26. Januar 2017

Nervosität im Aargau

Keine Initiative gegen den Lehrplan 21 ging bisher so weit wie jene im Aargau. Doch die Abstimmung im Februar ist erst der Anfang: Die Gegner des Reformprojekts formieren sich neu.

Der neue Kampf der Lehrplan-Gegner, Tages Anzeiger, 25.1. von Raphaela Birrer

Die Rede ist von «Erpressung», «Lügnern» und «Experimenten mit Kindern»: Es ist ein gehässiger Kampf, der zurzeit im Aargau ausgetragen wird. Der Kanton stimmt am 12. Februar über eine Initiative gegen den Lehrplan 21 ab – und die politischen Kontrahenten schenken sich nichts. Denn es geht um viel: So soll zum Beispiel ein fixer Fächerkatalog ins Gesetz geschrieben werden. Dieser schliesst in der Primarschule eine zweite Fremdsprache sowie Technik, Medien oder Informatik aus – Bereiche also, die mit dem Lehrplan 21 Einzug in die Schulzimmer halten. Zudem soll es einen Rahmenlehrplan für den Kindergarten und Jahresziele für die Schule geben. Beides widerspricht dem klassenübergreifenden Zyklen-­Modell im Lehrplan 21.

Damit geht die Aargauer Initiative deutlich weiter als die Volksbegehren, die letztes Jahr in anderen Kantonen an die Urne kamen. Bisher wollten die Gegner die Kompetenz über den Lehrplan meist vom Regierungsrat zum Parlament verschieben, um die politische Kontrolle über das Reformprojekt zu erhöhen. Doch davon wollte das Volk nirgends etwas wissen: weder im Thurgau (75 Prozent Nein-Stimmen-Anteil) noch in Schaffhausen (69 Prozent), Appenzell Innerrhoden (Landsgemeinde) oder Baselland (53 Prozent). In St. Gallen wurde zudem eine Initiative zum Ausstieg aus dem Harmos-Konkordat mit 70 Prozent Nein-Stimmen deutlich abgelehnt; das Fernziel der Urheber war die Verhinderung des Lehrplans 21.

Der Unterschied
Obwohl die Lehrplangegner bislang überall gescheitert sind, ist die Nervosität im Aargau gross: «Durch die Hintertür soll in der Primarschule die zweite Fremdsprache abgeschafft werden», sagt Thomas Leitch, SP-Grossrat und Co-Präsident des gegnerischen Komitees. Ein Alleingang seines Kantons hätte Probleme für die Lehrerausbildung an der gemeinsamen Fachhochschule der Nordwestschweiz zur Folge, gibt der Sekundarlehrer zu bedenken. «Doch die Initianten verbreiten Unwahrheiten und versuchen, die Bevölkerung gegen die Behörden aufzubringen. Ein Ja ist darum möglich», so Leitch.

Die Erfolgschancen beurteilt Elfy Roca vom Initiativkomitee gleich: «Wir sind sehr optimistisch. Es ist uns trotz massiver Behördenpropaganda gelungen, eine Debatte über die Grundlagen der Volksschule zu lancieren.» Bestrebungen zur Abschaffung der zweiten Fremdsprache gebe es auch in anderen Kantonen, und in die gemeinsame Lehrerausbildung in der Region komme wegen verschiedener Initiativprojekte ohnehin Bewegung, sagt die Primarlehrerin und Heilpädagogin.

Tatsächlich wird sich das Volk in der Nordwestschweiz demnächst mehrfach zum Lehrplan 21 äussern können; in Solothurn bereits am 21. Mai. Dabei unterscheiden sich die anstehenden Initiativen in diesen Kantonen von jenen in den Ostschweiz – und könnten darum zum Gradmesser für das weitere Vorgehen der Lehrplangegner in der ganzen Deutschschweiz werden.

Die Strategie: Das Volk soll nicht nur über die politische Zuständigkeit für den Lehrplan entscheiden, sondern über dessen konkrete Eckwerte. Im Aargau sollen dazu genaue Vorgaben im Gesetz definiert werden. Und in Solothurn sollen zum Beispiel Sammelfächer wie «Räume, Zeiten und Gesellschaften» nicht mehr möglich sein. Dabei orientieren sich die Solothurner Initianten an einer bereits erfolgreichen Volksinitiative aus dem Kanton Baselland. Dort ist der Widerstand gegen die jüngsten Bildungsreformen besonders gross: In den letzten fünf Jahren wurden 12 Volksinitiativen, drei parlamentarische Initiativen sowie Dutzende weitere Vorstösse lanciert – häufig geht es um einzelne inhaltliche Aspekte des Lehrplans 21.

Dahinter steht ein koordiniertes Vorgehen des parteiunabhängigen Komitees Starke Schule Baselland. «Mehrere Vorstösse zum gleichen Anliegen steigern die Erfolgschancen», sagt Geschäftsleiterin Saskia Olsson. Und: «Anders als die Komitees in anderen Kantonen bekämpfen wir den Lehrplan 21 nicht als Ganzes, sondern biegen ihn zurecht. Das gelang uns bisher erstaunlich gut.» Als Nächstes kommt in Baselland eine Initiative an die Urne, die Stoffinhalte und Themen anstatt Kompetenzen im Lehrplan fordert.

Neue Initiativen werden vorbereitet
Die Strategie der Nordwestschweizer finden auch Komitees in anderen Kantonen erfolgversprechend, wie eine Umfrage von Tagesanzeiger.ch/Newsnet zeigt. Zuerst stehen nun Urnengänge in Zürich, Bern und Luzern an. Dort lautet die Forderung unter anderem, die Lehrpläne vors Volk zu bringen. Doch im Hintergrund läuft noch viel mehr: In den «Verlierer»-Kantonen der Ostschweiz sowie in Zug, Schwyz und Basel-Stadt formiert sich der Widerstand neu. Neue Initiativen werden bereits vorbereitet – und die Richtschnur sind die inhaltlichen Diskussionen über den Lehrplan in der Nordwestschweiz.


«Man darf mit uns rechnen», sagt etwa Irene Herzog-Feusi vom Schwyzer Komitee gegen den Lehrplan 21. Nachdem die erste Initiative letztes Jahr vom Bundesgericht für ungültig erklärt worden ist, trifft sich ihr Komitee aus Lehrern und Eltern nun jede Woche, um die verschiedenen Volksschulgesetze der Kantone zu studieren. Das Ziel: «Wir wollen einen schlanken Gesetzeskern definieren, der kantonsübergreifend gelten könnte. Die restlichen Bestimmungen sollen von den unnötigen Bildungsreformen bereinigt werden.» Und Herzog-Feusi spricht für alle Lehrplangegner in der Deutschschweiz, wenn sie sagt: «So schnell geben wir nicht auf.»

1 Kommentar:

  1. Die Stimmbürger haben 2006 mit dem Bildungsartikel für eine Harmonisierung mit Eckwerten und nicht für einen top down Einheitslehrplan gestimmt. Die D-EDK hat sich nicht an diese verfassungsmässige Vorgabe gehalten, deshalb muss der Souverän nun mit den Volksinitiativen die direkte Demokratie im Bildungswesen wieder herstellen. Die "Grundlagen für den Lehrplan 21" der D-EDK von 2010, die für alle Kantone gleich sind, werden von den LP21-Befürwortern verschwiegen. Unser bewährtes Schulsystem mit der "OECD-Kompetenzorientierung" (nach Weinert) auf "selbstgesteuert" umgebaut werden.
    Der zentrale Punkt bei der Lehrplan 21-Reform ist die „Kompetenzorientierung“ mit dem "selbstgesteuerten Lernen", bei dem der Klassenunterricht verunmöglicht und der qualifizierte Lehrer aus dem Lernprozess gedrängt wird. Das "selbstgesteuerte Lernen" wird als "Wochenplan"-Methode seit 1990 in immer mehr Schulen eingeführt. Die alleine lernenden Schüler brauchen mehr als doppelt so viel Zeit wie beim bewährten Klassenunterricht. Alle OECD-Staaten, die diese "Kompetenzorientierung" – wie Finnland - eingeführt haben sind nach ein paar Jahren im Pisa-Vergleich massiv abgestürzt. Von 1200 Aargauer Primar- bis Mittelschullehrer lehnen rund 70% das "selbstgesteuerte Lernen" ab.

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