeichnet, Probleme eigenständig zu lösen. Wie konnte es denn Ihrer
Meinung nach zu einer Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kommen?
Die
Verabsolutierung der Problemlösungskompetenz im PISA-Konzept ist die Ursache
der Nivellierung insbesondere der fachlichen Ansprüche. Die Sache selbst hat
keinen Wert mehr in sich selbst, sondern nur noch insoweit, wie wir mit ihr
Probleme lösen können. Dabei ist ja gerade die Sache und die intensive
Beschäftigung und das Bohren dicker Bretter auf der Suche nach der Wahrheit
eine der charakteristischen Merkmale einer Universität. Bildung, Wissen und
Erziehung waren gestern. Heute gilt es, ein weltweit homogenes Humankapital zu
generieren, dass ubiquitär einsetzbar ist und das auf keinen Fall die
inakzeptablen Fragen „Wieso? Weshalb? Warum?“ aus der Sesamstraße stellen darf.
„Bürger mit gefühltem Wissen sind leichter mit Worten manipulierbar“, so der
Kommentar des Genetikers Wolfgang Nellen aus Kassel zu dieser Entwicklung.
Wenn doch im Bildungssystem ein Prinzip wie
„Outcomeorientierung“ die frühere „Inputorientierung“ ersetzt hat und
wesentlich mehr ge- und vermessen wird, dann sollte man doch eigentlich denken,
dass die wirklichen Lernerfolge (bzw. -misserfolge) heute viel besser zutage
treten.
Die
Output- oder Outcomeorientierung entstammt, wie alle derzeitigen
„(Un-)Bildungskonzepte“, dem Sprachvokabular der Ökonomisierer des
Bildungswesens, die glauben, alle Gedankengänge von Menschen bis in den letzten
Gehirnwinkel mit einfachsten Fragen im Multiple-Choice-Format nachweisen und in
Kompetenzstufen ausweisen zu können. Wahrlich ein vermessenes Unterfangen, das
in Band1 unseres Forschungsmagazins „Forschung Frankfurt“ aus dem Jahre 2015
unter dem Titel „Vom Messen und Vermessen“ von Kollegen mehrerer Fachbereiche
zu recht massiv kritisiert wurde. Gerade die Outcomeorientierung ist die
Hauptursache des derzeitigen Bildungsverfalls. In den letzten Jahren ist es im
gesamten Bildungssektor seit PISA und Bologna zu einer teilweise exponentiellen
Vermehrung aller Abschlüsse mit zunehmend Bestnoten in nahezu allen Bereichen
nicht nur an den Schulen gekommen und damit gleichzeitig auch zu ihrer
Entwertung: Abiturienten, Hochschulabsolventen, Bachelorarbeiten,
Masterarbeiten, Dissertationen, Publikationen uvm. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Darüber wird mein zweites Buch meiner Bildungstrilogie unter dem Titel „Für
eine Handvoll Euro...“ berichten, das Ende 2017 erscheinen dürfte.
In Ihrem Buch „Vom Streifenhörnchen zum
Nadelstreifen“ greifen Sie zahlreiche Abituraufgaben im Fach Biologie auf, für
deren Beantwortung nicht viel mehr nötig zu sein scheint, als die
Fragenbeschreibung zu paraphrasieren. Sind leichte Fragen wie die zum
Zusammenhang der Streifenhörnchen-Population und dem Vorkommen von Zecken und
Eicheln Extremfälle? Oder kann man Ihrer Ansicht nach insgesamt von einem
Niveauverlust sprechen?
Meine Anfrage
an alle Kultusministerien nach der Überlassung ihrer Zentralabiturarbeiten und
den Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonten, zu wissenschaftlichen
Zwecken kennzeichnet die Situation am besten und hat in der KMK eine hektische
Betriebsamkeit ausgelöst. Trotz Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz
sind nur sieben Bundesländer dieser Bitte bis heute nachgekommen. Man kennt
anscheinend seine Aufgaben sehr genau. Wir haben mittlerweile fast achtzig
Zentralabituraufgaben im Fach Biologie in fünf verschiedenen Ländern auf ihr
fachliches Niveau hin untersucht. Die Streifenhörnchenaufgabe stellt keine
Ausnahme, sondern eher den Regelfall dar, da ja gerade die Ökologie zu über 80%
nicht nur im Zentralabitur in NRW von den Schülern gewählt wird und dort neben
der Evolution den Status eines Laberfachs hat, an dem niemand scheitern kann,
der der deutschen Sprache mächtig ist, und an dem sehr gute Schüler auch der
Chance beraubt werden, sich auszeichnen zu können. Nahezu alle zu bearbeitenden
Informationen werden auf bis zu sechs Seiten Informationsmaterial den Schülern
zur Verfügung gestellt. Viele an den Abituranalysen in Mathematik beteiligte
Fachmathematiker und sich im Fach auskennende Fachdidaktiker sprechen bei den
kompetenzmodellierten Aufgabenstellungen offen vom Mummenschanz und fordern ein
Vermummungsverbot für Mathematikaufgaben, da es derartige Aufgabenformate an
den Hochschulen nicht gibt, in denen es vor allem darauf ankommt,
verschwurbelte Texte mit teilweise abstrusen Anwendungskontexten in die Sprache
der grafikfähigen Taschenrechner umzusetzen.
Die PISA-Studie 2015 wurde kürzlich
veröffentlicht. Wie bewerten Sie das Abschneiden der deutschen Schülerinnen und
Schüler? Lässt sich denn etwas Positives konstatieren, oder haben die
Ergebnisse aus Ihrer Sicht keine Relevanz?
Ich
kann keine Studie ernst nehmen, die nicht einmal ihre Testinstrumente, also die
Fragen selbst, offenlegt. Und was sich in der Studie hinter den Zahlen 498, 512
oder 524 genau verbirgt, weiß niemand außer den Testern. Studien, die über 70 %
teilweise sachlich fragwürdiger Multiple-Choice-Aufgaben verwenden und beim
Ankreuzen der richtigen Antwort dann dem Schüler in ihrer Kompetenzbeschreibung
zuweisen, er habe beispielsweise bei der Aufgabe zum Schaf Dolly von 2003 den
Prozess des Klonens verstanden, betrachte ich als Realsatire. Das Verstehen
einer Sache ist nicht mit MultipleChoice-Fragen zu erreichen, dass sollten auch
Psychometriker zur Kenntnis nehmen. Man darf auch nicht vergessen, dass PISA
der entscheidende Hebel war, das der OECD und der allgegenwärtigen Bertelsmann
Stiftung verhasste „noneconomic-principle“ des deutschen Bildungssystems
komplett aus den Angeln zu heben und gleichzeitig der Privatisierung für
weltweit agierende „Bildungskonzerne“ zu öffnen. PISA ist nichts anderes als ein
Verkaufsprodukt fünf internationaler Testkonzerne, ETS und WESTAT aus den USA,
ACER aus Australien, CITO aus den Niederlanden und NIER aus Japan, neuerdings
auch PEARSON. PISA ist nur ein kleiner Fisch im Portfolio dieser Big Player im
Bildungsmonitoring. Deutschland hatte bis zum Jahre 2000 überhaupt keine
Testindustrie und das war auch gut so. Die empirische Bildungsforschung hat
sich seit den TIMS-Studien der 90er Jahre an diesen Zug angehängt und erstellt
seitdem die Studien, entwickelt die neuen Konzepte, evaluiert diese und ist
fast zum ausschließlichen Berater der Bildungspolitik aufgestiegen, die sich in
deren babylonische Gefangenschaft freiwillig begeben hat. Alles in einer Hand!
Chapeau. Das haben andere verschlafen. Das derzeitige Problem ist aber, dass
ihnen fast niemand mehr die versprochenen Qualitätssteigerungen glaubt, sondern
ganz im Gegenteil die Nivellierung der Ansprüche, die Entwertung der Abschlüsse
bei gleichzeitiger Ausweisung von immer mehr Bestnoten fast jeden Tag in der
Presse zu Recht beklagt werden.
Welche Auswirkungen sehen Sie für die
Hochschulen? Wird aus dem Lehrenden dort langfristig auch ein „Lernbegleiter“,
der anstelle der fachlichen Wissensvermittlung nur noch Selbstlernprozesse
moderiert?
Die Politiker
scheinen insbesondere die Universitäten zu Volkshochschulen umgestalten zu
wollen, mit Zugang für alle Willigen. Man schaue sich nur das von der KMK und
HRK in Auftrag gegebene Gutachten zur Einführung der Kompetenzorientierung in
die Hochschulen an, dann glaubt man, einer Fata Morgana erlegen zu sein. Auf
den ersten einhundert Seiten kommt mehr als eintausendmal der Begriff der
Kompetenz in den beliebigsten Zusammenhängen vor, der längst zu einem
Containerbegriff verkommen ist, in den jeder das reinsteckt, was er für richtig
hält. Das Gutachten gipfelt mit der Forderung, dass man sich im Rahmen der
Kompetenzorientierung selbstverständlich von der umfassenden Vermittlung von
grundlegenden Wissensbeständen auch an den Hochschulen verabschieden müsse, auch
an den Universitäten! Zudem müsse nach reformpädagogischem Credo auch der
Hochschullehrer zum Lernbegleiter werden und die Studierenden könnten sich
kompetenzorientierte Prüfungsformate selbst wählen, beispielsweise eine
Präsentation anstelle einer Klausur oder mündlichen Prüfung. Nicht nur John
Hattie hat diese Art der Lernbegleitung als völlig kontraproduktiv für
erfolgreiches Lernen ausgewiesen. Wer Hattie
nicht mag, sollte eine zusammenfassende Studie von Kirschner et al. zu Rate
ziehen: „Why minimal guidance during instruction does not work: An Analysis of
the failure of contructivist, discovery, problem-based, experiential, and
inquiry based teaching.” Sollte
dieser grobe Unfug tatsächlich in den Universitäten umgesetzt werden, kann man
in wenigen Jahren sagen, der Letzte knipse bitte das Licht aus.
Fragen:
Dirk Frank
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